Freiheit und Zerstörung

Streifzüge 3/2001

von Karl-Heinz Wedel

Nach den Anschlägen in den USA bot sich ein ungewohntes Bild:

Die einzig verbliebene und hochgerüstete Weltmacht war schutzlos, der Inbegriff von politischer Macht und militärischer Stärke nun plötzlich machtlos, das Symbol wirtschaftlicher Potenz, das World-Trade-Center, nur noch ein rauchender Schrotthaufen. Das bis dahin konkurrenzlose und vor Kraft strotzende Zentrum der westlichen Welt in einer Lage, wie sie schlimmer für ein staatliches Subjekt nicht sein kann: Die Fähigkeit zum Handeln hatte es verloren. Die Freiheit der Tat hatten in dieser Lage andere. Und woraus diese Freiheit bestand hat die ganze Welt in Echtzeit erfahren. „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist … der Tod“ (Hegel, 1986, S. 436).

Der Konflikt zwischen den USA und ihren Gegnern wird bekanntlich für die einzige Weltmacht deshalb zur unlösbaren Aufgabe, weil der Widerpart keine nationalstaatliche Gliederung und keine regulären staatlichen Strukturen mehr aufweist. Im sozialökonomischen Zerfallsprozess erodieren von Jugoslawien bis Afghanistan öffentliche Institutionen und Regularien, soweit sie jemals überhaupt installiert wurden. Doch der Verfall allgemein bürgerlicher Verkehrsverhältnisse, wie sie sich im Wegbrechen staatlicher Strukturen ausdrücken, zeigt sich auch auf der Ebene der Einzelsubjektivität.

Die Warengesellschaft hat ein spezifisches Verhältnis zwischen Allgemeinheit und einzelnem Individuum zur Voraussetzung. Der Einzelne vollführt in seiner Vermittlung mit der Gesellschaft eine Bewegung, in der das Besondere Ausdruck des unbewußt hergestellten abstrakt Allgemeinen ist. Nicht ohne freilich dabei die Struktur von männlichem Prinzip und weiblicher Abspaltung zu konstituieren. Denn als abstrakte Form selbst ist diese Art von Gesellschaftlichkeit gleichzeitig nicht mit der Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse in einer totalen Weise vermittelt. So dass über die Delegierung der jeweils „störenden“ Einflüsse des Sinnlichen die spezifisch bürgerliche Form von Weiblichkeit erst hergestellt werden muss, um sie damit einer gefügigen Kontrolle zuzuführen. Von dieser sinnlichen Bezogenheit befreit, kann sich das strukturell männliche Subjekt seinen eigentlichen Tätigkeitsfeldern in der Warengesellschaft vermeintlich ungehindert zuwenden. In der Sphäre der abstrakten Arbeit und des autonomen und freien Willens verwirklicht sich die Bestimmung des männlichen Prinzips. Aller dings als verkehrte Welt. Die konkrete Arbeit ist darin immer nur Ausdruck der prozessierenden Substanz des Werts, wie der einzelne und strukturell männliche Wille, nur Erscheinung des formal freien Willens sein kann. Als Lösung dieses Widerspruchs hat die Aufklärung kurzerhand das Selbst des Einzelnen zum autonomen Zentrum der Männlichkeit erklärt, um sich die Unterwerfung der Subjekte unter eine unbewußt erzeugte Struktur als selbstbestimmten und freien Akt hinwegzulügen. Die Individuen unterliegen in Wirklichkeit jedoch der Dialektik einer dynamisch sich wie von selbst bewegenden Substanz des Allgemeinen und einem daraus folgenden Zwang zur Darstellung und Objektivierung dieses alles verflüssigenden Prozesses. Die Gegenständlichkeit, in die sich solche Praxis hinein verobjektiviert, manifestiert aber so notwendigerweise erst die Trennung des Einzelnen von dieser Gesellschaftlichkeit der bürgerlichen Verhältnisse. Für eine „gelingende“ Synthese ihres Selbstbewußtseins ist diese Verobjektivierung der bürgerlichen Subjekte aber notwendige Bedingung. Erst in einer Rückkehrbewegung auf sich durch diese Vergegenständlichung hindurch konstituiert sich bürgerliche, d. h. männliche Subjektivität. „Die Konstitution einer konkreten Objektwelt durch das tätige Ich wird notwendig, indem das Anderssein der Gegenstände aufgehoben wird und sich dadurch das Ich Gegenständlichkeit, mithin Substanz, Dasein gibt [… ] Es wird sich im Anderen seiner selbst bewußt, indem es sich selbst seine Objektwelt und damit sich selbst schafft“ (Guttandin, S. 279).

Im Zuge der Krise der abstrakten Arbeit und somit der Warengesellschaft insgesamt erodiert einerseits die Wirklichkeit dieser Verhältnisse, d. h. die Möglichkeit der Konstitution einer konkreten Objektwelt wird zunehmend unmöglich. Was sich nicht nur auf der Ebene der Wertverwertung manifestiert, sondern auch beispielsweise im Verfall staatlicher Institutionen, wie überhaupt im Verfall des Anerkennungsverhältnisses des männlich konnotierten freien Willens. Das Verhältnis zwischen abstrakter Allgemeinheit und besonderer Darstellungsform wird krisenhaft obsolet. Was die Ebene der Subjekte betrifft, ob als Einzelsubjekt oder als nationales Großsubjekt, so zwingt zwar die warenförmige Totalität die Individuen weiterhin in die Form dieser Allgemeinheit, um aber auf der anderen Seite die Möglichkeit und notwendige Bedingung für den „normalen“ Wahnsinn der Ver hältnisse, sich mittels der Objektwelt nämlich selbst zu schaffen, wegzustreichen. Was verbleibt, ist der Anspruch der allgemeinen Form, ohne die Möglichkeit der Realisierung. Die Verobjektivierung beispielsweise in konkrete staatliche Strukturen ist für diese Allgemeinheit nicht länger die Wirklichkeit, „worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt“ (Hegel). Allerdings werden gerade dabei die bestimmenden Momente des Verhältnisses in einer entlarvenden Offenheit und brutalen Widersprüchlichkeit noch einmal sichtbar.

Was sich einerseits als sozialökonomischer Zerfallsprozess vollzieht, erscheint auf der Ebene der Subjektivität als entsprechende Psychopathologie. In der Postmoderne drückte gerade die daselbst abgefeierte „Dezentrierung des Subjekts“ die prekär werdende Dialektik der Bewegung zwischen Allgemeinem und Besonderem auf der Ebene der Individuen aus. Nicht als sich beliebig anheftbares Psycho-Accessoire eines nur noch spaßwollenden postmodernen Bewußtseins, sondern in einer leidvollen Psychophatogenität erschien in den letzten Jahren zunehmend diese zur Unmöglichkeit getilgte Wirklichkeit als „Borderline-Syndrom“: Als „Unmöglichkeit nicht nur des Rückzugs auf sich, sondern auch und vor allem an der Unmöglichkeit der Entäußerung seiner inneren Welt in die äußere“ (Hanzig-Bätzing, S. 2). Die nicht mehr gelingende Rückkehr und Synthese der Bewegung zu einem kohärenten Selbst drückt sich dann als ein Gefühl der inneren Leere bzw. des Gelebtwerdens aus. Was die Zustände der Warengesellschaft als unbewußt hergestellte und die Menschen beherrschenden Verhältnisse durchaus adäquat auf den Punkt bringt. Und zwar dann, wenn die notwendige Illusion der Subjekte als männliche Allmachtsinstanz wegfällt und das bloße Gefühl des Unterworfenseins bestehen bleibt. Das Borderline- Syndrom ist sicherlich zu Recht mit den mittlerweile fast schon alltäglichen und bezeichnenderweise fast ausschließlich von Männern begangenen Amokläufen verbunden worden (vgl. dazu G. Eisenberg).

Wenn es zur unlösbaren Aufgabe wird, sich im Besonderen als Ausdruck des Allgemeinen zu erweisen und die „normale“ Bewegung der Entäußerung des Selbst und der Reflexion im Anderen zur Bestätigung seiner selbst unmöglich wird, so bedarf es einer Auflösung dieses Widerspruches für das Selbst, soweit es sich weiterhin als ein Subjekt bestätigen will bzw. muss. Als historisch krisenhaften Übergangspunkt der sich selbst bewegenden Substanz könnte man dabei festhalten, dass zwar diese Allgemeinheit weiterhin ihren Anspruch geltend macht, ohne sich allerdings weiterhin auf die Ebene der Verobjektivierung herabzulassen. Als „ökonomischer“ Aufweis dieses Zustands wäre die von Marx so benannte Bewegung G-G` zu nennen. Kapital, das sich erhalten will, ohne sich noch der stofflichen Seite, d. h. der Arbeit, bedienen zu können. Der Zielpunkt der reinen Bewegung ohne stoffliche Verunreinigung (Kant), auf den der Kapitalprozess immer schon hingearbeitet hat, stellt sich nun als krisenhafter Verfall der warenförmigen Struktur und der darin einbegriffenen Individuen heraus. Hegel hat diese „reine Reflexion des Ich in sich [… ] die Flucht aus allem Inhalte“ (Hegel, 1982, S. 49f. ) als eine Möglichkeit der bürgerlichen Subjektivität, ja sogar als den Ausgangspunkt des modernen Subjekts beschrieben. Was dieser zu Zeiten der Installation des modernen kapitalistischen Systems in der Französischen Revolution als einen Akt der Selbstbehauptung in der Zerstörung anhand der „Tugend und des Schreckens“ (Robespierre) beobachtete und rein affirmativ in sein geschichtsmetaphysisches Konstrukt einfügte, erhält in der Deinstallation des Kapitals verblüffende Aktualität. „Es ist die Freiheit der Leere, welche zur wirklichen Gestalt und zur Leidenschaft erhoben wird und zwar [… ] zur Wirklichkeit sich wendend, im Politischen wie im Religiösen der Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen wie die Vernichtung jeder sich wieder hervortun wollenden Organisation wird. Nur indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseins; er meint wohl etwa irgendeinen positiven Zustand zu wollen, z. B. den Zustand allgemeiner Gleichheit oder allgemeinen religiösen Lebens, aber er will in der Tat nicht die positive Wirklichkeit desselben, denn dieser führt sogleich irgendeine Ordnung, eine Besonderung sowohl von Einrichtungen als von Individuen herbei; die Besonderung sowohl und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtsein hervorgeht. So kann das, was sie zu wollen meint, für sich schon nur eine abstrakte Vorstellung und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens sein“ (ebd. ). Erstaunlich ist, wie präzise sich auch noch im Zerfall, in der scheinbaren Auflösung in ein barbarisches Chaos, dieses sich auf den Begriff bringen läßt. Und Hegel hat mit dankenswerter Offenheit den Terror, die Furie der Zerstörung als integrales Moment der bürgerlichen und gleichzeitig männlichen Freiheit benannt. Die Freiheit dieses Willens kann, soweit sie nicht die Dialektik von Entäußerung und Rückkehr vollziehen kann, aber dennoch ihre Form versucht zu behaupten, nur in der Zerstörung noch sich selbst bestätigen.

Hat sich in der Französischen Revolution als Auftaktveranstaltung der Moderne die Logik des freien Willens in reiner Form als Auslöschung aller Besonderheit gezeigt, so folgt der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft dem gleichen Muster. Die Desintegration verbunden mit einem inhaltslosen Anspruch des „negativen Willens“ drückt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Als Einzelsubjekte genauso wie als nationalstaatliches Gesamtsubjekt. Und so ergeben sich, in der Kategorie der negativen Freiheit zusammengefasst, Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Formen der Destruktion, ob als individueller Amoklauf, als kühl und rational kalkulierte Terroraktion oder als Banden- oder Bürgerkrieg. Was ihnen aber stets gemeinsam zukommt, ist der Zusammenhang zwischen Handlungsunfähigkeit und Zerstörung. In den Attentaten auf die Twin-Towers kreuzten sich die verschiedenen Fallinien des negativ männlichen Willens. Die USA als scheinbar omnipotentes Zentrum eines Systems, das einen Großteil der Weltbevölkerung als „handlungsunfähig“ in den Formen des verselbständigten Werts zurückläßt, wurde nun selbst -jedenfalls politisch-militärisch – außer Funktion gesetzt; durch einen Willen, der sich sein Selbstbewußtsein nur noch in einer Vernichtungsaktion beweisen konnte. Dieser Wille ist aber letztlich nur Produkt einer Entwicklung, der mangelnden Bindungsfähigkeit des auf abstrakte Arbeit und öffentlichen, d. h. aber männlichen Verkehrsformen basierenden Systems.

Wie sich diese Desintegration auf der Ebene der Nationalstaaten in einer neuen aber dennoch immer gleichen Beschaffenheit von gewalttätigen Konflikten phänomenologisch darstellt und dabei die Metropolen ebenso einschließt, hat vor Jahren schon H. M. Enzensberger durchaus treffend beschrieben. „Mit dem Ende des Kalten Krieges hat auch den macht-geschützten Idyllen des Westens die Stunde geschlagen. Das beklemmende Gleichgewicht der Pax atomica gibt es nicht mehr. … Sichtbarstes Zeichen für das Ende der bipolaren Weltordnung sind die dreißig bis vierzig offenen Bürgerkriege, die derzeit auf der ganzen Welt geführt werden. Nicht einmal ihre Zahl läßt sich exakt angeben, weil das Chaos nicht zählbar ist.“ (Enzensberger, S. 12) Waren ehemals Bürgerkriege in ein Programm nationalstaatlicher Konstitution und darin enthaltener Bildung eines Systems von abstrakter Arbeit und bürgerlichen Verkehrsformen eingebunden, so haben diese jegliche positive und inhaltliche Orientierung verloren. Die weltweit zwar hergestellte aber nun selber unmögliche abstrakte Allgemeinheit des Werts kann sich in der Krise der Arbeit nicht länger als besonderer Inhalt in nationalstaatliche wie sozialökonomische Strukturen objektivieren.“ Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Ve r schwindens. … Nachdem sie mit der Vertilgung der realen Organisation fertig geworden und nun für sich besteht, ist dies ihr einziger Gegenstand – ein Gegenstand, der keinen anderen Inhalt, Besitz, Dasein und Ausdehnung mehr hat, sondern er ist nur dies Wissen von sich als absolut reinem und freiem einzelnen Selbst. An was er erfaßt werden kann, ist allein sein abstraktes Dasein überhaupt“ (Hegel, 1986, S. 435f. ). Der Möglichkeit beraubt, in den kapitalistischen Formen noch eine Gegenständlichkeit hervorzubringen und sich seines freien Willens darin bewußt zu werden, kann die allgemeine oder negative Freiheit nur noch die Furie des Zerstörens oder des Verschwindens sein. Der warenförmige Normalbetrieb löst sich natürlich nicht einfach auf oder verschwindet lautlos, sondern im Abgang offenbart der freie Wille seine ganze destruktive Kraft. Auch Enzensberger kommt auf der Ebene der Phänomene zu einem identischen Befund, ohne dass er diesen freilich in einen begrifflichen Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwicklung brächte.

Die Kämpfe, „die im 19. Jahrhundert zur Bildung der modernen Nationalstaaten führten, waren nicht bloß irrationale Schlägereien.“ Sondern diese hatten „konstruktive Leistungen (wie z. B. die Hervorbringung des Rechtsstaats, K. H. W. ) des europäischen Nationalismus“ zum Hintergrund. „Derartige Neuschöpfungen liegen heutigen Bandenkriegern völlig fern. Die Nationalisten der letzten Tage sind nur an der Destruktionskraft interessiert, die ethnischen Differenzen innewohnt [… ] Nichts könnte den angolanischen, somalischen, kambodschanischen Bürgerkriegern gleichgültiger sein als das Los der angeblichen Stammesbrüder; sie finden nichts dabei, sie zu ruinieren, in die Luft zu jagen, ans Messer zu liefern“(Enzensberger, S. 23f. ). „Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht“ (ebd. , S. 35). Das einzige Tun eines Systems basierend auf abstrakter Arbeit und männlich freiem Willen kann letztendlich nur noch die Zerstörung seiner gegenständlichen Wirklichkeit sein, einschließlich der Personage natürlich. Und dabei geht es zum Schluss nicht mehr mal um irgend etwas. Treffender kann die Warengesellschaft ihr zynisches Wesen nicht mehr darstellen.

Dessen völlig ungeachtet gibt sich das gut bürgerliche Bewußtsein unschuldig wie immer. Schon in Zeiten der Französischen Revolution war es ein gängiges Muster, die Herrschaft der Tugend und des Schreckens nicht auf die Kategorien der Freiheit und der bürgerlichen Vernunft zu beziehen, sondern sie als etwas gänzlich Fremdes zu entsorgen. „Diese Freyheit ist für die Unglücklichen eine wahre Büchse der Pandora, aus welcher aller Arten übelthätiger Leidenschaften, Ausschweifungen, Laster und Verbrechen, mit ihrem ganzen verderblichen Gefolge, wie ein giftiger Nebel, über sie gekommen sind, dessen Berauschung sie taub gegen die Stimme der Vernunft und der Menschlichkeit [… ] macht“ (C. M. Wieland, zit. nach Maier, S. 56). Die Aufklärung versuchte also schon damals die „Furie des Zerstörens“ als striktes Gegenteil von Freiheit und Vernunft darzustellen und nicht, wie Hegel gezeigt hat, als deren letzte Wahrheit. Der Ausschluss der eigenen Verstricktheit mit dieser Destruktion scheint dieser Tage was die Anschläge in den USA im Besonderen und den Zerfall der Staatlichkeit in Bürgerkriegsbanden im Allgemeinen angeht dagegen umso leichter. Nicht die bürgerliche Freiheit selbst, wie in Zeiten der französischen Revolution, hätte schließlich die Büchse der Pandora geöffnet, sondern die scheinbare Inkarnation des Bösen und der Gegenaufklärung, Osama Bin Laden und sonstige Gotteskrieger aus dem Hindukusch. Angesichts der Angst um den kapitalistischen Betrieb wirkt das aufklärerische Denken zuweilen noch dümmer, als es die Verhältnisse notwendig hervorbringt. Und in freier Manier wandern die freien Gedanken des freien Willens zu Erklärungsmustern, die weiland schon Wieland erprobte. Nur dass Wieland heute Huntigton heißt oder Justus Wertmüller. Für alle kommt nun der giftige Nebel des Verbrechens aus dem Islam, der wahlweise einmal als dem Mittelalter entsprungen („Die Zeit“) oder auf das „deutsche Wesen“ („Bahamas“) zu beziehen ist. Weder den bürgerlichen Vertretern des „Clash of Civilizations“, noch ihren „links“extremen Ablegern gelang es allerdings angesicht der Verstrickung der Terroristen mit westlichen Lebensverhältnissen durchgehend die negative Freiheit als etwas Fremdes ethnizistisch zu veräußern. (Die FAZ bezeichnete gar die Attentäter von New York als „westliche Snobs“. ) Zwar beziehen Anti-Deutsche die Irrationalität der Islamisten als immanentes Moment direkt auf „die“ Zivilisation. Indem sie aber die westliche Rationalität in ihrer gegenwärtigen historischen Erscheinungsform nicht als „negative Freiheit“ begreifen können, sondern dem freien Willen noch einmal ein kommendes Reich der „positiven Freiheit“, in enger Kooperation mit den USA versteht sich, zu geben versuchen, verkommen sie zu den plötzlich extremsten Kreuzrittern der westlichen Welt. Dass nun die USA gerade in diesem Konflikt gezwungen sind ebenso nur noch in der Kategorie der negati ven Freiheit zu handeln, kann ein Bewußtsein nicht mehr wahrnehmen dürfen, welches sich diese Freiheit erstens als immer noch produktiv und zweitens als ewig imaginieren muss. Während die USA den Bock der zivilisatorischen Werte mit Hilfe von B52-Bombern noch einmal melken will, hält die Linke das Sieb unter. Dagegen wäre geltend zu machen, dass das Selbst, das weiterhin auf die unmögliche Verobjektivierung und Besonderung in den Formen der Warengesellschaft besteht, nur noch die Vernichtung jedes Inhalts meinen kann, was gleichzeitig die Affirmation der Zerstörungspotenz des männlichen Prinzips einschließt. Ein Festhalten an diesem Selbst und dessen Anspruch auf Freiheit bekämpft in dem sich äußernden negativen Willen nur das Zukunftsbild seiner selbst.

Als ob der Westen nun in diesem Konflikt explizit beweisen wollte, dass schließlich nicht die diversen Schurken, sondern er selbst das innigste Verhältnis zu den Formen der negativen Freiheit zu eigen hat, läßt er nun die Furie der Zerstörung nochmals in einer Region los, in der sie schon Jahrzehnte am Wirken war. Denn nicht nur, dass sich die Logik des negativen Willens im Zerfallsprozess der Warengesellschaft offensichtlich bahnbricht, sie war als Ethik der Kriegsführung schon immer Merkmal der westlich-bürgerlichen Gesellschaft. Die Kriegs-Logik des westlichen Moderne basiert nach dem Militärhistoriker John Keegan auf einer Anschauung, dass der „Kampf Mann gegen Mann auf Leben und Tod“ (Keegan, S. 550) geführt wird. Im Gegensatz dazu schreibt er anderen (militärischen) Kulturen z. B. der des Islams ursprünglich „Prinzipien der freiwilligen Begrenzung und des symbolischen Rituals“ zu. Dem gewalttätigen Konflikt zwischen Subjekten in der Warenform haftete also per se die Zerstörungslogik der negativen Freiheit an. Und so sind die Terroranschläge gerade nicht der Beweis des Zusammenstosses verschiedener Kulturen oder einer Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. Die Gotteskrieger des Osama Bin Laden stehen vielmehr dem Westen hinsichtlich des Willens der Vernichtung wesentlich näher als dieser meint. Nur dass in den bisher konventionell geführten Kriegen noch ein Unterschied zwischen den objektivierten Formen der bürgerlichen Gesellschaft und den Menschen selbst bestand. Was sich u. a. in der Trennung zwischen Regierung, Armee und Zivilisten ausdrückt. (vgl. v. Crefeld) Die Verobjektivierung in eine staatliche Struktur ließ eine klare Trennungslinie zwischen der Personage und dem System selber noch zu. Dies bezieht sich einerseits natürlich auf die Differenz zwischen Zivilbevölkerung und kriegführendem Staat, aber auch auf die Nichtidentität zwischen den militärischen Truppen als Werkzeuge, die nur ihre Pflicht tun, und dem staatlichen System insgesamt. Ein Element in der neuen Qualität von Bürgerkriegen, den low intensity conflicts wie sie van Crefeld bezeichnet, „ist aber, dass die Schwelle des politischen Signifikants gewissermaßen von der Ebene des Staates herabgesetzt wird auf die der Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen, die den Staat ausmachen“ (v. Crefeld, S. 297). In dieser neuen Form der Auseinandersetzung kommt dann „den Menschen [… ] als Menschen eine politische Bedeutung zu“ (ebd. ). Die bisherige Unterscheidung des verobjektivierten staatlichen Systems von den sie erzeugenden Subjekten wird also hinfällig, da die ganze Bewegung der Verobjektivierung unmöglich wird. Und so fallen schließlich der Staat und die Einzelpersonen in letztere zusammen. Das Selbst kann, wie Hegel sagt, nach der Vertilgung der realen Organisation nur noch an seinem abstrakten Dasein überhaupt erfasst werden. In diesem Sinne wurde dem Westen und speziell den USA mit einem Schlag vor Augen geführt, wie sich die Mechanismen und die Logik des Kriegs verändert haben. Wenn also die Menschen nicht mehr nur Maschinisten des von ihnen getrennten und verselbständigten Aggregats des Werts sind, sondern sie unmittelbar die politischen Signifikanz der Staatlichkeit darstellen, so ergibt sich eine neue Qualität des Involviertseins der Individuen. Kurz gesagt, eine viel größere Zahl von Zivilisten wird von diesem Krieg betroffen sein, d. h. getötet werden, aber auch die politischen Funktionsträger werden zunehmend Ziel von Anschlägen. Der US-Vizepräsident Dick Cheney spricht deshalb auch davon, dass in dem Konflikt mit dem Terrorismus erstmals mit „mehr Opfern im Inland als unter den US-Truppen bei Auslandseinsätzen“ (Süddeutsche Zeitung, 25.10.2001) gerechnet werden müsse. Und dass ein US-Präsident zwanghaft seine Zuversicht zur Schau stellen muss, sein Arbeitsplatz werde auch morgen noch sicher sein, ist durchaus ein neues Phänomen.

Angesichts dieser neuen Qualität von Bedrohung – dies war direkt nach den Anschlägen schon klar – hat sich insgesamt das Verhältnis zwischen Einzelsubjekt und Staatlichkeit erheblich verschoben. In den letzten beiden Jahrzehnten illusionierten sich die neoliberalen Gesundbeter durch das Zurückdrängen staatlicher Aufgaben das Immer-weiter-so des Kapitals zurecht. Am Anfang des neuen Jahrtausends wurde aber schon sehr deutlich, dass der entfesselte Markt die Probleme der Warengesellschaft nicht nur nicht lösen kann, sondern noch verschärft. Eine Rückwendung zum Staat und zur Politik als Gegenpol des Marktes war logische Konsequenz dieses Scheiterns. In dieser Atmosphäre sprengten nun die Attentäter eine beachtliche Bresche für das Comeback der in jüngster Vergangenheit allzu geschrumpften Staatlichkeit. Gegen das „negative Tun“ und den negativen Willen soll nun der herausragende Gegenstand des positiven freien Willens, die Staatlichkeit mobilisiert werden und wieder integrative Potenz erlangen. Allerdings konzentriert auf das nationale Identitäts- und v. a. das Sicherheitsbedürfnis. Im Gefolge der Anschläge muss man so immer wieder Zeuge allerlei sentimentaler Ausflüsse patriotischen Pathos` werden, „worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt“ (Hegel). Doch der angestrebte Genuß wird von etwas vergällt, von dem man sich gerade durch sein liebevolles Hinwenden zum Vater Staat retten wollte. An diesem vermeintlich sicheren Ort verwirklicht sich nämlich gerade nach den Anschlägen nicht die Logik der wahrhaftig positiven Freiheit, sondern das uns schon bekannte Gegenteil.

Nicht nur dass das liberal-aufgeklärte Bewußtsein berechtigte Zweifel über die tatsächlich zu realisierende Sicherheit hat. Denn das bürgerliche Schizo-Subjekt kann ja einerseits die gesamte sichertechnische Hochrüstung a la Schily lauthals fordern, andererseits aber durch Mehlbriefchen und fiktive Bombendrohungen sich der grassierenden Unsicherheit klammheimlich erfreuen und so zum inneren Attentäter mutieren. Oder wie der Psychologe G. Eisenberg die gewalttätige Verfasstheit der spätkapitalistischen Individuen, und insbesondere der Männer, beschreibt: „Sage also niemand, er habe nicht gelegentlich Lust, alles in die Luft zu sprengen und … blind um sich zu schlagen.“ (Eisenberg, S. 14)

Nein, die Staatlichkeit in der Krise der Verobjektivierung der Freiheit kann nicht einfach durch eine hilflose und selbst widersprüchliche Willensbekundung wieder in die Logik der positiven Freiheit gezwungen werden. Dass sich mit der Reaktion auf die Terroranschläge nicht einfach das liberale Einmaleins von staatlicher Macht und zu schützender individueller Freiheit fortschreiben läßt, dafür ist das Schilysche Sicherheitsprogramm ein wahrlich gutes Beispiel. Denn ironischerweise mauert nicht der positive, noch an konkreten Inhalten fixierte Wille das neue Gebäude der inneren Sicherheit, sondern sein Gegenteil. Die Strafverfolgung wird beispielsweise bei der sog. Initiativ-Ermittlung in diesem Sinne nicht mehr an konkreten Verdachtsmomenten orientiert, also einer Besonderung eines „bösen Willens“, sondern die Allgemeinheit oder der allgemeine Wille in Form des BKA kann völlig losgelöst davon Ermittlungen aufnehmen. „Jeder, sei er verdächtig oder unverdächtig, kann künftig Subjekt von Ermittlungen sein. Damit wird die grundlegendste Unterscheidung im Recht der inneren Sicherheit, die Unterscheidung zwischen Beschuldigten und Unbeschuldigten, aufgehoben. Wenn ohne Beschuldigung ermittelt werden darf ist jeder ein Beschuldigter.“ (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 26.10.2001) Wurden in Deutschland nach den Anschlägen erst einmal alle islamischen Bürger unter Generalverdacht gestellt, so sind nun alle dran, denn der freie Wille ist schließlich eine universelle Kategorie. Es kommt dabei aber nicht mehr auf eine besondere Äußerung oder man könnte sagen Objektivierung des Willens an. Der von jeder Darstellungsform befreite Wille kann sich eben in keiner konkreten Tat mehr ausdrücken. Eine logische Konsequenz aus den veränderten Ansprüchen der Freiheit ist somit eine veränderte Strukturierung der Formen von Staatlichkeit und speziell deren Verfolgungsmechanismen. „Wenn der allgemeine Wille sich an … das Verbrechen hält, das sie (Hegel bezieht sich hier auf eine Faktion, eine Tatgemeinschaft, K. H. W) gegen ihn begeht, so hat sie dagegen nichts Bestimmtes und Äußeres, wodurch die Schuld des ihr entgegengesetzten Willens sich darstellte; denn ihr als dem wirklichen allgemeinen Willen steht nur der unwirkliche reine Wille, die Absicht, gegenüber. Verdächtigwerden tritt daher an die Stelle oder hat die Bedeutung und Wirkung des Schuldigseins, und die äußer liche Reaktion gegen diese Wirklichkeit, die in dem einfachen Innern der Absicht liegt, besteht in dem trockenen Vertilgen dieses seienden Selbsts, an dem nichts sonst wegzunehmen ist als nur sein Sein selbst.“ (Hegel, 1986, S. 437) Es ist schon erschütternd mit welcher Genauigkeit die bürgerliche Gesellschaft auch noch in ihrem Ve r fall ihren unbewußt erzeugten Gesetzen der Freiheit folgt und gleichzeitig einen Beweis dafür erbringt, dass jene nicht in ein inkohärentes Chaos zerfällt, sondern immer noch begrifflich als Totalität erfasst werden muss.

Wenn im neuen Gebäude der wahnwitzigen Sicherheit jeder unter Generalverdacht steht, so sind nächtliche Verhöre und Knast aufgrund von Ermittlungspannen (siehe Spiegel 43/2001) vielleicht bald nicht mehr die Ausnahme. Die Abschiebung von Ayslbewerbern in die Verfolgerstaaten genügt heute schon dem Anspruch der negativen Freiheit: ein trockenes Vertilgen eines Selbsts, von dem man sonst nichts mehr wegnehmen kann als sein bloßes Sein.

Literatur

Götz Eisenberg : Amok – Kinder der Kälte, Hamburg, 2000

H. M. Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main, 1996

Friedhelm Guttandin: Genese und Kritik des Subjektbegriffs, Marburg/Lahn, 1980

Evelyn Hanzig-Bätzing, Selbstsein als Grenzerfahrung, Berlin, 1996

G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main, 1982

G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main, 1986

John Keegan: Die Kultur des Krieges, Hamburg, 2001

Hans Maier (Hrsg. ): Wege in die Gewalt, Frankfurt am Main, 2000

Martin van Crefeld: Die Zukunft des Krieges, München, 1998