Schlaf gut

Streifzüge 3/2002

von Gerold Wallner

Eine der Bastionen bürgerlicher Geselligkeit ist die Garantie der Unversehrtheit der Intimsphäre. Wenn ich diesen Satz so hinschreibe, meine ich ihn durchaus auch im militärischen Sinn, im Sinn einer Verteidigungsstellung, eines Bollwerks, einer Schanze, auf der die eigene Position gehalten und von der aus die gegnerische Stellung untergraben wird.

Es ist ja diese garantierte Unversehrtheit der Intimität, die erst das Tauschen ermöglicht; wohlgemerkt ein Tauschen, kein Bekommen, kein gemeinsames Verzehren. Und dieses Tauschen ist von vornherein ein „do ut des“ („ich gebe, damit du gibst“), kein „do et das“ („ich gebe und du gibst“) oder noch besser „damus“ („wir geben“). Es ist genau diese Formel, die darauf hinweist, dass jedes Geben auch ein Zurückhalten beinhaltet; was eins beim Vögeln noch auf die eine oder andre Art sich als Weg der Lust zurecht legen mag, um die Sicht auf die ins Spiel gekommene Macht auszublenden, nämlich das Spiel (Spiel? ) von Hingabe und Verweigerung, das im Geschäftsleben nicht mehr in Frage gestellt wird, vielmehr vorausgesetzt: dass jede Zuwendung, jede Gabe, jedes Überlassen nicht folgenlos sein kann, sondern nur möglich ist in der gerechten (gerechten? ) Erwartung eines gleichwertigen Ersatzes.

Das Tauschen in der bürgerlichen Gesellschaft fragt nicht danach, was das Getauschte dir selbst wert ist, nur danach, was es wert ist. Insofern ist der Gegenwert mitgedacht und allgegenwärtig. Und du wärst ja auch blöd, würdest du diesen Gegenwert nicht in Rechnung stellen. Denn so bleibt alles konstant, du kriegst, was du gibst, und „suum cuique reddere“ („jedem das Seine Geben“) ist die Gerechtigkeitsformel, die unsere Geselligkeit anwendet (Cicero, Augustinus, bei Aristoteles ist es das Mathematisch- Proportionale). Dieses Seine, Richtige, Proportionale bedeutet also: Erstens ist der Tausch gerecht, zweitens tauschen zwei ihr jeweils Eigenes auf der Basis dieser Gerechtigkeit, die ihnen garantiert, dass ihr weg gegebenes Eigenes wiederum mit etwas aufgefüllt werden kann, das diesem Eigenen gleichwertig ist.

So weit, so bekannt. Wenn aber das Tauschen eine Sache ist, die um Fleisch und Blut geht (Shakespeare hat diese Metapher bis zur Kenntlichkeit ausgereizt), ist vollkommen klar, dass die Intimität als der materielle Träger von Fleisch und Blut einem besonderen Schutz unterliegen muss. Und genau darum geht es, wenn diese Intimität auf den Prüfstand der gesellschaftlichen Verhandelbarkeit gestellt wird. Also: maschinlesbare Personalausweise, Fingerabdrücke im Pass, barcodes, die ein jedes dechiffrieren kann und ein jedes dechiffriert; dies ist das Pfund Fleisch, um das nun gewuchert wird.

Zwei Positionen sind in den Diskurs eingegangen und streiten. Zum einen wird ins Treffen geführt, dass keines preis zu geben hätte, was es wirklich betrifft, sei es sein Geschlecht, seine Abstammung, seine religiöse Zugehörigkeit oder nationale Überzeugung. Zum anderen wird erklärt, und der Fraktionsführer aus Tirol wird nicht müde, es zu wiederholen, dass, wer nichts zu verbergen hätte, seine Daten (sein „do = ich gebe“, sein „datum = Gegebenes“) wohl veröffentlichen könne. Wenn wir diese beiden Positionen betrachten, werden wir ihr Gemeinsames erkennen.

Die eine Position verlangt, dass Intimität als solche geschützt bleibt. Erst in ihrem staatsbürgerlichen Handeln, in ihrer Behauptung als Citoyen zeigt sich ihre Harmlosigkeit und gleichzeitig ihre Verantwortung gegenüber der bürgerlichen Gemeinheit. Diese Position will Intimität aufrechterhalten, um gleichzeitig damit den bürgerlichen Konsens, diese Übereinkunft der von einander Abgeschiedenen, zu heiligen und zu würdigen. Sie behauptet, nur das abgeschiedene, garantierte, unversehrte Individuum stelle die Keimzelle der bürgerlichen Geselligkeit dar, alles andere sei vom Bösen. Wo das Individuum nicht in seiner respectiven Unbezüglichkeit und Unerfahrbarkeit erhalten bleibt, es sei denn, dieses Individuum gebe aus freien Stücken von sich etwas preis (und dies natürlich nur um den Preis, den es dafür festsetzt und der ohne den Wert nicht denkbar, machbar und vollziehbar ist), dort würde ein Angriff auf die Grundlagen eben dieser Form des Zusammenlebens, dieser Form gesellschaftlicher Verhandlung, dieser Form von Gerechtigkeit geführt. Ein Individuum wäre also des Geschäfts nicht wert, wenn es zum Geschäft selbst noch die Versicherung durch die Daten braucht (weil so eines sich dem Verdacht aussetzt, an den reinen Tausch nicht wirklich zu glauben, einer zusätzlichen Garantie zu bedürfen, also der simplen Tatsache bürgerlicher Gemeinheit nicht trauen zu wollen).

Die andere Position setzt eben dieses Individuum dem Verdacht aus, es wolle seine garantierte Freiheit bloß dazu benutzen, um durch das Verschweigen seiner Absichten einen illegitimen Vorteil gegenüber den anderen zu lukrieren. Nicht zufällig wird diese Position mit der anderen ewig im Maul geführten Keimzelle gesellschaftlichen Gemeinsinns zusammengespannt: der Familie, der Gemeinschaft, in der eins fürs andre einstehe, um den Staat und die andren nicht zu belasten und ihnen Kosten aufzubürden. Da wird also der pater familias zum Verwalter des Gegebenen (der Daten), aber auch zum Verwalter des guten Gewissens, das den Offenbarungseid fordert und leistet, nichts Illegales, nichts Unstatthaftes im Schilde zu führen. „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu verheimlichen.“ Dieser Pleonasmus soll die Konkurrenz desavouieren, indem ihr das Verbrechen unterstellt, die Empörung unterschoben wird. (In der Familie, die der Vater anführt, kann es natürlich keine Empörung geben, und dem Vater bleibt auch nichts verborgen. ) Wer sich empört, hat in dieser Logik sich schon verdächtig gemacht. Mit dem ist kein Geschäft zu machen, der Auskunft verweigert.

Natürlich wird die erstgenannte Position darauf bestehen, dass das Geschäft – sei es eins, das sie mit einem anderen, das auch nur Geschäfte machen will, abschließt, sei es eins, das sie mit allen abschließt, um sich der Zugehörigkeit zu gleichem Fleisch und Blut zu versichern – von verweigerten Informationen über Alter, Herkunft, Rasse und Geschlecht nicht betroffen ist. Ebenso natürlich wird die zweitgenannte Position darauf bestehen, dass das Geschäft – sei es eins, das sie mit einem anderen, das auch nur Geschäfte machen will, abschließt, sei es eins, das sie mit allen abschließt, um sich der Zugehörigkeit zu gleichem Fleisch und Blut zu versichern – von gegebenen Informationen über Alter, Herkunft, Rasse und Geschlecht nicht betroffen ist.

Die Gemeinsamkeit beider liegt also in der Tatsache verborgen, dass das Geschäft, das sie abschließen – unabhängig von gegebenen oder verheimlichten Informationen -, immer unter der Illusion, immer mit dem Wunsch wenn nicht Vorsatz begangen wurde, das Gegenüber zu übertölpeln, über den Tisch zu ziehen, den eigenen Vorteil zu beachten. Was dabei stört, ist die simple Tatsache, dass die verhandelnde Personnage eine doppelte ist. Du machst deine Geschäfte nur mit einem anderen, das genau so disponiert ist, wie du selbst. Was du verschweigst, veröffentlicht das andere, und beide betrügt ihr euch. Das Geschäft, die Beziehung, das Verhältnis, die Proportion, die alle stellen sich hinter eurem Rücken her, und wer gewinnt oder verliert, steht erst am nächsten Tag in den Nachrichten.

Das aber gilt, ob ihr euch in der Bank oder im Bett begegnet. In beiden Fällen ist ein gutes Gewissen ein sanftes Ruhekissen. Hast du etwas verschwiegen, etwa, dass du katholisch oder homosexuell bist, wird dir Recht geschaffen, weil sich herausstellen wird, dass dies deiner bürgerlichen Existenz nicht abträglich ist. Vielleicht wirst du einiges in Anwaltskosten investieren müssen, um den Triumph auskosten zu können, als ein rechtschaffener Mensch zu gelten. Aber dieser Triumph wird dich zu einem Held der bürgerlichen Geselligkeit machen. Dein gutes Gewissen bleibt dir, denn du hast guten Gewissens verschweigen dürfen, was andre ebenso guten Gewissens bekennen wollten. Auch ihr Triumph ist manifest, denn sie haben sich gegen alle Anfeindungen dazu bereit gefunden, sich zu deklarieren, sich als Avantgarde darzustellen, die erst gar nicht sich um Selbstverständliches kümmern muss, nur um Wichtiges (was übrigens wieder als nur Privates, als Geschäftsvorteil, der aus der Zustimmung zum Faktischen entsteht, daherkommt).

Sie waren schon da: Sie wollten erst gar nicht die Bestätigung abwarten oder mühsam einfordern, dass sie richtig handelten. Sie kümmern sich nicht darum, bestätigt zu erhalten, was schon bestätigt ist. Und bestätigt ist immer nur eines: Was immer du gibst, ist Deines. Was immer du gibst, gibst du nur, weil du Deines wieder bekommst. Besteht auch nur die geringste Chance, dass du Deines nicht zurückbekommst, wirst du nichts hergeben, oder das Gegebene einklagen – unabhängig davon, was du von dir verschwiegen oder offenbart hast, unabhängig davon, was du bist.

Worum die Kämpfe gehen, ist nun lediglich, welche Flanke abgedeckt wird. Angegriffen wird das Individuum immer von einem andern Gleichen (dass es dereinst von einem Ungleichen angegriffen werden wird, das ist unsere Aufgabe, oder wenigstens unsere Prognose). Dieser Angriff, von Seinesgleichen gegen Seinesgleichen vorgetragen, zeigt schon, wie die Gleichheit bloß im Negativen sich zu äußern weiß, wie sie eine Gleichheit nur verteidigen kann, der alles egal ist. Ob Deklaration, ob Konspiration, diese Gleichheit kennt nur das Äußerliche. Was wird denn nun zugegeben? Was ohnedies egal ist. Was ist die Zugabe beim Geschäft? Das, was ohnehin als Rabatt zur Verhandlung ansteht, das, dessen sich eins zu entäußern bereit ist, um das Geschäft zu machen. Und was ist das Verschwiegene? Das, was genauso egal ist, weil es zum Geschäft nichts beiträgt oder als bekannt und unerheblich vorausgesetzt wird. Es ist das klein Gedruckte, das in Liebe und Geschäft die Forderung enthält: „Nimm mich, wie ich bin, oder lass es. “

Wir können die Frage noch einmal so stellen, wie sie anfangs gestellt wurde und gemeint war: Wird das bürgerliche Individuum dadurch angegriffen, dass es sich der Zumutung ausgesetzt sieht, sich zu präsentieren? Die Antwort kann nur sein, dass sowohl die Annahme wie auch die Ablehnung dieser Zumutung nichts an deren Gehalt ändert. Konkret: Wenn im Anschluss an nine-eleven oder simpel im Zuge der so genannten Wende Fingerabdrücke in die Personaldokumente aufzunehmen gefordert wird, wenn sich an dieser Zumutung die demokratischen Gemüter erhitzen, so ist diese Reaktion bloß eine im Rahmen des Gegebenen. Der Angriff auf so genannte Bürgerrechte wird zurecht als von Gleichen vorgetragen empfunden; nicht die Terroristen sind verantwortlich für die Beschränkung (oder Neudefinition der Garantien bürgerlicher Geselligkeit), sondern Fleisch vom selben Fleisch – die Konkurrenz hat versucht, Kleingeld zu wechseln. Und umgekehrt funktioniert es genauso: Wer sich der Preisgabe seiner persönlichen Daten entziehen, wer nicht zum Spitzel umfunktioniert werden will, ist nicht sofort Agent des terroristischen Angriffs auf die Gesellschaft (auch wenn dies in der ideologischen Polemik so insinuiert wird), sondern bloß der Konkurrent, der behauptet, das Geschäft ginge weiter, ohne Preisgabe der eingenommenen und eben noch sicheren Position. Auch hier wird nur die Konkurrenzposition bezogen und verteidigt, die Position der anderen Gleichen unterminiert, aber nie im Leben der Verdacht einer wirklichen Überprüfung unterzogen (mit Aussicht auf irgendeinen Erfolg), wer seine Daten nicht preis geben und um die Daten der anderen sich nicht kümmern will, sei schon ein Verfechter von Kommunismus und Antiamerikanismus (oder Österreichvernaderung, um auch unser kleines Hoamatl zu zitieren).

Im Gegenteil geht die Auseinandersetzung doch bloß darum, wer diesen bürgerlichen Konsens wohl am besten vertritt oder ihm am besten gerecht wird; wer das Hauptaugenmerk auf die Demonstration des Konsens legt, indem gesagt wird, „Ich habe doch nichts zu verbergen“, kann sowohl sagen: „Weil ich nichts zu verbergen habe, kann ich offenlegen, wonach gefragt wird“ als auch „Weil ich nichts zu verbergen habe, ist es irrelevant, wonach gefragt wird, weswegen ich mich der Antwort ohne Sanktionen hintanhalten kann. “

Wer also gegen die Preisgabe seiner Daten auftritt, tut dies im Bewusstsein, dass er die bürgerliche Garantie der Unversehrtheit der Person verteidigt, wer für diese Preisgabe eintritt, tut dies im demonstrativen Akt der Unversehrtheit der Gesellschaft. Beide aber gehen davon aus, dass sie ihre Geschäfte und Verhältnisse, in Bett oder Bank, jeweils mit dem anderen ungestört vollziehen können.

Keins von beiden würde je auf die Idee kommen, weil eins seine Daten nicht oder doch preis geben möchte, dass es sich nun nicht mehr um einen kreditwürdigen Partner handeln würde. Sollte eins hingegen seine Daten willkürlich fälschen oder sich diesem Diskurs entziehen, stellte sich natürlich sofort der Verdacht ein, dass nun kriminelle Elemente sich mit illegalem Kapital in Geschäftsbereiche einnisten wollen (wobei wieder Bett und Bank betroffen werden), was weiter nicht schlimm ist, da nun die Polizei eingreift, die zu diesen Daten ja dies Verhältnis hat, das Transparenz genannt wird, und wiederum nur diese Transparenz anwenden kann, indem sie uns, dir und mir, der Verweigerin und dem Offenbarer, die Verweigerung und Offenbarung frisch garantiert.

Anders ist es, wenn ich mit Preisgabe oder Verweigerung der Daten eine Stellung einnehme, aus der heraus ich die bürgerliche Gesellschaft insgesamt in Frage stelle. Allerdings ist es dann egal, ob es von mir Daten gibt. Der Diskurs ist dann nicht mehr einer zwischen Konkurrenten sondern zwischen Kombattanten. So gesehen, breche ich an dieser Stelle die Überlegungen ab.