Selbst-Bewegung statt Auto-Mobilismus

ZUR PERSPEKTIVE EINER BEWEGUNG GEGEN DEN MOBILIS-MUSS ALS EMANZIPATORISCHER PRAXIS

Streifzüge 2/2002

von Lothar Galow-Bergemann

Dass nur noch die Gedanken frei seien und sonst nichts mehr, ist eine Horrorvorstellung. Sollen Kritik und Analyse auf Dauer mehr bewirken, als selbstgenügsame Insassen von Elfenbeintürmen mit Erkenntnis und Gedankenfutter zu versorgen, so müssen sie immer wieder auf ihre Tauglichkeit als Zugang zu Praxis erprobt werden. Wenn so viele Ansätze mit emanzipatorischem Anspruch gescheitert sind und dies mit guten Gründen, so gilt es, daraus lernend nach neuen Ansätzen zu suchen. Im folgenden sollen zwei Thesen belegt werden.

Erstens: Die destruktiven Tendenzen der warenfetischistisch verfassten Gesellschaft treffen beim Themenkreis Mobilität(-szwang) und Automobil in fast „idealer“ Weise aufeinander. Hier begegnet uns ein hochexplosives Selbstzerstörungspotential – und zwar gleichzeitig unter ökologischen, ökonomischen wie psychologischen Gesichtspunkten.

Zweitens: Derzeit bieten sich kaum sonstwo so viele praktische Angriffsmöglichkeiten gegen die schöne Maschine der blinden Wertverwertung als gerade auf diesem Gebiet. Und zwar durchaus mit der Aussicht darauf, „die Massen zu ergreifen“, d. h. zur realen, eingriffsfähigen Bewegung zu werden. Was zu beweisen wäre.

Die Zerstörungskraft des Auto-mobilis-Muss

So bekannt die brutalen Tatsachen sind, so hartnäckig werden sie tagtäglich von Millionen verdrängt. Die Autogesellschaft hat in ihrer hundertjährigen Geschichte Tote und Verstümmelte in der Größenordnung von Weltkriegen auf den Straßen hinterlassen. Nigeria und Tschetschenien sind aktuelle Beispiele dafür, wie für den Treibstoff Öl Kriege geführt und Menschen ausgerottet werden. Ein besonders ergiebiges Opfer des automobilen Alltagsterrors sind Kinder – ihrem Bewegungsdrang zu folgen, kann sie im Handumdrehen zu „Schuldigen“ in der sogenannten Straßenverkehrsordnung machen, oft wird die Todesstrafe gleich an ihnen mit exekutiert. Sie werden körperlich und seelisch verkrüppelt, schon als Säuglinge müssen sie mit quälenden Allergien für das Auto bezahlen und ihre Eltern werden genötigt, sie zu kleinen und gefügigen Untertanen der Autodiktatur zu dressieren, sobald sie die Haustür verlassen. Jede zweite Tankerkatastrophe geht zu Lasten der Autoflotte, denn sie säuft die Hälfte des über die Weltmeere transportierten Öls. Landschaften und Siedlungen werden zerstört, zubetoniert, geschändet. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich auszumalen, wieviel Schönes und Sinnvolles sich in den Städten mit all dem Raum anstellen ließe, den das Automobil heute platt macht. Ausgerechnet ein Ding, dass sich auto-mobil (also selbst-bewegend) nennt, erzeugt massenweise Bewegungsmangel, Haltungsschäden, Fettleibigkeit – und das oft schon in früher Jugend. Fortschreitende Vergiftung der Atmosphäre, Lungenkrebs, Lärm-Terror (allein in Deutschland sterben jährlich 3.000 Menschen an den Folgen des Lärms, der wiederum zu 70 Prozent vom Autoverkehr verursacht wird) Die Liste der Greuel ließe sich leider noch lange fortsetzen. Unbestritten ist: Würde sich das Auto in dem Maße über den Erdball verbreiten, wie das bereits heute in den sogenannten entwickelten Ländern der Fall ist, würde das weltweite Ökosystem endgültig zusammenbrechen. Und ein Blick nicht nur auf China zeigt, dass wir auf dem Weg dahin sind. Aber der Automobilis-Muss richtet nicht nur phy-sische, sondern auch psychische Zerstörungen an und diese sind vielleicht sogar die gefährlichsten.

Das Wort Automobil setzt sich bekanntlich aus dem griechischen (selbst, selber, ich selber) und dem lateinischen mobilis (beweglich) zusammen. Die Ideologie der Autogesellschaft behauptet nun: dieses Ding ist ein Mobil. Wie schön, dass die Alltagssprache wenigstens manchmal so verräterisch ist – sie kommt gleich auf den Punkt und nennt es offen und ehrlich: ein Auto. Es geht also offenbar psychologisch viel weniger um das mobilis als um das . Tausendfach spielt sich jeden Tag aufs Neue die folgende unglaubliche Geschichte ab: „Wo stehst Du? „, fragt ein Mensch einen anderen, obwohl der direkt vor seiner Nase steht. Nach Lage der Dinge wäre es angebracht, dass dieser ihm nun den Vogel zeigt und ihn seinerseits fragt, ob er keine Augen im Kopf habe, denn er sehe doch schließlich, dass er hier vor ihm stehe. Tatsächlich jedoch geht der solchermaßen Angesprochene ganz ernsthaft auf die Frage ein und antwortet den haarsträubenden Satz: „Ich stehe da hinten links um die Ecke, nach zwanzig Metern auf der rechten Seite. “

Also: Ich bin mein Auto. Nicht: ich bin mein, bin mein Selbst, bin selbstbestimmt, bin bei mir – so wie es in einer nicht entfremdeten, emanzipierten Gesellschaft der Fall wäre. Ich sehne mich zwar, unbewusst meist, danach, mein zu sein – aber ich bin nur eine jämmerliche Karikatur desselben, mein Auto eben.

Wer meint, die Herrschaft der totalen Wertvergesellschaftung sei zu abstrakt, als dass sie noch, wie frühere Herrschaftsformen, in konkreten Bildern geschaut und erlebt werden könne, irrt: Dem Beobachter am Straßenrand bieten sich höchst anschauliche Bilder, die einen tiefen Einblick in die Verfasstheit dieser Gesellschaft gewähren. Da sitzen atomisierte Individuen, meistens alleine, eingepanzert in eine Tonne Stahl und Kunststoff, getrennt von einander und doch in ihrem Tun unlöslich mit einander verbunden. Jeder kämpft gegen jeden. Schneller sein als der andere, effektiver sein im Kampf um Spur und Parkplatz. Möglichst viel Zeit herausschlagen, aber doch nie Zeit haben. Zur Unbeweglichkeit verdammt und in engen Käfigen festgeschnallt, aber im festen Glauben, es handle es sich bei dieser Veranstaltung ausgerechnet um – Bewegung. Permanent unter höchster Anspannung, getrimmt darauf, die Maschine am Laufen zu halten. Die kleinste Unaufmerksamkeit gegenüber dem Diktat der herrschenden Verkehrsform kann buchstäblich die Existenz kosten – sie kann schließlich jederzeit mit der Todesstrafe geahndet werden. Sich selbst und andere ununterbrochen an Leib und Leben gefährdend. Leidend an den Folgen des eigenen Tuns, aber im Gefängnis der Vorstellung vom „Normalen“ und angeblicher Alternativlosigkeit gefangen. Schaut man sich den ganzen Jammer an, so gewinnt ein berühmtes Zitat ganz neue und unmittelbare Überzeugungskraft: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (Karl Marx, MEW 23, S. 89)

Das Auto und die Arbeit – eine perverse Beziehungsstory

Spricht man den Durchschnitts-Autoholiker auf sein Leiden an, so wird er in der Regel früher oder später darauf verweisen, dass das Auto ja schließlich Unmengen an Arbeitsplätzen schaffe und ohne es „unsere Wirtschaft“ kaputt ginge. Womit er natürlich recht hat. Nur leider ist er sich nicht darüber im Klaren, dass das die Sache noch viel schlimmer macht.

Das Auto und die Arbeit. Eine ebenso lange wie perverse Beziehungsstory. Nicht von ungefähr feiert die deutsche und österreichische Arbeiterklasse nunmehr bereits im achten Jahrzehnt Hitlers Autobahnen und Arbeitsplätze in einem Atemzug ab.

Robert Kurz hat viel Erhellendes zum Thema Automobil zusammengetragen. „Im Unterschied zu den meisten Gegenständen des sinnlichen oder kulturellen Genusses konnte dieser Konsum nämlich nicht im Gebrauch seiner Inhalte aufgehen, sondern erforderte eine derart flächendeckende materielle, organisatorische und soziale Logistik, dass er geeignet war, sich zu einer zwanghaften und verinnerlichten Benthamschen , Verhaltensspur‘ zu entwickeln, die das System der Disziplinierungen in bis dahin unbekannte Dimensionen auszuweiten versprach. Zweitens war die mechanisierte Mobilität von allen Formen des Konsums dem Charakter eines Investitionsguts am ähnlichsten. Das Kapital musste also gewissermaßen statt des Billets für die , Dienstleistung Mobilität‘ gleich das Betriebsmittel selber verkaufen – jedem kapitalistischen Menschen seine eigene kleine Privatlokomotive! “ (Schwarzbuch Kapitalismus, S. 367f. ) Die Namen Ford und Taylor stehen gleichermaßen für den Übergang zu Massenproduktion und Massenkonsum dieser „kleinen Privatlokomotiven“ wie für eine bis dahin unbekannte, ungeheure Steigerung des Ausbeutungsgrades derjenigen, die diese Dinger produzierten. Die Massen haben sich dem – ganz offensichtlich willig – gefügt und Fords Konterfei zierte gleichermaßen die Schreibtische von Hitler wie Lenin.

So wurde das Automobil „zum Schlüsselprodukt in der Vollendung der kapitalistischen Produktionsweise. In seiner Vermassung mauserte es sich zu mehr als einer bloßen Ware unter anderen: Es begann den gesamten Raum- und Zeithorizont zu erfassen, bereitete eine strukturelle Integration von Produktion und , Freizeit‘ vor, besetzte allmählich die soziale Organisationsform bis hinein in das intime und familiäre Alltagsleben, eroberte sogar die gesellschaftlichen Phantasien und Imaginationen.“ Der Kapitalismus wurde „durch und durch zur Auto- Gesellschaft“. (a. a. O. S. 386)

Der Irrsinn der Mobilität – Kapitalismus ist Mobilis-Muss

Es gibt keinen „objektiven“ technischen Fortschritt, der sich quasi unabhängig von sozialen Verhältnissen entwickeln würde. Das Auto selbst ist im Prinzip eine alte Kiste. Ein erhitzter Dampfkessel, der ein Gefährt auf vier Rädern bewegte, wurde bereits vor 2.300 Jahren im antiken Griechenland erfunden. Ein Produkt des modernen Kapitalismus ist dagegen die automobile Gesellschaft. Dass sie im alten Athen nicht entstand, widerlegt übrigens die These, wonach die Faszination des Autos auf einem, dem Menschen angeblich angeborenen, „Drang nach Mobilität“ beruhe. Offensichtlich ließ das Ding die alten Griechen nämlich ziemlich kalt.

Der Mensch braucht eben – wie alles Lebende – Bewegung. „Mobilität“ ist etwas völlig anderes. Sie ist – wie „Arbeit“ – ein inhaltsleeres Abstraktum, nicht zufällig entstehen beide Begriffe erst mit der Entfaltung der Warenproduktion. Und wie die Arbeit ist auch die Mobilität allerdings eine Realabstraktion, d. h. von gesellschaftlich höchst realer Wirksamkeit.

Der berühmte Joghurtbecher

Wer sich’s antun will, stelle sich auf eine Autobahnbrücke oder auf die „Besuchertribüne“ eines Flughafens. Von dort aus lässt sich’s trefflich über den Schwachsinn der Marktwirtschaft räsonnieren. Hier begegnet einem nicht nur jener berühmte Joghurtbecher auf seinen 8.000 Autobahnkilometern bis ins Verkaufsregal. Auch der Apfel aus Neuseeland ist dort gerade auf dem Weg zum Marktstand in Fulda, ebenso wie das Kartenlesegerät aus Stuttgart, das den Weg ins angrenzende Esslingen über Flensburg nehmen muss, weil es aus Gründen betriebswirtschaftlicher Effizienz dort verpackt wird. Und der Tourist, der nach seiner fragwürdigen „Erholung“ vom jährlichen Arbeitsterror an einer 10.000 Flugkilometer entfernten Bar nebst ein paar Palmen und Sandstrand „all inclusive“ lechzt, drängelt sich zwischen seinesgleichen durchs Terminal.

Und wieder drängt sich dem Zuschauer spontan ein Zitat auf: „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist … Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. “ (Karl Marx, MEW 23, S. 167, Hervorhebung durch den Autor) Der alte Charly hat hier ganz nebenbei – und sicherlich auch völlig unbeabsichtigt – eine schöne Definition von „Mobilität“ geliefert. So wie „Arbeit“ die heruntergekommene, menschenfeindliche, selbstzweckhafte, eben kapitalistische Form von Tätigkeit ist, so ist „Mobilität“ die her- untergekommene, menschenfeindliche, selbstzweckhafte, eben kapitalistische Form von Bewegung.

Die „totale Mobilmachung“ ist Ergebnis und Voraussetzung der entfesselten Warenproduktion. Nicht zufällig haben sich die Herren Westerwelle und Möllemann zwei zentrale Begriffe ausgesucht, mit denen sie in den nächsten Bundestagswahlkampf ziehen wollen: „Privatisierung“ und „Mobilität“. Die beiden Zauberworte eines restlos durchgeknallten Kapitalismus.

„Mir ist sonnenklar, dass die vielen Autos unsere Lebensqualität untergraben“, sagt Lohnarbeiterin Lieschen Müller, „aber zur Sicherung meiner Lebensqualität brauche ich mein Auto.“ Da kann sie dem ehemaligen BMW-Chef die Hand geben, von dem der unvergessliche Spruch stammt: „Wir wissen zwar ganz genau, dass es viel zu viele Autos gibt, aber unser Problem ist, dass es zu wenige BMWs gibt.“ Kapitalismus ist eben Irrsinn. Betriebswirtschaftliche Rationalität und die Rationalität des Geldverdienen- Müssens-um-leben-zu-können sind irrational.

Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Automobilis-Muss ein genuin kapitalistisches Produkt. Ginge es um Fortbewegung und Beförderung von Lasten, wären andere Techniken vonnöten als eine, die mehr als 1.000 Kilo Metall und Kunststoff in Bewegung setzt, damit 60 oder 80 Kilo Mensch den Ort wechseln können.

Zu den Perspektiven einer Anti-Auto-Bewegung

Eine Bewegung gegen den Mobilitätszwang, die sich in erster Linie am Automobil und dessen Folgen (wie übrigens auch am Flugverkehr) festmachte, hätte gute Chancen, zu einer Befreiungsbewegung neuen Typs zu werden. Sie träfe auf eine ganze Reihe günstiger Voraussetzungen. Nicht nur sind die katastrophalen ökologischen und gesundheitlichen Folgen so ziemlich jedem bekannt, der noch in der Lage ist, drei Informationen aufzunehmen und einen zusammenhängenden Gedanken nachzuvollziehen. Die Kenntnis von Tatsachen allein reicht ja, wie wir zur Genüge wissen, leider nicht aus als Anstoß für eine wirkliche Bewegung. Was da schon hoffnungsvoller stimmen kann, sind die folgenden Umstände:

1. Es gibt eine weitaus größere Anzahl von Menschen, die ohne Auto leben, als dies im öffentlichen Bewusstsein gemeinhin angenommen wird. Laut Statistischem Bundesamt hatten 1998 in Westdeutschland 23,8 Prozent aller Haushalte kein Auto. Und zwar in Gemeinden unter 5.000 Einwohnern 4,8 Prozent, bis 20.000 Einwohner 15,8 Prozent, bis 100.000 Einwohner 21,0 Prozent, bis 500.000 Einwohner 31,1 Prozent, über 500.000 Einwohner 40,6 Prozent, in Berlin sogar 50 Prozent. Wer sich auf die Straße stellt und die Leute befragt, kommt – wohl zu sei- ner eigenen Überraschung – schnell dahinter, dass an diesen Zahlen was dran sein muss.

2. Es gibt trotz allem – zumindest in unseren Regionen – für die allermeisten Menschen sehr viele und sehr gute Möglichkeiten, ohne Auto zu leben. In den meisten Fällen, wo auf die Unverzichtbarkeit des eigenen PKW gepocht wird, erweist sich als wahrer Grund sehr schnell ein Mangel an Phantasie und die Angst, anders zu sein als die andern.

3. Es gibt flächendeckend sehr viele Proteste gegen die Folgen der Mobilität – ein Blick in die kommunale Berichterstattung jeder x-beliebigen Tageszeitung genügt: Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen, Leserbriefe, sei es gegen Lärm und Dreck, gegen die Gefährdung von Leib und Leben, gegen die Zerstörung von Wohnqualität, für sichere Fußwege für Schulkinder etc. pp. Daran ändert auch nichts, dass sehr viele der solchermaßen Protestierenden den Gegenstand ihres Protests selber verursachen. Denn das ist eben genau die für die Warengesellschaft typische Bewusstseinsspaltung, die uns logischerweise auch hier begegnen muss.

4. Es gibt darüber hinaus eine „radikale Fraktion“, von Leuten, die sich bewusst vom Auto verabschiedet haben und dies als Befreiung erleben. So existieren z. T. seit vielen Jahren eine Reihe von Initiativen, die sich explizit und konkret gegen den Automobilis-Muss wenden: Autofreie Wohngebiete sind entstanden, weitere in Planung, Gruppen wie NAIV (NichtAutofahrerInteressenVertretung) oder Carwalker, Aktionsformen wie Critical Mass oder Reclaim the Streets bilden sich heraus und sammeln Erfahrungen im direkten Widerstand gegen den alltäglichen Auto-Terror. Die Initiative „autofrei leben“ ist der bisher einzige überregionale Zusammenhang, der sich ausdrücklich dem Kampf gegen den Autowahn widmet. Sie formuliert als Ziel: „Eine Welt, in der die Menschen nicht mehr rasen – nicht aufeinander drauf, nicht an einander vorbei und nicht vor einander weg. Eine Welt, in der die Menschen Zeit haben – für einander, für sich selbst und für die Natur, deren bewusster Teil sie sind und sein wollen. Eine Welt, in der die Menschen nicht mehr durch das Hamsterrad von Wirtschaftswachstum und Geldvermehrung gehetzt werden. Eine Welt, in der nach menschlichem Maß gewirtschaftet wird und in der die Menschen auch im übertragenen Sinn ganz anders mit einander verkehren. “

5. Dies alles bewegt sich in einem „günstigen Umfeld“. Denn es gibt beispielsweise ein sehr verbreitetes Unbehagen am herrschenden Diktat der Schnelligkeit. Der kalte Takt der toten, abstrakten Zeit ist Folge und Existenzbedingung der Warenproduktion – das, was wir unsere innere Uhr nennen, ist aber konkret, ist warm, ist Leben. Die Sehnsucht nach dem Ausspannen, Abschalten- Können ist groß. Keiner hat Zeit. Wer sich hinstellt und sagt: „Ich habe Zeit – ich muss nicht schnell sein“ wird, auch wenn er möglicherweise gleich dem arbeitsscheuen Gesindel zugerechnet wird, doch innerlich sehr beneidet.

6. Es gibt auch eine nicht unbeachtliche Anzahl von Menschen, die sich dem herrschenden Arbeits- und Konsumwahn gegenüber mehr oder weniger distanziert verhalten, weil sie für sich persönlich andere Vorstellungen von Lebensqualität entwickelt haben, die nicht oder nur noch teilweise mit den täglichen Diktaten der Marktwirtschaft kompatibel sind.

Dies nun ist das eigentlich Spannende. Denn auch wenn die wenigsten von denen, die solche Vorstellungen und Lebensstile entwickeln, dies mit unmittelbar politischen Motiven verbinden, so sind das doch beachtenswerte Momente einer sich herausb ildenden emanzipatorischen Bewegung neuer Art. Typisch für diese Bewegung ist, dass sie mit dem Hinterfragen des Alltags beginnt, also mit dem, was klassische altlinke „Politik“ in trauter Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie als „privat“ und „unpolitisch“ abzutun gewohnt ist. Einfach anfangen, anders zu leben – individuell, besser noch kollektiv. Austesten, wie weit das gehen kann, gemeinsame Spielräume phantasievoll und in Auseinandersetzung mit der „feindlichen Umwelt“ ausweiten.

Exkurs: Die Sprengkraft der Frage nach der Lebensqualität

Emanzipatorische Bewegung heute in den kapitalistischen Zentren – das ist die Herausbildung und der Kampf um solche neuen Vorstellungen von Lebensqualität, die sich nicht von der schönen Maschine der Wertverwertung vereinnahmen lassen.

Es geht um das Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben für alle Menschen auf der Erde. Der Kampf um dieses Recht beginnt mit der Frage: Was ist eigentlich Lebensqualität? In dieser Frage steckt heute enorme gesellschaftliche Sprengkraft. Sie beinhaltet nach wie vor die alte und aktuell gebliebene Forderung nach dem universellen Zugang zu Nahrung, Wohnung, Gesundheit und Bildung für alle Menschen. Aber sie erschöpft sich schon lange nicht mehr darin. Sie kann nicht bei der Forderung nach „gerechter Verteilung des Kuchens“ stehenbleiben, sie stellt vielmehr die Frage nach der Beschaffenheit des angeblichen Kuchens selbst. Sie verlangt Rechenschaft darüber, was die Gesellschaft eigentlich hervorbringt, in der wir leben, materiell und ideell.

In dieser vielerorts und an tausend Themen entlang aufbrechenden Debatte spricht sich langsam – wie auch sonst – die Erkenntnis herum: „weniger, langsamer, schöner, besser“. Dieser Bewusstwerdungsprozess muss nicht in einen gesellschaftlichen Umbruch „nach vorne“ münden, aber er kann es, wenn es gelingt, ihn mit der grundsätzlichen Infragestellung des Systems der blinden Wertverwertung, des Systems von Arbeit, Ware, Wert und Geld zu verbinden.

Revolutionen haben bekanntlich unter anderem auch dieVoraussetzung, dass Massen von Menschen nicht mehr so weiterleben wollen wie bisher. Davon sind wir heute einerseits sehr weit entfernt. Denn die große Mehrheit der Menschen verwechselt ein Leben zwischen der wechselweisen Erniedrigung durch Arbeit und Konsum hartnäckig mit Lebensqualität. Trotzdem entwickelt sich andererseits neuesrevolutionäres Potential in Keimform an vielen Orten, in vielen Herzen und Hirnen. Es entsteht auf höchst spannende und subversive Weise dort, wo der angebliche Reichtum der Waren- und Arbeitswelt als Armut, als Gefängnis, als Verhöhnung des Menschen begriffen wird.

Dort, wo Fragen gestellt werden wie diese:

  • Was ist eigentlich erstrebenswerter, drei Armbanduhren oder Zeit zu haben?
  • Wollen wir denn unser ganzes Leben der Diktatur der Uhr unterwerfen?
  • Lohnt es sich wirklich, Liebe, Ruhe, Schlaf, Ausgeglichenheit, Müßiggang, Zärtlichkeit und Erlebnisfähigkeit zu opfern, um Karriere zu machen und dem Geld hinterher zu hetzen?
  • Macht jährlich um den Globus jetten glücklich oder ist das Flugzeug nicht meistenfalls ein Fluchtzeug vor unserer inneren Leere?
  • Ist es nicht eine Katastrophe, dass sich in den letzten 100 Jahren die durchschnittliche Schlafdauer in den Industrieländern um 20 Prozent verkürzt hat? Dass wir allein seit den siebziger Jahren täglich 30 Minuten weniger schlafen, dass 20 Millionen Menschen in Deutschland an Schlafstörungen leiden?
  • Sind wir nicht arm, weil uns das Erlebnis der Stille abhanden gekommen ist?
  • Was lehren uns Versuche in Kindergärten, wo man alles Spielzeug im Keller verschwinden lässt und die Kinder auf einmal ungeahnte Phantasie und Energie entwickeln, wesentlich glücklicher sind als inmitten der Berge aus Spielwaren, denen sie normalerweise ausgesetzt sind?
  • Zerstört der Autoverkehr nicht viel mehr als er bringt?
  • Ist mehr Zeit zum Leben zu haben nicht viel wichtiger als sich all den lächerlichen und armseligen Kompensationsschrott leisten zu können, der uns hinter den Schaufenstern und auf den Mattscheiben vor die Nase gehalten wird?

Zur Beantwortung solcher Fragen hat die arbeiterbewegungs-marxistische Mehrwertkritik bekanntlich nichts beizutragen. Wohl aber die Wertkritik.

So kann die Mehrwertkritik z. B. nichts beitragen zur Erhellung des Widerspruchs zwischen unserer „biologischen Uhr“ und der kalten Vertaktung der Zeit unter den Zwängen der Wertverwertung – also zur Aufklärung des herrschenden Diktats der Schnelligkeit.

„Viele Menschen empfinden ihr 18. Lebensjahr als die Mitte ihres Lebens, gleichgültig, ob sie 40 oder schon 70 sind.“ In Extremsituationen scheint alles wie in Zeitlupe abzulaufen. „Für ein Lebewesen gibt es offenbar keine objektive Zeit.“ Der Mensch hat eine innere Uhr, diese befindet sich „in Kollissionskurs mit unserer Nonstop-Gesellschaft“. (Alle Zitate aus GEO 4/99)

Die Mehrwertkritik kann das nicht erfassen. Sie kann es bedauern, wie jede bürgerliche Sicht. Sie kann sagen, das muss anders werden, aber sie kann nicht sagen wie. Die Wertkritik dagegen erklärt die „objektive Zeit“ als eine Notwendigkeit der Warenproduktion. Der Wert bestimmt sich nach dem Quantum der vergegenständlichten abstrakten Arbeit, die bar jeder qualitativen Bestimmung ist, also rein quantitativ zu bestimmen ist. Diese Bestimmtheit ist die objektive Zeit. Die objektive Zeit ist eine „Errungenschaft“ der Warengesellschaft. Unsere Biologie rebelliert dagegen. Gut zu leben, eine Lebensweise in Übereinstimmung mit unserer inneren Uhr zu finden, heißt, die Warenproduktion zu überwinden.

Oder eben das Thema Auto: Zu der allseits unbestrittenen These, dass es das Aus für den Planeten hieße, wenn alle Menschen soviel Autos hätten wie in den sogenannten hochentwickelten Ländern, fällt der Mehrwertkritik nur ein hilfloses „Es muss halt sinnvoll produziert werden“ ein. Aber auf Dauer nur noch einen Bruchteil der Autos von heute zu produzieren, den Irrsinn der Mobilität zu überwinden, das ist nur sinnvoll außerhalb von Warenproduktion und Arbeitsfetischismus.

Der Mehrwertkritik bleibt es sogar unbegreiflich, warum der herrschende Mobilitätswahn überhaupt ein solcher sein soll. Zu der Vorstellung, dass Menschen beispielsweise vorsätzlich kein Auto haben wollen, weiß sie lediglich unisono mit dem Alltagsbewusstsein zu rufen: Kein Verzicht! Dabei gibt es so viele unterschiedliche Motive dafür, die alle damit zu tun haben, dass man endlich aufhören will zu verzichten. Auf der zweiten bundesweiten Konferenz „autofrei leben! „, zu der sich 1999 in Weimar 250 Menschen versammelt haben, wurden folgende Motive zusammengetragen:

Kontaktmöglichkeiten im öffentlichen Verkehr – Natur genießen – weniger Verantwortung für die Gefährdung von Menschenleben haben – Spaß am Anderssein – ich habe mehr Bewegung – mein Reden und mein Handeln sollen mehr übereinstimmen – seitdem ich kein Auto mehr habe, bin ich gesünder geworden – ich will bewusst langsamer leben – ich möchte kein unfreiwilliger Organspender sein – meine Kinder fahren nicht gerne Auto – meine Stadt soll schöner werden – Auto fahren macht einsam – ich will die Landschaft betrachten – Autos sind hässlich – ich habe eine gute Ausrede, weil ich meine Schwiegermutter nicht mehr vom Bahnhof abholen muss.

Die Mehrwertkritik kann „etwas nicht haben“ immer nur als Ausdruck von zu kurz Kommen und Ungerechtigkeit verstehen, nicht als Gewinn und unterscheidet sich insofern nicht vom trivialen Alltagsbewusstsein. Dabei ist MarxistInnen im Prinzip bekannt, dass Freiheit immer auch Freiheit von etwas ist.

Die Wertkritik hingegen weiß, dass sich die Widersprüche der Warenproduktion heute auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hinein in die einzelnen Individuen entfalten. Wir erleben und durchleben ein gespaltenes Irresein nicht nur der Gesellschaft als Ganzes, sondern auch der und des Einzelnen. Das offenbart sich nirgendwo so deutlich als im Mobilitätswahn.

Es steht nichts weniger auf der Tagesordnung als die Herausbildung neuer Vorstellungen, neuer Konzeptionen und neuer Praktiken der Befreiung. Der Kampf gegen den dem Kapitalismus innerlichen Mobilis-Muss kann ein wichtiges Experimentierfeld dafür werden, möglicherweise sogar mehr.