Esoterik und die Linke

Streifzüge 2/1998

von Maria Wölflingseder

Seit Mitte der 80er Jahre haben sich — aus den USA kommend — esoterische, das heißt vor allem spirituelle und biologistische Strömungen im deutschsprachigen Raum stark ausgebreitet; seit den 90er Jahren nehmen sie auch im ehemaligen Ostblock stark zu. Wurde esoterisches Gedankengut anfangs von einzelnen Gruppierungen getragen, drang es nach und nach in alle gesellschaftlichen Bereiche ein: in Politik und Wissenschaft, in die Ökologiebewegung, ins Management, in die Großkirchen, ins Alltagsdenken und auch in linke Wissenschaft.

Zu den Esoterik-Hauptinhalten gehören:

    1. Religion/Glaube/Spiritualität — also der Bezug auf eine höhere kosmische Ordnung, die die sogenannte "Ganzheitlichkeit" oder "Einheit" darstellt. Diese soll in der Gesellschaft verwirklicht werden.

    2. Biologistisches Denken — also das sich Berufen auf die "Autorität der Natur", um daraus Regeln und Ordnungen gesellschaftlicher Kommunikation herzustellen. Das heißt, biologistisches Denken, genauso wie Glauben und Spiritualität werden oftmals als Wissenschaft ausgeben.

    3. Das Verkünden eines neuen Zeitalters, das einerseits durch eine neue kosmische Konstellation, andererseits durch einen Bewußtseinswandel der Menschen anbrechen wird.

    4. Frauen bzw. das weibliche Prinzip werden zum welt- und menschheitsrettenden Prinzip erhoben. Die jahrhundertelange Unterdrückung der Frauen wird in ihr Gegenteil gekehrt — jedoch mehr auf der ideologischen Ebene denn auf der real-materiellen.

Esoterik — ein von Linken ignoriertes Massenphänomen

Die Esoterik-Bewegung stellt ein Massenphänomen dar, das in seiner gesellschaftlichen Bedeutung durchaus mit der 68er-Bewegung zu vergleichen ist. Was jedoch höchst erstaunt, ist, daß die Linke, insbesondere linke kritische Wissenschaft, dieses Phänomen in ihren Analysen weitgehend ausgespart hat. Große Teile der Linken sind nahtlos zur Esoterik übergewechselt, und die Restlinke hat sie rechts liegengelassen.

Die wenigen kritischen Arbeiten, die es zur Esoterik gibt, rekrutieren sich meist aus folgenden:

    1. Solchen, die die "falsche" Esoterik oder den rechten Rand der Esoterik kritisieren, um der "richtigen, der guten" zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu gehören sowohl bürgerliche als auch linke bzw. ehemals linke WissenschaftlerInnen, und allen voran die kirchlichen Esoterik-KritikerInnen. Letztere waren in den 80er Jahren die ersten, die über die Esoterik-Bewegung publizierten. Die Kritik der offiziellen Kirchen ergibt sich logisch aus ihrem Konkurrenzverhältnis zur Esoterik-Bewegung.

    2. Solchen Arbeiten, die sich auf das Aufspüren von personellen und organisatorischen Verquickungen zwischen Esoterik und Rechtsextremismus beschränken. Denunziation steht hier meist im Vordergrund. Oftmals wird auch der Faschismusvorwurf erhoben.

    (Der Faschismusvorwurf an die Esoterik ist jedoch das Resultat allzu vereinfachenden Denkens: Da sich Geschichte nicht wiederholt, kann sich auch "der Faschismus" nicht wiederholen. Egal, ob Jörg Haider oder die Esoterik: das Gefährliche ist weniger das Faschistische an ihnen, sondern vor allem das mit dem historischen Faschismus Unvergleichbare — was aber keineswegs ihre Problematik mindert. )

    3. Solchen Arbeiten, in denen — auch von Linken — Esoterik in erster Linie zum Gegenstand moralischer Abqualifikation gemacht wird. Sie stellen der "bösen" Esoterik die "gute" Demokratie gegenüber. Sie stimmen ein in das allgemeine Klagen über Politikverdrossenheit und gesellschaftliche Regression.

Eingehende Analyse der esoterischen Inhalte, der gesellschaftlichen Ursachen und Zusammenhänge interessiert wenig.

Esoterik ist rationale Irrationalität in Zeiten irrationaler Rationalität

Esoterik ist neben Populismus, Nationalismus und Fundmentalismus eine Folge der krisenhaften Verfaßtheit unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, das heißt Folge unserer marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, und nicht — wie von Linken meist postuliert — ihr "böses" Gegenteil. Esoterik ist vielmehr die Auswirkung der Verhältnisse, in denen wir leben. Nicht Irrationalismus, rechtes Gedankengut oder der rechte Rand brechen in die gesellschaftliche Mitte ein, sie sind auch nicht Angriffe auf Vernunft, Freiheit und Aufklärung — wie oft bedauert wird -, sondern vielmehr eine Folge der Verhältnisse in eben dieser gesellschaftlichen Mitte. Diese Verhältnisse sind wiederum das Resultat der Aufklärung. 1

In gewisser Hinsicht ist Esoterik die bloße Fortsetzung der Verhältnisse im Kapitalismus: Am deutlichsten ist das an zwei Merkmalen erkennbar: erstens am esoterischen Paradigma "Jede und jeder sei für all ihr Glück und sein Leid selbst verantwortlich; ja, alles, was dir geschieht, du alleine bist deines Glückes oder Unglückes Schmied. " Dieses Paradigma wird auch oft mit jemandes Karma begründet. Hier wird ganz einfach die allgemeine Individualisierungstendenz in unserer Gesellschaft auf die Spitze getrieben.

Ein zweiter Punkt, der das verhaftet Sein in den gegebenen Verhältnissen aufzeigt, ist der Konsum- bzw. Geschäftsaspekt der Esoterik. Esoterik ist neben einer bestimmten Weltanschauung vor allem ein Konsumartikel: Der Markt an Büchern, Zeitschriften, Seminaren, Therapien und Reisen boomt nach wie vor. Für viele ist Esoterik in erster Linie eine Einkommensquelle.

Wenn ich also konstatiere, Esoterik sei eine Auswirkung der kapitalistischen Verhältnisse, heißt das aber nicht nur, daß sie eine Fortsetzung dieser Verhältnisse ist, sondern sie ist auch insofern eine Auswirkung, indem sie durchaus auch eine Form der Gesellschaftskritik darstellt. Die vielbejammerte Politikverdrossenheit kann auch emanzipatorischen Gehalt haben. Eine der Ursachen für die Esoterik-Bewegung ist der Versuch, aus den menschenzerstörenden Zwängen auszubrechen. Dieser Versuch ist jedoch zum Scheitern verurteilt, weil er in eine bzw. in zwei falsche Richtungen läuft: Einerseits zurück in voraufklärerische Zeiten, in denen laut Esoterik die Welt noch in Ordnung, nämlich in göttlicher Ordnung war. Anderseits gibt es auch Tendenzen in der Esoterik, die einfach die kapitalistische Entwicklung fortschreiben und verstärken. Etwa indem behaupetet wird, eine atomare Zerstörung der Erde diene der schnelleren Verwirklichung des Neuen Zeitalters, oder die Gentechnik diene der Schaffung des Neuen Menschen, oder die erhöhte Strahlung aufgrund des Ozonlochs diene dem besseren geistigen Austausch mit anderen Zivilisationen. Die aktuelle Interpretation von Cyborgs als neues revolutionäres Subjekt durch Linke ist letzterer Tendenz nicht unähnlich.

Zusammengefaßt: Esoterische Ideologien sind rationale Irrationalität, also eine Reaktion auf die irrationale Rationalität unserer Verhältnisse. 2 Auslösendes Moment mögen durchaus kapitalismuskritische Gefühle sein, jedoch gibt es in der Esoterik keinerlei fundierte Kapitalismusanalyse, und die Kritik, die vorhanden ist, wird sogleich zu einem Zurück vor die Aufklärung. Letztlich geht es um eine einzige große Sinn- und Trostveranstaltung, die aus einfachen Welterklärungsmustern und Rechtfertigungen von Unmenschlichkeit und Leid besteht. Das Aushalten von Widersprüchen, sowie offensive Gesellschaftskritik, die die kapitalistische Systemüberwindung zum Ziel hat, ist nicht Gegenstand der Esoterik. Ganz im Gegenteil: es handelt sich um hilflose kurzschlüssige Überreaktionen angesichts der großen Unsicherheiten und Verunsicherungen, denen jedes Individuum heute ausgesetzt ist.

Beispiele esoterischer Inhalte in linker Wissenschaft

Die große Sinnkrise, die die Entstehung der Esoterik-Bewegung bedingt, hat auch vor Linken nicht halt gemacht. Unter dem "kritischen Potential" — also unter Linken, Grünen, SozialdemokratInnen, Alternativen, linken WissenschaftlerInnen etc. — haben sich esoterische Inhalte genauso etabliert bzw. Inhalte, die durch die Esoterik-Bewegung (wieder) en vogue wurden, wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen auch.

(Auf den spirituellen Ökofeminismus, der ein umfassendes Ideologem darstellt, das bis weit in die linke Frauenbewegung hineinreicht bzw. zu dem viele linke Frauen übergewechselt sind, sei an dieser Stelle nicht eingegangen. Vgl. dazu meinen Buchbeitrag "Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie"3)

Spiritualität/Religion

Neuerdings verteidigen viele Linke Religion vehement oder sie entdecken Spiritualität als (ihren) neuen Lebensstil. Spiritualität ist in den letzten Jahren zu einem weitverbreiteten Allheilmittel avanciert. Sie fehlt in keinem Bereich — sei es bezüglich des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität, sei es bezüglich Ökologie, sei es im Management, oder sei es in der Wissenschaft generell.

Religion und Spiritualität wird von vielen Linken ontologisch betrachtet, das heißt als etwas, das es immer geben wird. Anstatt das Bedürfnis nach Religion und Spiritualität zu analysieren, setzen sie ihre Notwendigkeit voraus. Analyse des neuen religiösen und spirituellen Booms ist in ihren Augen eine generelles Warnen vor Religion. Das heißt, sie fühlen die Religion in ihrer Daseinsberechtigung bedroht.

Religion und Spiritualität sind jedoch in unserer Welt, in der die ökonomischen "verschleierten und verkehrten Verhältnisse" (Marx) auch vor dem Bewußtsein nicht halt machen, genauso ein notwendiges Mittel zur Alltagsbewältigung wie der von Marx sogenannte "Gesunde Menschenverstand" oder das "Alltagsbewußtsein". Religion und Spiritualität sind kein angeborenes Bedürfnis, wie immer mehr Linke behaupten.

Religion und Spiritualität gehören genauso wie auch Politik und Recht zu den fetischisierten Kommunikationsformen, weil direktes miteinander in Beziehung Treten — ohne Angst, ohne Konkurrenz, ohne Charaktermasken — noch nicht möglich ist. 4

Der Erde/der Natur wird Subjektcharakter zugeschrieben

Viele linke WissenschaftlerInnen vertreten nunmehr die einst typische These der Esoterik, die Erde sei ein lebendiges Wesen. Man stützt sich auf die Gaia-Hypothese von James Lovelock, auf die autopoietische Ansätze von Maturana und Varela oder auf die Theorie von den morphogenetischen Feldern von Rupert Shaldrake.

Der Natur wird Subjektcharakter zugeschrieben. Wozu dient eine "Verlebendigung" der Erde? Aus den einschlägigen Arbeiten geht unumwunden hervor, daß die These von der lebendigen Natur — sei sie nun eine Tatsache oder nur eine Annahme oder eine Metapher — dazu diene, um die bedrohte Natur als schützenswert zu erachten. So verwundert es auch nicht, wenn der Erde oftmals menschliche Züge — also die Fähigkeit des Denkens und des Leidens — zugeschrieben werden. Um drohende ökologische Katastrophen zu vermeiden, müsse die sogenannte "natürliche Ordnung" befolgt werden.

Mit der These vom Subjektcharakter der Natur begibt man sich auf gefährliches Glatteis. Sie birgt alle Gefahren des Biologismus. Wenn die Natur oder der Kosmos vermeintliche Handlungsanleitungen liefern, kann in diese — vom Menschen klarerweise — alles und jedes hineininterpretiert werden. Natur ist jedoch frei von Denken. Sie ist das, "was aus sich entsteht und in sich vergeht. " "Sie bleibt bei sich. Sie hat kein Ziel, das nicht auch Anfang ist. " Der Mensch ist über die Natur hinausgegegangen. Er ist "Teil und Gegenteil der Natur". 5

Es gibt keinen Grund, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Natur, Pflanzen und Tieren einerseits und dem Menschen und der Gesellschaft andererseits aufzugeben. Dasselbe gilt auch für Maschinen: Cyborgs, Tieren und Pflanzen die gleichen Rechte und dieselbe Subjekthaftigkeit wie dem Menschen zuzuschreiben, halte ich schlicht für Humbug. Noch größerer Humbug ist jedoch, zu glauben, damit menschenwürdige, herrschaftsfreie, egalitäre Verhältnisse schaffen zu können.

Die Überwindung des Kapitalismus mit all seinen mensch- und naturausbeutenden und -zerstörerischen Auswirkungen ist und bleibt eine Frage der Produktionsverhältnisse, eine Frage des Wertverhältnisses, eine Frage des Fetischismus der Warenform.

Die fehlende Liebe

Eine ganz neue Entwicklung ist das Benennen "der fehlenden Liebe" als Hauptursache für unmenschliche Verhältnisse. Hierbei werden Folgen mit Ursachen verwechselt. Etwas, das nur in menschgerechten Verhältnissen gedeihen kann — etwa Liebe -, wird als Hoffnung, besser gesagt, als Zaubermittel gegen alles Böse in der Welt gehandelt — ähnlich wie auch Spiritualität oder das weibliche Prinzip. Zitate wie folgende zeugen schlicht von magischem Denken und von der Art und Weise, wie gesellschaftliche Veränderungsstrategien gedacht werden: Mittels Liebe werden "Ziele wie Macht, Reichtum, Konsum oder Ablenkung an Bedeutung verlieren". Mittels Liebe und dem sich verbunden Fühlen mit der Natur werden "die Kategorien und die Welt des Herrschaftsdenkens verlassen werden. " Der Papst könnte es nicht besser formulieren.

Ganzheitlichkeit

Eine der weitest verbreiteten Esoterik-Ideologien — auch in linker Wissenschaft — ist die der Ganzheitlichkeit. Die Widersprüche, denen das moderne Individuum ausgesetzt ist, 6 sollen "ganzheitlich" geheilt werden. Der "Fragmentierung" des modernen Individuums, der Spezialisierung in der Wissenschaft, den symptom-zentrierten Methoden in der Medizin soll "Ganzheitlichkeit" entgegen gesetzt werden. Ganzheitlichkeit wird als noch umfassenderes Allheilmittel/Zaubermittel gehandelt als Spiritualität oder Weiblichkeit. Ein neues ganzheitliches Weltbild soll das alte mechanistische-rationale, das die Ursache alles Bösen in der Welt darstellt, ablösen und so Sinn und Heil stiften.

Nach philosophischen und historischen Hintergründen fragt niemand. Das würde die gesuchte Harmonie stören. Mit eisener Konsequenz wird auf jegliches Definieren, Herleiten oder Hinterfragen dieses Begriffs verzichtet. Er wird auch von Linken weitgehend in stiller Übereinstimmung mit der Verwendung in der Esoterik gebraucht. Diese stellt einen eindeutigen Rekurs auf lebensphilosophische Denkmuster und konservative Kultur- und Zivilisationskritik dar. Ausgangspunkt ganzheitlicher Ansätze ist "eine rational unerklärbare schlechthin ‚daseiende‘ Ganzheit, deren ‚Urgründe‘ wissenschaftlich nicht zu erhellen, sondern nur durch das Leben selber zu erfahren seien. "7 Von Intuition ist in diesem Zusammenhang oft die Rede, als eine "selbstverständliche Kategorie menschlicher Wahrnehmung", der nicht nur im Gefühlsbereich zu folgen sei, sondern auch in der Wissenschaft. Vor allem auch "die Liebe" , "das Weibliche" oder die Spiritualität sollen nunmehr zu wissenschaftlichen Kategorien, bzw. in die Wissenschaft integriert werden. Wie im Biologismus versucht wird, das Ideologische wissenschaftlich zu stylen, so wird auch versucht, den Begriff "Ganzheitlichkeit" zu verwissenschaftlichen. Wie kein anderer hat C. G. Jung mit seiner Archetypenlehre, in der der Seelenkern "die Sphäre der Ganzheit, des unverdorbenen Sinns, " darstellt, dazu beigetragen, "Seelenanalyse und Weltanschauung zu vereinen, " und den "Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und den Durst nach Sinn gleichermaßen zu befriedigen". 8 (Linke machen sich nicht einmal die Mühe, auf den Totalitätsbegriff von Lukács einzugehen. Es fehlt jegliche Begriffsanalyse. )

Christoph Türcke ist der einzig mir bekannte, der eine (wert-)kritische Analyse des Ganzheitsbegriffs im Sinne Jungs bzw. der Esoterik, der auch von vielen Linken übernommen wurde, erarbeitet hat. "Jungs Lehre krankt an der Zivilisation, deren Dekadenz sie heilen will. Und sie leidet nicht an ihrer Krankheit. Sie richtet sich gemütlich ein in der Welt, aus der sie hinauszuführen meint. Ihr Programm der Ganzheitlichkeit, das den Menschen zu seinem Ursprung zurückbringen soll, steht an der Spitze des Fortschritts: in tiefem Einklang mit der totalitären Tendenz der warenproduzierenden Gesellschaft, Dinge und Menschen als Objekte von Kauf und Verkauf bis zur Indifferenz einander anzugleichen und zur ‚irrationalen Vereinigung der Gegensätze‘ (Jung) zu zwingen. Die Archetypen sind denn auch keine archaischen Urbilder, sondern moderne Wunschbilder. Sie versprechen sichere Seelenführung, wenn man sie nur gewähren läßt, geben religiösen Sinn, ohne auf eine bestimmte Religion zu verpflichten, bieten eine in sich gerundete Weltanschauung, ohne sich metaphysisch festzulegen. "9 Ganzheitlichkeit ist genauso wie Spiritualität oder biologistisches Denken mit jedem beliebigen Inhalt füllbar. Das Ziel ist, "einen Sinn überhaupt — welchen Inhalts auch immer" zu stiften, den "der moderne Mensch braucht, um es in der pluralistischen, auf keinen vernünftigen Endzweck ausgerichteten Gesellschaft auszuhalten". 10 "Ein solches Überhaupt leistet, was keine starre Konfession vermag: Es erhält ebenso stabil wie flexibel, ebenso selbständig wie autoritär fixierbar. "11

Ganzheitlichkeit ist wie die Warenform selbst ein abstraktes Prinzip. Während ersteres jedoch ein Wunschbild ist, ist letzteres bittere Realität. "Dies Bedürfnis zur religiösen Urgegebenheit verklären und sich zum Instrument seiner Befriedigung machen, statt an ihm das halbherzige Unbehagen in der Kultur zu studieren, das sich schon mit Placebos beruhigen läßt und des geistvollen Opiums großer Theologie gar nicht mehr bedarf, jene lauwarme Erlösungssehnsucht, die eine andere Welt als die, über die sie klagt, gar nicht mehr ernstlich will — das heißt der Psychoanalyse (und der Gesellschaftskritik, M. W. ) die Möglichkeit abschneiden, die seelische Verfassung der Gegenwart als Resultat der warenproduzierenden Gesellschaft zu begreifen, die der Ware Arbeitskraft nicht nur den Sinn ihres Daseins vorenthält, sondern auch den Wunsch nach einem Zustand, wo es anders wäre, verblassen läßt. "12

Linke Gründe für das Massenphänomen Esoterik

Ein wesentlicher Grund für das Massenphänomen Esoterik liegt auch in der Tatsache begründet, daß die Linke heute wenig gesellschaftliche Relevanz hat. Und ein wesentlicher Grund für die geringe gesellschaftliche Relevanz der Linken ist, daß sie keine emanzipatorischen Perspektiven aufzeigt, sondern in historisch Überfälligem verhaftet ist. Es greift viel zu kurz, Kapitalismus als Klassen- und Interessensgegensatz anstatt als fetischisierte gesellschaftliche Totalität zu verstehen, in der die sozialen Beziehungen der Menschen nur verdinglichte sein können. Anstatt der defensiven Haltung der Linken sind radikale Analyse, offensive Kritik und systemüberwindende Perspektiven vonnöten. Der kapitalistische Nerv muß getroffen werden — also Wert, Ware, Geld, Lohnarbeit, Staat, Recht, Politik, Nation und Demokratie. Aufklärung und Demokratie sind keineswegs das Ende emanzipatorischer Entwicklung, sondern historische Gegebenheiten, über die hinausgedacht werden muß. Sie können aus historischen Gründen nicht mehr einer Emanzipation dienen. Am deutlichsten wird dies wohl am Beispiel der Lohnarbeit sichtbar.

Der Glaube eint Linke und EsoterikerInnen

Die Linke ist weitgehend genauso dem Glauben verhaftet wie EsoterikerInnen und Spirituelle. Linke glauben an die Möglichkeit von menschenwürdigem Leben innerhalb des Kapitalismus, wenn — wie sie betonen — "alle nur wollen täten". Oder sie glauben an die Durchsetzbarkeit von "Gerechtigkeit" per Gesetz. Sie glauben, menschenwürdige Verhältnisse wären eine Frage des subjektiven Wollens, eine Frage des Bewußtseins der Menschen. Sie erkennen nicht, daß diesem subjektiven Wollen die objektiven ökonomischen Verhältnisse entgegenstehen. Sie erkennen nicht, daß Ausbeutung von Mensch und Natur dem Kapitalismus immanent ist und immer immanent sein wird. Dagegen hilft auch keine neue Welt-Ethik, keine Liebe und auch keine Cyborgs.

Da Glaubensinhalte leicht gewechselt werden können, braucht es nicht zu verwundern, wenn ehemalige Linke heute der Marktwirtschaft huldigen, oder wenn viele ehemalige dogmatische Linke nunmehr zur Esoterik "konvertiert" sind. Ein Glaubensinhalt wurde einfach durch einen anderen ersetzt.

Anmerkungen

    1 Vgl. Maria Wölflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen, in: El Awadalla: Heimliches Wissen — unheimliche Macht, Wien/Bozen 1997.

    2 Vgl. Volkmar Sigusch: Vom Trieb und von der Liebe, Frankfurt 1984, S. 158.

    3 Maria Wölflingseder: Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie, in: Renate Bitzan (Hg. ): Rechte Frauen, Berlin 1997.

    4 Vgl. Franz Schandl: Fetisch Religion. Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unüberwindbaren, in: "Weg und Ziel" 5/1996.

    5 Franz Schandl: Stichwort "Natur", in: Siegfried Grubitzsch, Klaus Weber (Hg. ): Psychologische Grundbegriffe, Reinbek bei Hamburg, 1998, S. 365.

    6 Vgl. Maria Wölflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen, a. a. O. , S. 187ff.

    7 Monika Leske: Philosophen im Dritten Reich, Berlin 1990, S. 135.

    8 Christoph Türcke: Denker der Zukunft. C. G. Jungs Archetypenlehre, in: Christoph Türcke: Gewalt und Tabu, Lüneburg 1992, S. 91.

    9 Ebd. , S. 106

    10 Ebd. , S. 107

    11 Ebd. , S. 107

    12 Ebd. , S. 107f.