Warum läuft Herr B. Amok?

von Lorenz Glatz

Werner Fassbinder hat 1969 den Film „Warum läuft Herr R. Amok? “ gedreht. Darin erwächst der abschließende Amoklauf aus dem normalen Alltag, aus einem Leben, in dem Herr R. gerade deswegen entgleist, weil er es so ernst und wörtlich nimmt. Mittlerweile weiß auch der fassungslose Normalverbraucher aus Fernsehen, Radio und Zeitung, dass der Amokläufer meist gestern noch ein „Mensch wie du und ich“ war. Im Selbstmordattentat ist der Amoklauf seit Fassbinder sogar von einem individuellen Kurzschluss zur logistisch aufwendigen postpolitischen Kampfform avanciert. Mit dem „war on terror“ aber drohen nun der ganz und gar durchschnittliche Herr B. und seine Gang, die allerdings am Drücker der größten Vernichtungsmaschinerie der Weltgeschichte sitzen, mit einem Amoklauf als apokalyptische Reiter.

Was aber ist die Normalität, aus der heraus die USA um sich zu schießen beginnen? – Es ist die Normalität der modernen Gesellschaft und ihres Staates, die hier in verheerende Schießwut auszurasten sich anschickt. Diese Auffassung soll hier kurz erläutert und zur Diskussion gestellt werden.

Der moderne Staat – entstanden aus Rüstung und Krieg

Maximale Expansion der Macht gehörte zu den Charakteristika des neuzeitlichen Staats von Anbeginn. Als Feuerwaffenstaat über die Welt gekommen, hatte er despotische Zentralisierung von Produktion und Verwaltung sowie die Forcierung der Geldwirtschaft als unabdingbare Voraussetzung; denn für Kanonenrüstung und Festungsbau brauchte es die Konzentration und Versorgung einer hohen Zahl von Arbeitern, große Werkstätten, die Umstellung auf Söldnerheere sowie Geldsteuern samt Steuereintreibung und Kredit zur Finanzierung. Die Zwänge der Schuldenrückzahlung waren der Beginn eines modernen gesellschaftlichen Automatismus – der Ausdehnung der Staatsmacht durch Eroberungen nach außen und durch bürokratischen und fiskalischen Zugriff auf die Menschen nach innen. Die Bedienung der Kredite war die Peitsche staatlicher Durchdringung der Gesellschaft und territorialer Expansion, noch bevor sie zum Motor der kapitalistischen Wirtschaftsweise wurde, einer Wirtschaftsweise, die ihrerseits vom Geldbedarf der sich formierenden Militär- und Nationalstaaten förmlich erzwungen wurde. 1

Anfang und Ende des modernen Völkerrechts

Die Raubkriege des 15. bis 17. Jahrhunderts, die aus dieser Entwicklung eines Wettlaufs um Macht und Geld entsprangen, brachten auch neue Regeln des Umgangs der Staaten miteinander hervor. Diese Kriege waren der Boden, aus dem das moderne Völkerrecht wuchs – ein profanes, keiner allgemein anerkannten göttlichen Autorität mehr unterworfenes Recht, das den Verkehr von Räubern regelte, die notgedrungen miteinander auskommen mussten, weil sie einander nicht vernichten konnten, und sich so zu den Prinzipien der staatlichen Souveränität und des Einmischungsverbots in die inneren Angelegenheiten des anderen bequemen mussten. Schwächere konnten jedoch – dieser Herkunft des Rechts entsprechend – in der historischen Realität nur dann Rechtspersönlichkeit sein, wenn und solange die Starken nicht einig waren, wessen Beute sie werden sollten. Nichtweiße Länder blieben sowieso zumindest de facto Freiwild. Nur für die historisch sehr kurze Zeit der Entkolonisierung im Schatten des Ost-West- Konflikts konnte sich zumindest der Anschein eines die Vereinten Nationen umfassenden allgemeinen Völkerrechtsstatus halten.

Mit dem Scheitern des Versuchs einer nachholenden Modernisierung im Osten und Süden des Globus ergab sich durch den Zerfall der Sowjetunion und ihres Machtblocks allerdings eine neue Situation: Dass die USA auf diese Weise als alleinige Weltmacht übrigblieben, hat dem Völkerrecht die materielle Grundlage entzogen, denn kein Land kann sich mehr der „Über- Macht“ auf Grund eigener Kraft stellen oder durch Lavieren entziehen. Ein Völkerrecht, das nicht auf einem grundsätzlichen, materiellen Gleichgewicht seiner Subjekte, d. h. auf ihrem gegenseitigen Unvermögen zur straflosen Vernichtung des anderen beruht, wird haltlos. Seine so genannte „Weiterentwicklung“ führt in die Auflösung seiner Prinzipien.

Nunmehr wird auch in Europa weithin der „Unilateralismus“ der amerikanischen Hypermacht als Aushöhlung des Völkerrechts beklagt. Ganz so neu ist diese Aushöhlung jedoch nicht. Sie hat die EU-Staaten bis jetzt bloß nicht allzu sehr gestört, konnten sie sich doch selbst als Teil des „Unilateralismus“ betrachten. Für Russland und die so genannte Dritte Welt war er durch die Übermacht des „Westens“ schon seit Ende der 80er Jahre eine gegebene Tatsache. Diese Teile der angeblichen „Völkergemeinschaft“ konnten die Entwicklung bestenfalls mit Hilfe der UNO dadurch ein wenig kaschieren, dass sie dem westlichen Vorgehen erst nach einigem Hin und Her aber schließlich doch immer zustimmten. Hierzulande sprach man allerdings bis vor kurzem noch im Brustton der falschen Überzeugung von „Völkerfamilie“ und „Weiterentwicklung des Völkerrechts“, wenn der Westen hinter seiner Führungsmacht auf- und einmarschierte und ganze Länder niederbombte.

Als es z. B. um die Zerschlagung Jugoslawiens ging, war es der veröffentlichten Meinung in Österreich und Deutschland noch ganz recht, dass das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten „den Bach hinunter“ geschickt wurde (so damals voll Genugtuung der Sozialdemokrat und Nationalbankdirektor Heinz Kienzl), im Kosovo-Krieg bombardierte auch die europäische NATO ohne UNO-Mandat und gegen jedes Völkerrecht „für die Menschenrechte“.

Bei der eigenmächtigen US-Intervention in Afghanistan war die EU aber schon leicht irritiert, als die NATO, die doch gleich nach dem 11. September erstmals den Bündnisfall ausgerufen hatte, „außen vor“ gelassen wurde. Mit dem durch alle UNO-Sicherheitsratdebatten hindurch kaltschnäuzig angedrohten angelsächsischen Alleingang gegen den Irak wird jetzt aber den Möchtegernen der verblichenen Großmächte in Good Old Europe deutlich gemacht, wie sehr das klassische Völkerrecht zum kraftlosen Gespenst geworden ist. Mit nationalistischen Tönen (à la „Über deutsche Angelegenheiten wird in Berlin entschieden“) mag man da noch Wahlen gewinnen, danach aber kommt früher oder später wieder die Realpolitik eines Juniorpartners der Hypermacht.

Die Forderung nach Einschaltung des UNO-Sicherheitsrats verkommt immer mehr zu einer Ermahnung, doch wenigstens die Etikette zu wahren. Sie wird zu einem versagenden Mittel der Zweit- und Drittrangigen, sich zwar den Ansprüchen der Supemacht zu fügen, aber nicht vor aller Augen als dienstbeflissene, zumindest aber ohnmächtige Vasallen zu erscheinen. Die USA haben den Angriff auf den Irak als Ziel vorgegeben, ohne sich viel darum zu kümmern, dass auch ihre Begründungen dem Völkerrecht Hohn sprechen. Für die anderen Regierungen der Welt geht es jedoch im Grunde nur noch darum, aus ihrer Teilnahme oder Hinnahme das noch irgendwie Beste zu machen. Keine der Aftermächte kann und will mehr dem Imperator in den Arm fallen, es geht bei aller Rhetorik nur um die Modalitäten der Einbindung des „Rests der Welt“ in die Absichten der Vormacht, in Absichten, deren Berechtigung auch gegen jedes Völkerrecht von den Kritikern grundsätzlich gar nicht mehr in Frage gestellt wird. 2 Dass ausgerechnet der 1991 mit Bombenteppichen und Marschflugkörpern zerstörte, seitdem mit Embargo belegte, faktisch zerstückelte und von Inspektoren jahrelang durchsuchte Irak plötzlich eine Gefahr für den Weltfrieden sei und daher hic et nunc endgültig „entwaffnet“ werden müsse, betet denn auch die ganze „Völkergemeinschaft“ ihrem Hohepriester nach. Für deklarierte Gegner der USA ist in der Staatenwelt kein Platz mehr – das ist das neue Prinzip, dem derzeit Geltung verschafft wird, ein Vorgang, der vielen Kommentatoren in Zeitungen und Magazinen das römische Reich als historische Analogie für die einzigartige Machtstellung der USA in den Sinn kommen lässt.

Die USA als Hypermacht: Sackgasse statt Aufbruch

Allerdings steht diese neue Art Imperium nicht am Anfang einer neuen, sondern bloß am Ende einer abgelebten Entwicklung, nicht an einem Ausgangspunkt, sondern in einer Sackgasse. Zum besseren Verständnis noch einmal ein kurzer Blick in die Geschichte: Anders als in vormodernen Lebensweisen spielt in der Neuzeit die Wirtschaft eine zunehmend dominierende Rolle in der Gesellschaft. Die vom Feuerwaffenstaat erzwungene Ausdehnung der Waren- und Geldwirtschaft hat sich als neue vorherrschende Wirtschaftsweise etabliert. Sie hat sich als Selbstläufer entpuppt, als Automatismus, der erstmals in der Geschichte menschliche Tätigkeit nicht für menschliche Zwecke (auch die Arbeit Unterworfener für das Wohlleben der Herrschenden ist ein solcher) einsetzt, sondern für den grundsätzlich abstrakten und lebensfremden Zweck der Vermehrung investierten Geldes durch Arbeit. Sein Kapital vermehren oder es verlieren, „Wachsen oder Weichen“ heißt die Devise. Richter und Henker zugleich ist die Konkurrenz des Marktes, das (Sich) Verkaufen-können oder Liegen-bleiben. Daran hängen nunmehr Wohl und Wehe immer größerer Teile der Gesellschaft, die aus der Not schließlich eine (Arbeits)Tugend gemacht hat. Leben wird zum Nebenprodukt der Geldvermehrung, Lebenstätigkeit zur Arbeit, gleichgültig welcher – Hauptsache, sie wird bezahlt. Der Sturz des „parasitären“ Adels, der Reichtum nicht bloß als Investitionsgut verwerten, sondern immer auch genießen und verprassen wollte, brachte unter der Fahne von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ den endgültigen Durchbruch bürgerlichen Profit- und Verwertungsdenkens als gesellschaftliche Maxime. Ihr hat sich auch der Staat zu unterwerfen, der zum Rahmen und Garanten der Verwertung des von ihm repräsentierten Kapitals mutierte. Der Wachstumszwang der kapitalistischen Wirtschaft – ursprünglich eine Folge des Kanonen- und Festungsbaus und der damit verbundenen Raubkriege – wurde nunmehr die stärkste Antriebskraft zur Formierung und Ausdehnung staatlicher Macht. Auf internationaler Ebene setzte dieser Zwang sich um in Eroberungspolitik, in Kampf mit anderen staatlichen Kapitalrepräsentanten um den besten „Platz an der Sonne“. Mit der Unterwerfung der ganzen Welt unter das Diktat der Verwertung lief sich die Eroberung von Ländern im vorigen Jahrhundert in zwei Weltgemetzeln tot. Übrig blieb das Wachstum des Kapitals – über die Grenzen seiner nationalen Zugehörigkeit hinaus zu multinationalen, schließlich transnationalen „global players“.

Vor deren Geldmacht, nicht vor den Raketen der NATO musste der Osten kapitulieren. Angeblich angetreten, um eine ganz andere, neue Gesellschaft zu schaffen, bauten die kommunistischen Parteien entgegen der weit verbreiteten Auffassung in Ost und West doch nur eine andere Variante des Gleichen, nämlich der Welt der Waren und des Geldes. Sie starteten eine historische Aufholjagd, um in der Konkurrenz mit den alten Mächten auf dem alten Boden der Verwertung als eigenständige Staaten und Ökonomien zu bestehen. Als schließlich jedoch eine neuerliche technische Revolu- tion im Westen, die Computerisierung, auch durch die niedrigsten Lohnkosten im Osten nicht mehr aufgewogen werden konnte, war dieser am Ende – gescheitert an den Märkten, nicht geschlagen auf dem Schlachtfeld.

Das, was den sozialistischen Staatskapitalismus ruiniert hat, stellt sich wider Erwarten und gegen alle Versprechungen als eine Krankheit zum Tode des Gesamtsystems heraus. Denn seit über zwanzig Jahren steigt auch im Westen dank der sich ausbreitenden Mikroelektronik in immer mehr Branchen die Produktivität schneller als die Möglichkeiten, die überflüssig gewordene Arbeit durch forciertes Wachstum wieder profitabel einzusetzen und weitere noch zu schaffen – was aber eine unabdingbare Voraussetzung für die Verzinsung investierten Kapitals ist. Aus dem Zusammenbruch der östlichen Konkurrenz ließ sich eine kurze Atempause, aber kein anhaltender Aufschwung der Verwertung schmieden. Was in den exsozialistischen Ländern noch profitabel ist, reicht bei weitem nicht aus, um der grassierenden Spekulations- und Schuldenwirtschaft eine realwirtschaftliche Grundlage zu verschaffen, auf der die Spekulation aufgehen und die Kredite bezahlt werden könnten.

Schon in der 90er Jahren hat sich daher herausgestellt: Der Westen hat nicht gesiegt, er hat den Osten bloß noch überlebt. Seit dem ist ein Großteil Afrikas vom Weltmarkt fast verschwunden, Schwellenländer wie die „kleinen Tiger“ Südostasiens oder jüngst Argentinien und Brasilien sind bloß an die Schwelle des Bankrotts gekommen, ja mit Japan findet auch eine Wirtschaftsgroßmacht, von der noch vor wenigen Jahren erwartet wurde, sie könnte à la longue selbst die USA aufkaufen, nicht und nicht aus Rezession und Krise, seit bald drei Jahren zerbröseln auch die Börsen, die Schrumpfung der produktiven Wirtschaftssektoren, der Verfall des Lohnniveaus breiter Teile der „Beschäftigten“ und die anwachsende Arbeitslosigkeit auch in den noch einigermaßen stabilen Ökonomien lassen sich selbst mit den kreativsten Tricks und Beschönigungen nicht mehr bagatellisieren.

Die Staatsapparate verlieren vor dem globalisierten Kapital ihre Gestaltungsmacht und Regulationsfähigkeit, ihr noch engerer Zugriff auf die Menschen organisiert bloß noch den sozialen Abstieg der großen Masse der Bevölkerung, sie gehen – hier noch weniger dort schon mehr – in mafiöse Strukturen über. 3

Die USA sind zur letzten Weltmacht also in einer Situation geworden, wo sie ihre historisch unvergleichliche Machtfülle nur noch sehr bedingt für die Interessen ihrer Nationalwirtschaft gegen andere einsetzen können, weil die „global players“ diese Fronten immer mehr auflösen. Aber auch die weitere Verwertung des transnationalen Kapitals zu sichern ist Washington immer weniger imstande, weil die Welt für diesen Heuschreckenschwarm zu klein geworden ist. Was bleibt, ist die äußerste Machtentfaltung in einer Welt des Niedergangs, mit dem illusionären Zweck, Sicherheit und Funktion des globalen Verwertungssystems gegen dessen Zerfallserscheinungen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Wenn sich in Afghanistan der Terror nicht besiegen ließ, dann soll wenigstens ein Sieg auf den Erdölfeldern des Irak die Autorität unter Beweis stellen. „Wir oder das Chaos“ ist die Parole, mit der die letzte Weltmacht die restliche Staatenwelt als „Ordnungs“- Kräfte hinter sich zum „Kampf gegen den Terror“ sammelt, genauer betrachtet: zum Krieg der Perspektivlosen gegen die Aussichtslosen.

Am Ende steht die Lust auf Amok und Gewalt

Im Alltagsleben der Menschen führt der skizzierte Zustand der Weltgesellschaft bis dato jedoch weniger zur Suche nach einem Ausbruch aus der herrschenden Logik als vielmehr zu einer Intensivierung alles Bisherigen im Zeichen immer schärferer Konkurrenz: „Retten, was noch zu retten ist“ heißt denn auch das kurzsichtige individuelle Lebensmotto. Die vorherrschenden Gedanken über die Zusammenhänge der heutigen Lage hat ein englischer Satiriker treffend so zusammengefasst: „Hang the sense of it and just keep yourself occupied! “ 4 Es soll einfach irgendwie weitergehen, solange eins mit Hingabe an die Arbeit(ssuche) und mit Betriebsamkeit, mit Selbstverleugnung und mit Demut gegenüber den Zumutungen, mit Wegschauen und Simulieren noch Normalität produzieren und Anstrengung, Versagen und Unbefriedigtsein im Kauf und Konsum der angebotenen Placebos, Tranquillizer und Ersatzbefriedigungen ersäufen kann. Kollegen und Geschäftspartner statt Freunde, Kontaktschwäche und Vereinsamung, Suff und andere Drogen (von Arbeit bis Opium), Aggressivität und Depression als Volkskrankheit Nummer eins – das alles sind Phänomene, die zunehmend die Lebenswirklichkeit prägen.

In einem solchen Klima des schrittweisen Realitätsverlusts paart sich die Paranoia einer Selbstzweckökonomie, die das Leben der Menschen nicht mehr vom Umgang mit der Natur, sondern von gelungener Kapitalverwertung abhängig macht, mit der schwindenden Hoffnung darauf, dass eins daraus noch ein Leben machen kann. Die Zahl derer nimmt zu, die auf die eine oder andere Weise individuell „ausrasten“ und „überschnappen“, nicht mehr „auf dem Posten bleiben“, sondern „verrückt“ werden. Kollektiv grassiert zugleich die wahnhafte Umdeutung der alles durchdringenden Konkurrenz in altväterischen nationalistischen, rassistischen, antisemitischen oder religiös verbrämten Fundamentalismus verschiedenster Schattierungen, wo dann nicht mehr Marktteilnehmer gegen Marktteilnehmer oder Gang gegen Bande kämpfen, sondern wo halluziniert wird, dass die Fleißigen und Anständigen gegen die Faulen und Intriganten, die Zivilisation gegen die Barbarei, die Ordnung gegen das Chaos, das Gute gegen das Böse steht. In diesem Treibhaus der Frustration wuchert die Lust auf Gewalt, das Bedürfnis nach dem Befreiungsschlag in der einen oder anderen Form von Amok, der von den Tätern freilich nicht als Wahnsinn wahrgenommen wird, sondern als Bestrafung und Moral.

Bald schon wird kein Tag mehr vergehen ohne die Meldung von durchgedrehten Leuten, die scheinbar aus dem Nichts heraus um sich zu schießen beginnen, von eifersüchtigen Männern, die ihre (Ex-)Familien ausrotten, von entlassenen Angestellten, die Chef und Kollegen mit in den Tod nehmen, frustrierten Bürgern, die Politiker massakrieren, Halbwüchsigen, die in Schulen Blutbäder anrichten. Doch nicht nur im blinden Affekt wird da gehandelt, sondern durchaus auch mit kaltem Blut und Überlegung. Das Töten bringt den „Wettbewerb“, in dem der Mörder sich im Leben meist scheitern fühlt, in dem er nicht mehr weiter kann, auf den eigentlichen, pervers befriedigenden Punkt: Tod und Vernichtung der anderen, wer und wo sie auch sind, letztlich ohne anderen Grund als den der bloßen Konkurrenz, paranoid und selbstzweckhaft, würdig seines Ursprungs aus der Gesellschaft des Marktes und des Geldes. – „Ich bin Gott“, schrieb der Amokschütze von Washington auf der Todeskarte des Tarot.

Die Gemetzel des 11. September in New York und Washington und voriges Jahr auf Bali, die Selbstmordkommandos und -attentäter in Nahost und Russland und die Massaker des damit korrespondierenden „war on terror“ in Afghanistan, in Russland und demnächst wahrscheinlich auch im Irak zerstören die Weltmacht des Kapitals so wenig wie sie den Terror ausrotten, sie bringen bloß den Amok, das Töten als Abreak- tion ohne Aussicht auf die Erreichung eines Zwecks, auf das Niveau einer historischen Untergangs-Strömung.

Es ist ein kollektiver, technisierter Amok mit viel Logistik, hartem Training und vor allem Selbstbetrug. Als gesellschaftliche Erscheinung beruht er auf einer Formierung des Denkens und Empfindens eines Großteils der Menschen und auf der Kontrolle, Einschüchterung, Entmutigung und Unterdrückung all derer, denen anderes als Mitmachen zugetraut wird. Die Logik dieses Amoks wird daher in der Gesellschaft weithin nicht mehr als Wahnsinn wahrgenommen, sondern als staatliche Sicherheitspolitik, als religiöse Notwendigkeit, als Strafgericht. Diese Form von Amok ist schon jenseits des Selbstlaufs von Geschäft und Macht, sie folgt einem automatisierten Kreislauf von Schuld und Sühne, von „Gerechtigkeit“.

Ein Krieg der USA gegen den Irak wird und muss sich daher auch nicht rechnen, weder kann es noch eine Kriegskonjunktur geben mangels Masse des Gegners noch rentiert sich die militärische Eroberung eines Landes, das sich dem Kapital nicht verschlossen hat, sondern mit dessen Entzug bestraft wurde. Allerdings erhoffen etliche US-„Wirtschaftsexperten“ sowie einige realitätsresistente Antiimperialisten in Europa von einem „Sieg“ der USA zumindest einen neuen Spekulationsboom wegen billigen Erdöls. Nicht bedacht werden dabei jedoch die Kriegs- und vor allem die dann notwendigen gigantischen Besatzungs- und Sicherungskosten in einer völlig verelendeten und destabilisierten „Nach-Opec“-Nahostregion, die solche Träume wie Seifenblasen platzen lassen werden. Außerhalb dieser doch eher engen Zirkel erwartet denn auch bald niemand mehr von der Entwicklung der Weltwirtschaft anderes als Stagnation und Einbruch – ob mit oder ohne Irak-Krieg. 5

Herr B. halluziniert, er werde mit einem neuen Golfkrieg die „zivilisierte Welt“ vor dem Terror schützen, doch das könnte im Sinne einer Stabilisierung des „Imperiums“ nur gelingen, wenn die Ordnungsmacht den Unterworfenen außer Bombenruinen und Demütigungen noch irgendeine Aussicht auf einen Anschluss an die bröckelnde Glitzerwelt von Arbeit-Geld-Konsum zu bieten hätte. Da diese Aussicht nicht besteht, wird jede neue Stufe im „war on terror“ vor allem neuen Terror, neuen Krieg, Terror, Krieg und den Tag näher bringen, an dem auch die Hypermacht das selbst forcierte Chaos nicht mehr bändigt. Der beträchtliche Widerwille, auf den die USKriegsvorbereitungen seit Monaten selbst bei einigen engen Verbündeten stoßen, gehört bereits zu diesem unvermeidlichen Kontrollverlusts. Allerdings weist das Schröder, Chirac & Co. nicht als besonnene Menschen aus, sondern als Leute, die zwar keinen anderen Weg zur Stabilisierung ihrer Welt wissen, aber mangels ausreichender eigener Bewaffnung vor dem Amoklauf des Gangleaders noch zurückschrecken.

Der „nationale Befreiungskampf“ und der „sozialistische Aufbau“ sind gescheitert, der Kapitalprozess gerät auch in den marktwirtschaftlichen Kernländern ins Stocken. Keine Gewalt der Welt kann daran etwas ändern. Nur mit Gewalt, ohne Aussicht auf Arbeit und Profit lassen sich Staaten, die diesen Namen noch verdienen, nicht befreien oder gründen, es gibt auch nichts mehr zu erobern in der einen Welt des Kapitals. Kampf und Konkurrenz gehen zwar auch am Weltende der Profitvermehrung weiter, doch es ist die Zeit von Ragnarök, der Götterdämmerung, der gegenseitigen Vernichtung der Götter und Dämonen, der grausamen Entscheidungsschlacht, die nur Verlierer kennt. Sie wird heutzutage ausgestragen zwischen denen, die bereit sind, den Niedergang ihrer Welt mit dem Feuerschein brennender Länder auszuleuchten, und den „Rächern der Enterbten“, die ihre Aussichtslosigkeit noch mit Mord und Selbstmord krönen.

Kurswechsel des sinkenden Schiffs?

Der Widerstand gegen diese düstere Entwicklung ist seit den Anschlägen in den USA nicht recht vorangekommen. Auch Millionen besorgter und empörter Menschen auf den Straßen haben wenig Macht, wenn sie die Lösung der Probleme in der Vergangenheit suchen. Unserer Meinung nach krankt der Widerstand am blinden Glauben allzu vieler Menschen, dass es doch noch möglich sei, auf der Grundlage der herrschenden Ordnung Neues, Besseres zu schaffen. Viele agitieren für einen politischen Kurswechsel zu „mehr sozialer Gerechtigkeit“, „mehr Ökologie“. Sie drohen mit der Ersetzung des Kapitäns und seiner Offiziere, doch sie merken nicht, dass sie auf der Titanic sind und das Schiff eben absäuft. Es ist sinnlos und vertane Zeit, sich für politische Aus- und Abhilfen einzusetzen, ohne die Unhaltbarkeit der gesellschaftlichen Konstruktion zu beachten, in deren Rahmen wir uns bewegen. Alle „politische Arbeit“ gegen den Lauf der Dinge hat keine Aussicht auf nachhaltigen Erfolg, wenn eins – ob „reformistisch“, ob „revolutionär“ – „den Kampf führt“ für eine „andere Politik“ und damit den Boden von Staat, Nation und Klasse nicht verlässt, also genau den Boden, der sich gerade in sozialen Niedergang und Amok auflöst.

Wirtschaftskrisen mit allen ihren Folgeerscheinungen von Armut, Verzweiflung, Hunger, Krankheit und frühem Tod bis zu Bandenwesen und (Bürger-)Krieg lassen sich auf der Grundlage der überreif gewordenen Waren- und Profitgesellschaft durch einen Kurs- und Herrschaftswechsel nicht (mehr) beheben, die gesellschaftlichen Katastrophen sind vielmehr das notwendige und irreparable Ergebnis der etablierten Lebensweise, die „Kollateralschäden“ der Geldvermehrung. Die Vorstellung von einer prosperierenden „internationalen Gemeinschaft“ friedlich wirtschaftender, auf dem Weltmarkt Handel treibender Nationalökonomien war wohl immer schon und ist heute mehr denn je eine Fata Morgana, der man nie näherkommt und die bloß von der realen, aussichtslos gewordenen Wüstenwelt des Kapitals ablenkt.

Der Unmut, der sich gegen die Zumutungen, die Katastrophen und die brutale Gewalt einer Weltordnung, in der Menschen für und von Geld leben müssen, ansammelt und der bei den gewaltigen Demonstrationen in den Polit- und Wirtschaftsgipfelstädten der letzten Jahre bis zu den jüngsten Aufmärschen von Zig-Millionen gegen den drohenden Irak-Krieg trotz oft massiver Repression sichtbar geworden ist, droht wieder in Resignation oder gar in Chauvinismus und Antisemitismus umzuschlagen, wenn er sich für einen unmöglich gewordenen Kurswechsel der todgeweihten Titanic verbraucht. Es geht nicht um Geld, weder um Investitionen, die sich nicht mehr verwerten lassen, noch um Staatsschulden, die nie mehr zu bezahlen sind, sondern es geht um Land, Gebäude, Geräte und Maschinen, um Kenntnisse und Wissen und um Verfügung über unsere Lebenszeit, nicht um Arbeitsplätze (die keiner annähme, wenn er anders leben könnte), nicht um Konsum und Wachstum, sondern darum, was ein gutes Leben ist und was wir dafür brauchen, nicht um die Chimäre staatlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, sondern um die Selbstorganisation der Menschen und um den Kampf für die dazu nötigen Ressourcen, nicht um „Solidarität mit dem Kampf der unterdrückten Völker“, sondern um die weltweite Kooperation aller derer, die sich von der Unterdrückung durch Staat und Markt frei machen wollen. Nur im Zusammenhang einer solchen Haltung hat auch Politik als staatsbezogenes Handeln noch ihren begrenzten Sinn, als gewissermaßen fremdes Mittel, das sich selber über- flüssig machen, den Weg frei machen soll für Neues.

Was heißt arbeiten, was Karriere machen heute denn anderes als seine Lebensenergie hinzugeben für den Mensch und Natur schädigenden Kreislauf von Arbeit und Konsum, als sich nach jedem „Fortschritt“, nach jeder „Umstrukturierung“ und „Reform“ mit noch weniger Leben bescheiden zu müssen, als ohne es recht zu merken mitzutun bei den alltäglichen Grausamkeiten dieser Existenz, zumindest wegzuschauen und flach zu denken bei den Greueln und Gemetzeln, ohne die es diese Gesellschaft nicht mehr geben wird. „Ich habe keine Zeit, ich muss arbeiten“ ist die allgemein akzeptierte Parole für die Lebensangst, für den (Selbst)Mord auf Raten, auf den unsere „Lebens“weise hinausläuft. Und wer keine Arbeit hat, muss tagaus tagein laufen, um wieder eine zu bekommen oder versinkt nicht selten in lähmende Depression. – „No future“ ist die globale Realität, die es zu verdrängen gilt im hektischen Getriebe, im Konsum, in der angestrengten Freizeit- und Familienidylle.

Sich Zeit nehmen fürs Hinschauen, Nachdenken, für Gespräche und Kennenlernen, für das Klären der wichtigen Fragen, für gemeinsame Aktion, für dauerhafte Kooperation – das kann der Beginn einer Besserung sein, ein Einstieg in die Verweigerung des Mittuns, in den Protest, in Widerstand, in den Neubau unseres Lebens.

Anmerkungen

1 Vgl. Robert Kurz, Die Dikatur der abstrakten Zeit, in: Robert Kurz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg. ): „Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit“, Hamburg 1999. In diesem Aufsatz referiert und zitiert Kurz u. a. wissenschaftliche Literatur zum Thema der Entstehung des modernen Staats; der Aufsatz ist über www.krisis.org im Internet aufzufinden, wir schicken einen Ausdruck auch gern gegen Kostenersatz zu.

2 Sehr treffend und offen sagt Albert Rohan, pensionierter Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums und in dieser Funktion hoher beamteter Hüter der österreichischen Neutralität, das, was vermutlich die meisten europäischen Politiker denken: „Die US-Vorgangsweise ist mit unseren völkerrechtlichen Werten schwer vereinbar… Man muss den USA aber zubilligen, dass sie das, was getan werden muss, auch tun, ohne Rücksicht auf UNO oder Völkerrecht. Für uns Europäer ist da eine gewisse Hemmschwelle gegeben“. (Der Standard, 14. Okt. 2002)

3 Das ist keineswegs bloß eine Folge neoliberaler Dogmatik, auch die (von vielen Globalisierungskritikern geforderte und mittlerweile z. B. in den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Italien betriebene) Wiederbelebung keynesianistischer Staatsintervention und Staatsschuldenpolitik versagt als Heilmittel.

4 Etwa: „Pfeif drauf, was das alles bedeutet, und mach einfach nur weiter! “ aus dem satirischen Sci-fi-Roman „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Douglas Adams.

5 Siehe dazu das Kapitel „Die Krise der Finanzmärkte und der Traum vom , Öldorado'“ in Robert Kurz, Weltordnungskrieg (2003) S. 419-425. Weniger Illusionen als bei manchen Experten herrschen auf den Weltbörsen, die auf jedes Steigen der Kriegswahrscheinlichkeit mit Kurseinbrüchen reagieren. Auch die Finanzminister der G7 sind, was die Konjunkturaussichten betrifft, weiter pessimistisch und fürchten einen weiteren Einbruch im Falle eines Irak-Kriegs. (Der Standard, 24. Feb. 2003)