Akzeptanz und Widerstand

MAILWECHSEL ZU FRANZ SCHANDL „SOZIALKRITIK IN ZEITEN DER KONTERREFORM“ (Streifzüge 2/2003)

Streifzüge 30/2004

von René A. Nitschke und Franz Schandl

Der Autor F. Schandl möchte die „Akzeptanz von Markt und Tausch, von Konkurrenz und Verwertung“ gestört und letztlich zerstört sehen. Sehr gut! Dann mal angefangen. Ich (37 Jahre alt) lebe von Arbeitslosenhilfe in einer unsanierten Wohnung, habe kein Auto und kein Fernsehen, esse mein angebautes Gemüse und backe Brot und Kuchen selbst. Urlaub gibt es nicht und neue Klamotten auch nur alle 3 Jahre. Sobald ich aus dem Haus trete, werde ich von ausufernder Werbung, aggressiven Autofahrern und Konsumterror verfolgt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln Dresdens muss ich den vollen Fahrpreis zahlen, was ich mir nicht leisten kann und will. Der Eintritt in die öffentlichen Badeanstalten kostet hier zwischen 3,50 und 4,50 Euro. Nach einigen Jahren Arbeitssuche ist die einzige Stelle, die ich noch bekommen könnte, eine Tätigkeit im Objekt- und Wachschutz für 5 Euro brutto die Stunde.

Markt und Wettbewerb können in meinen Augen nicht mehr tiefer sinken. Aber das interessiert niemanden und ändert auch nichts an meinen Lebensumständen. Ich frage daher Sie und den Autor, was er den 10 Millionen Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Frührentnern, ABM- und SAM-Teilnehmern wirklich konkret anzubieten hat. Wissen Sie eigentlich um die Verantwortung, die Sie mit Sätzen wie: „Und wir sind die, die diese Logik und Vorschrift abzuschaffen haben. Nicht mehr und nicht weniger“, auf sich nehmen? Wie können Sie es wagen, uneinlösbare Hoffnungen und sinnlose Illusionen zu wecken, ohne all diesen betroffenen und geschunden Menschen auch nur einen konkreten (von allen täglich zu leistenden) Schritt zu benennen?

Warum zeigen Sie nicht Wege des Widerstandes und des selbstbestimmten Handelns auf? Haben Sie schon mal eine Minute mit dem Gedanken verbracht, wie schwer es für Millionen Menschen ist, unter den o. g. Umständen nur einen einzigen Tag in Würde hinter sich zu bringen? Es gibt wirklich noch viel zu tun. Auch für linke Intellektuelle in diesem Land. Viel mehr, als sie es sich zum jetzigen Zeitpunkt vorstellen können.

Viele Grüße,

René A. Nitschke

2.

Sehr geehrter Herr Nitschke!

Was ist von einer Gesellschaft zu halten, wo es genug Autos und Getreide, Gummistiefel und Medikamente, Bücher und Dächer gibt, diese aber nicht die Menschen erreichen, weil sie sich immer weniger leisten können? Da stellt sich immer noch und dringender denn je die Frage direkter Aneignung dieser Produkte und Leistungen. Eins wird doch nicht hungern und frieren, nur weil es nicht marktgerecht ist. Was umkommen soll, das ist ein Zwangsverhältnis, das die Menschen drangsaliert und entwürdigt, nicht aber die Menschen. Die sollen genießen können. Heute ist das andersrum. Warum? Weil Gott Markt und Gott Geld herrschen. Aber müssen sie das? Und ist das zwangsläufig? Wenn dem so wäre, dann ist auch die Entwertung und Entwürdigung vieler zwangsläufig, ein Naturgesetz, gegen das man nichts kann oder an dessen Erfüllung man gar selber schuld ist. Ich sage: Keine Sekunde solch Schwachsinn glauben!

Dass Sie das, was Sie nicht bezahlen können, aber was da ist, einfach nutzen (z. B. gratis fahren), darin liegt genau der Ansatzpunkt, der verallgemeinerbar ist. Es ist die krude Frage zu stellen: Was ist da? Was will ich? Wie krieg ich es? Was kann ich beitragen? Gibt es meiner viele? Wo treffe ich sie? Die schier unerträgliche Frage „Was kann ich mir leisten? “ muss zurücktreten hinter diese elementaren Fragen des Lebens. Und kein Vertrauen in irgendwelche Politik, die nichts anderes ist als Gefangener und Verwalter der ökonomischen Sachzwänge.

„Markt und Wettbewerb können in meinen Augen nicht mehr tiefer sinken. Aber das interessiert niemanden und ändert auch nichts an meinen Lebensumständen“, schreiben Sie. Und Sie widerlegen sich in diesem Satz selbst. Sie interessiert es doch, warum meinen Sie, dass es sonst niemanden interessiert? Sitzen Sie und ihresgleichen da nicht einem gewaltigen Irrtum auf? Noch dazu einem, der ganz im Sinne der bürgerlichen Ideologieproduktion ist?

Es wäre eminent wichtig, dass Markt und Wettbewerb nicht mehr als Regelungsinstanz der gesellschaftlichen Kommunikation anerkannt werden, dass die Menschen jene nicht nur verachten (was Sie ja bereits ausdrücken), sondern dass sie sie auch ächten, aus der menschlichen Kommunikation austreiben, sie nicht als Naturgesetz anerkennen, sondern sagen: Nein, wir wollen wir selbst sein, gemeinsam wie einzeln unsere Früchte genießen, uns aber nicht diesen elendiglichen Verkehrsverhältnissen ausliefern, die uns kaputt machen. Ist das nicht ganz Ihre Rede?

Selbstbestimmung im Kapitalismus kann es eigentlich nicht geben, höchstens man versteht die Markttauglichkeit darunter, was nichts anderes bedeutet als Konkurrenten auszuschalten. Was natürlich nicht heißt, dass es nicht für die Einzelnen notwendig ist, sich auch hier im falschen Leben zurechtzufinden. Aber jede Perspektive, die sich darauf positiv einlässt, also sich zu diesen Notwendigkeiten des Zwangs bekennt, halte ich für verkehrt.

Man soll nicht akzeptieren, was einen kaputt macht. Ich hab nicht mehr anzubieten als den Mut, den Sie selbst entwickeln müssen. Kein Rezept nirgends. Aber dafür auch keine Lüge. Weder eine sozialstaatliche noch eine marktgemäße. Ob „unlösbare Hoffnungen und sinnlose Illusionen“ meinerseits verbreitet werden, kann ich nicht hundertprozentig ausschließen. Ausschließen kann ich aber, dass die offiziellen Versprechungen und Beteuerungen etwas anderes sind, als Sie mir unterstellen. Ich hoffe, der Vergleich macht Sie unsicher.

Es ist nicht so, dass Ihnen da ein Intellektueller gegenübersitzt, der abgesichert ist und keine sozialen Sorgen hat. Im Gegenteil, ich, 44 Jahre alt, gehöre zu diesen von mir beschriebenen entsicherten Individuen. Wovon wir in drei Monaten leben, weiß ich nie so genau. Zur Zeit drosseln wir gerade die Heizung, weil die Kosten uns zu hoch geworden sind. Meine Einkommenskurve verläuft ganz wild, je nachdem, ob es mir gerade gelingt zu publizieren, und je nachdem wie die Zahlungswilligkeit oder -möglichkeit der Auftraggeber ist. Hätte der Freitag nicht eine Kurzfassung meiner „Sozialkritik“ gedruckt, dann hätte ich dafür keinen müden Cent bekommen. Und auch dieses Honorar wird erst im Mai überwiesen. Über die Höhe verliere ich kein Wort, auch kein böses, weil ich weiß, unter welchem finanziellen Druck Zeitungen wie der Freitag stehen. Aber ich geb‘ schon zu: Wien ist nicht Dresden, und die Sozialleistungen (vor allem die kommunalen) sind noch nicht so schlecht wie in Germany. Aber was nicht ist, darf man schon befürchten.

Mit freundlichen Grüßen aus Wien

Franz Schandl