Nation

„Wer den Patrioten des anderen Landes für einen Lumpen hält, dürfte ein Dummkopf des eigenen sein.“ (Karl Kraus)

von Franz Schandl

I. Der Begriff der Nation

„‚Nation‘ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an.“

Das schreibt Max Weber, und es ist ihm hier uneingeschränkt beizupflichten. Nation ist keine objektive Kategorie. Definitionen, die nach dementsprechenden Kriterien (z.B. klassisch bei Otto Bauer oder Josef Stalin) suchen, müssen scheitern. Nation setzt allemal Bekenntnis voraus.

Nationen haben keine ethnische Substanz – auch wenn sie es oft von sich behaupten -, sie sind Folge der Herrschafts- und Kräfteverhältnisse in einem Gebiet zu einer bestimmten Epoche. Sie sind geschichtlich einordbar, primär zugehörig dem bürgerlichen Staat der aufsteigenden Epoche des Kapitals. „Nation – Terminus wie Sache – sind jungen Datums. Eine prekäre zentralistische Organisationsform sollte die diffusen Naturverbände nach dem Untergang des Feudalismus zum Schutze der bürgerlichen Interessen bändigen. Sie mußte sich zum Fetisch werden, weil sie anders die Menschen nicht hätte integrieren können, die wirtschaftlich ebenso jener Organisationsform bedürfen, wie sie ihnen unablässig Gewalt antut.“ (Adorno)

Mit dem Begriff Nation reflektieren wir also nur einen kleinen Ausschnitt der Menschheitsgeschichte. Sie ist keine ontologische Kategorie, sie wurzelt weder in eingrenzbaren oder genau bestimmbaren Stämmen und Sippen, noch ist sie für die Zukunft ein gültiges und zuträgliches Konzept menschlicher Kommunikation. Das Nationale verflüchtigt sich in der Zeit, ebenso wie es sich zu Beginn des Kapitalismus verdichtete. Womit wir es heute zu tun haben, sind Ablagerungen vergangener Tage, wenngleich die subjektiven Überträger dieses späten Nationalismus ihren historischen Abgang in ungustiöser und tollwütiger Manier veranstalten.

Nationen sind also geworden und können somit auch wieder vergehen. Sie sind nicht eherner Bestandteil der menschlichen Geschichte, sie sind Ausformung, nicht Voraussetzung geschichtlichen Wirkens. Selbst die Namensbezeichnung, die sich für eine bestimmte Gemeinschaft durchgesetzt hat, ist oft bloß Folge regionaler Dominanzen, ja Zufällen: die Franzosen hätten genausogut Burgunder werden können, wie die Österreicher zu Steirern. Zu Beginn des Hochmittelalters war da noch nichts entschieden. Keinem Steirer wäre damals eingefallen, ein Österreicher zu sein, kein Burgunder sah sich als Franzose.

Nationen sind historische Gebilde. Die Vorformen der Nationsbildung sind in der embryonalen Staatswerdung im Hochmittelalter (vor allem Frankreich, England) und später im Absolutismus anzusetzen. In Westeuropa wurde die Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert bzw. mit Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend abgeschlossen. Alles, was später kommt, sind nur noch nachholende Versuche unter gänzlich anderen Bedingungen, nämlich jener des durchgesetzten Weltmarktes und des bereits einsetzenden Zerfalls des Nationalstaats. Die internationale Kapitalherrschaft hat heute alle nationalen Schranken relativiert, ja niedergerissen. Das ist auch mit ein Grund, warum Politik sich nicht mehr weiter primär im Nationalstaat gestalten kann, die Internationalisierung, ja Auflösung der national orientierten Innen- und Außenpolitik fortschreitet.

So gesehen sind die Kämpfe in Osteuropa um territoriale Souveränität, aber auch die nationalen Befreiungskriege in der sogenannten Dritten Welt objektiv bloß Karikaturen, späte Persiflagen längst vergangener Tage, so verständlich die Ansprüche der sie tragenden Subjekte auch sein mögen. Sie blamieren sich auch nicht in ihren Absichten, stets aber an ihren Zielen. Sie können nicht mehr, was sie wollen. Selten waren Kämpfe so illusionsbeladen wie diese.

II. Staat und Nation

Die Nation ist an den Staat gekoppelt oder zumindest an Einen-Staat-Haben-Wollen. Eine Bevölkerung konstituiert sich durch die Staatsunterworfenheit als Nation bzw. als Volk. Staaten schaffen Nationen, haben erstere Bestand, dann auch letztere. Hier wäre auch die Differenz zwischen Nation und Nationalität (bzw. zwischen Volk und Völkerschaft) dingfest zu machen. Nation bedeutet realer Staat, Nationalität imaginärer Staat. Das Wesenskriterium der Nation ist letztendlich der Staat. Alle anderen Kriterien (Sprache, Sitte etc.) bleiben sekundär, das heißt sie halten nicht, was sie empirisch versprechen. Wann immer wir über die Nation nachdenken, stoßen wir auf den Staat. Er ist sie.

Der Staat ist eine Realabstraktion, die Nation eine Gedankenabstraktion. Was aber weiters heißt, daß mit letzterer viel mehr „Staat“ zu machen ist als mit ersterem, da dieser in seinen Wirkungen real ist, jene bloß ein Mythos, bei dem einem warm werden soll. Die Nation ist das Vorgeschobene.  WIR in allen seinen Deklinationen ist ihr zentrales Fürwort: „unsere Wirtschaft“, „unsere Demokratie“, „unsere Schinationalmannschaft“ lauten die realen Übersetzungen. Dieses unreflektierte WIR unterstellt eine zwangsfreie und selbstverständliche Schicksalsgemeinschaft. Deren Leistungen können als Substitute persönlichen Glücks gelten. Solch archaischer Glaube an das Gemeinsame hat durchaus religiösen Charakter, was auch erklärt, daß etwa die historischen Deutschnationalen zu den ersten gehörten, die die traditionelle Sinnstifterin Religion als Basisprinzip in Frage stellten und sie durch die Nation ersetzten.

Die Nation, die gibt es nur im Gefühl, sie ist eine Einbildung. Aber dieses Gefühl läßt einen nicht los, es ist so stark, daß es zu einem realen Faktor wird. Nation ist die reale Fiktion, in die der Staat seine Bürger zwingt. Aus dem Müssen der Unterworfenen muß jedoch ein Wollen werden. Nation meint die pathetische Überhöhung des Staates, sie ist dessen außerinstitutioneller Geist. Sie ist das, was den Bürger freiwillig an den Staat binden soll. Das scheint der Vorteil gegenüber anderen Bezügen (Recht, Sitte, Moral) zu sein. Diese üben Druck aus, während die Nation diesbezüglich unschuldig erscheint. Nichs soll ihr angelastet werden, was sie fordert gleicht einer „natürlichen“ Pflicht. In der Nation glaubt man sich zwangsfrei wiederfinden zu können. Das durch sie Aufgeherrschte erscheint selbstverständlich und vorgegeben, ja noch stärker: angeboren.

Der Nationalismus baut auf einem identitären „Wir-Gefühl“, er setzt auf Abgrenzung nach außen. Alles Fremde ist ihm außen, und alles Äußere ist ihm fremd. Der Fremde hat daher draußen zu bleiben: Das Nahe ist einem näher, weil es nahe ist, das Ferne ist einem ferner, weil es ferne ist. Das eine ist da, das andere ist weg. Ist auf einmal da, was normal weg ist, reagiert der Bürger mit Entsetzen, ohne sich freilich zu fragen, warum es auf einmal da ist. Daß die Ferne kommt, erfährt er nicht als objektive Gesetzmäßigkeit, sondern als subjektive Böswilligkeit der Anderen, die es abzuwehren gilt. Sie sollen daher das Weite suchen, und das in einer Epoche, wo das Kapital sie geradezu anzieht.

Der Rassismus, womit die gezielte und bewußte Abwertung anderer Völker gemeint ist, kann nur als eine logische Zuspitzung des Nationalismus verstanden werden. Der Rassismus als besonders aggressive Form des Nationalismus kennt idealtypisch zwei Ausformungen: die defensive Variante der Ausgrenzung und Abschiebung, und die offensive Variante der Bekriegung und Ausmerzung.

Durch die Nation kommt der Staat zu uns, wie wir zu ihm, ohne es bewußt wahrzunehmen. Sie ist seine mythische Rückbezüglichkeit. Am deutlichsten offenbart sich dies im Krieg und seinem bedeutendsten Surrogat, dem Leistungssport unter der jeweiligen Nationalflagge und Nationalhymne. Nicht zufällig heißen die Staatsmannschaften Nationalmannschaften, die Staatsliga Nationalliga und die Staatsmeisterschaften Nationalmeisterschaften.

Was für die Nation gilt, gilt selbstverständlich auch für das Volk. Ein Volk ist eine Bevölkerung zu einer bestimmten Zeit in einem begrenzten Raum unter einer dezidierten Herrschaft. Das Volk ist nur als Staat herstellbar, bzw. als eine Gruppe, die einen Staat haben will, vorstellbar. Die allgemeine Ideologie eines Volkes ist die Verkündigung seiner Besonderheit. „Jede nationale Gemeinschaft mußte zu irgendeinem Zeitpunkt als ein „auserwähltes Volk“ dargestellt werden“, schreibt Etienne Balibar. Die frühen Wurzeln hievon finden sich übrigens in den grundlegenden jüdisch-christlichen Schriftzeugnissen.

Diese Besonderheit, die sich durch Absonderung, sowohl von den anderen, als auch der anderen, konstituiert und konsolidiert und eben eine neue Einheit, den Nationalstaat zu schaffen hatte, ist historisch notwendig wie sinnvoll gewesen. Das Volk kam durch die Nation als Staat zu sich. Aber Volk, Staat und Nation sind keine Endpunkte, kein Ruhekissen, auf dem die Menschheit ausruhen kann. Wer sich heute zu ihnen bekennt, bekennt sich zur Vergangenheit, nicht zur Zukunft. Wer heute meint, den abgeschmackten Kanon „Wir sind ein Volk!“ mitsingen zu müssen, hat wenig verstanden von den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Ein abstrakter und enthistorisierter, also positiv affirmierter Volksbegriff ist daher letztendlich völkisch.

Was ist das nun eigentlich, ein Deutscher? – Nichts anderes als ein deutscher Staatsbürger oder einer, der es werden will. Der ansässige Sproß eines chinesischen Vaters und einer nigerianischen Mutter ist ein „reinrassiger“ Deutscher. Alles andere ist rassistischer Quatsch. Das Wesen des Deutschen liegt in der Staatsbürgerschaft, so sehr die äußere Erscheinung auch abweichen mag. Deutsche sind jene, die im Staatsgebiet herumvölkern, dem Rechts-, Steuer- und Gewaltmonopol unterworfen sind. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Menschen sind Ausgeburten, keine Eingeborenen. Die Abstammung ist nichts anderes als ein rassistischer Mythos. Der konkrete Mensch hat Wurzeln, keinen Stamm. Der bornierte Nationalist würde sich wundern, wüßte er, wer durch die Jahrhunderte alles für ihn herumgevögelt hat, damit er in seiner konkreten Existenz überhaupt erst zu sich kommen konnte. Ekeln müßte ihn vor diesem Potpourri der Völker und Stämme, der Nationalitäten und Religionen, die ihn da ganz unabsichtlich genetisch kreierten. Der rassistische Biologismus blamiert sich also schon an seinen Exemplaren.

III. Identifikation und Identifizierung

Nation meint Abgrenzung politischer Herrschaftsgebiete basierend auf eben nationalökonomischen Einheiten. Sie kennt Identität – sich selbst – und Nichtidentität – die anderen. Diese Identität ist jedoch keine fixe Kategorie, sondern eine labile Konfiguration in Raum und Zeit. Die verschiedentlich sonst vorgebrachten Merkmale (Sprache, Religion, Sitte, Kultur, Psyche) sind bloß Momente, aus denen sich das Abgrenzungs- und Ausgrenzungspotential speist, sie sind nicht a priori vorgegeben, sondern zugegeben. Sie sind der unwesentliche Zusatz, auch wenn sie auf der Ebene des Scheins als konstituierende Größen wahrgenommen werden. Die Nation hat ihr Wesen nicht in sich, sondern außer sich.

Nationalismus ist jene Haltung, wo es gelingt, die reale Staatsunterworfenheit in eine bejahende Identifizierung umzuwandeln. Nationalismus ist somit sinngemäß das offene Bekenntnis und das entschiedene Eintreten für die Nation. Die Staatsidentifikation ist etwas faktisches, rationales und daher als Mobilisierungsfaktor nur bedingt brauchbar. Der Staat ist zu griffig, in seinen Handlungen zu wirklich, um geliebt zu werden. Die nationale Identifizierung ist hingegen etwas Mythisches und Irrationales. Aus der realen Gehörigkeit versucht der Nationalismus eine bedingungslose Hörigkeit zu formen.

Wir unterscheiden daher zwischen Identifikation und Identifizierung. Identifikation bedeutet Erkenntnis von etwas; Identifizierung bedeutet Bekenntnis zu etwas. „Ich bin Österreicher“, „ich bin Deutscher“, „ich bin Italiener“ kann also verschiedentlich aufgelöst werden. Der gleiche Satz stellt einmal nüchtern fest, was Staatsbürgerschaft ist, im anderen Fall konstruiert und konstituiert er eine Übereinstimmung mit dem Zugehörigen. Aus einem Da-Zu wird ein Ja-Zu! Identifizierung meint Übereinstimmung des Subjekts mit seinen objektiven Rollen, Identifikation meint hingegen nur die krude Einstimmung derselben aufeinander, sie ist als gesellschaftlich aufgeherrschte Bezüglichkeit dechiffrierbar, somit auch ob ihres Charakters der Hinterfragung zugänglich.

Mit der Identifizierung setzt sich eine distanzlose Ideologisierung der Identifikation durch, um sich schlußendlich als Identität behaupten zu können. Identifizierung überführt objektive Identifikation zur subjektiven Identität. Identität ist dann das metaphysische Ziel der Identifizierung, Identifikation bloß die notwendige Vorbedingung. Durch die positiv gesetzte Identifizierung soll jede Relativierung und Kritik der Identität ausgeschlossen werden.

Jede Bestimmung ist Identifikation, aber nicht unbedingt Identifizierung. In diese schlüpft noch ein mächtiger Treibsatz, der eben reflektiertes Erkennen in unreflektiertes Bekennen deformiert, nicht den Gedanken erleben, sondern die Gesinnung ausleben will. Aus der Gehörigkeit wird eine Hörigkeit.

Seit Freud wissen wir, daß die Sucht nach der Identität stets gepaart ist mit der Verdrängung des Nichtidentischen. Identität und Nichtidentität stehen also vielmehr in einem dialektischen Zusammenhang, können nicht säuberlich voneinander gelöst werden, sondern sind nur Momente ein und derselben Bestimmung. Über diesen unbedingten Zusammenhang von Identität und Nichtidentität schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Dieser Satz in seinem positiven Ausdrucke A = A ist zunächst nichts weiter als der Ausdruck der leeren Tautologie. Es ist daher richtig bemerkt worden, daß dieses Denkgesetz ohne Inhalt sei und nicht weiterführe. So ist es die leere Identität, an welcher diejenigen festhangen bleiben, welche sie als solche für etwas Wahres nehmen und immer vorzubringen pflegen, die Identität sei nicht die Verschiedenheit, sondern die Identität und die Verschiedenheit seien verschieden. Sie sehen nicht, daß sie schon hierin selbst sagen, die Identität sei verschieden von der Verschiedenheit; indem dies zugleich als die Natur der Identität zugegeben werden muß, so liegt darin, daß die Identität nicht äußerlich, sondern an ihr selbst, in ihrer Natur dies sei, verschieden zu sein.“

Oder einfacher: Der Fremde ist fremd in der Fremde. Der Fremde ist heimisch in der Fremde. Der Einheimische ist fremd in der Fremde. Jeder Inländer ist ein Ausländer. Jeder Ausheimischer ist ein Einheimischer. – Das sind Aussagen, die weiterführen, uns nicht in der öden Tatsächlichkeit verharren lassen.

IV. Rückschritt und Fortschritt

Wie ein konkreter Nationalismus einzuschätzen ist, ist eine Frage von Zeit und Raum, in denen er sich entfaltet. Die Unterscheidung, ob der Nationalismus progressiv ist oder nicht, läßt sich jedoch nicht ausschließlich daran messen, ob es sich bei ihm um einen Befreiungs- oder einen Beherrschungsnationalismus handelt. Es kann auch kein abstraktes Bekenntnis zu einem Selbstbestimmungsrecht der Völker geben. Die selbstbestimmte Nation ist eine antiquierte Formel. Sie macht Sinn als bürgerliches Etappenziel, aber keinen als sozialistische Forderung. Gerade Lenin, der immer wieder als entschiedener Vertreter des Selbstbestimmungsrechts herhalten muß, hielt explizit wider jedwedem bürgerlichen Nationalismus fest: „Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur die Aufhebung der Kleinstaaten, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung.“

Ausgerechnet dann, wenn sich nach den Nationalökonomien auch die Nationalstaaten auflösen, vorrangig nationale Politiken einzufordern, ist unsinnig. Was als taktische Variante nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, verbietet sich als strategische Option. Ansteht die Aushöhlung jedweder nationaler Eigenständigkeiten und Spielräume. Dieser Standpunkt darf aber nicht mit einem nationalen Nihilismus oder einem antinationalistischen Prinzipialismus verwechselt werden. Gegen Deutschland zu sein, erscheint nicht sinnvoller als für Deutschland. So stellen nur euphorische und enttäuschte Liebhaber die Frage.

In einer Zeit, in der die Betriebsformen sich endgültig internationalisieren, die Telekommunikation die Verkehrswege vom Territorium ablöst, ganze Gebiete, dem Weltmarkt unterworfen aus dem Weltmarkt hinausfallen, das Recht immer weniger greift, das Steuermonopol der Nationalstaaten täglich weniger handhabbar, die Politik immer hilfloser und für entscheidende Interventionen gänzlich untauglich wird, in einer Zeit also wo sich der Verfall nationaler Souveränitäten abzeichnet, staatliche Unabhängigkeit als zentrale Forderung an die Fahne zu heften, ist wahrlich eine masochistische Quichotterie, die die absehbare Niederlage schon miteinschließt. Während sich objektiv die Souveränitäten sukzessive minimieren, sie subjektiv zu proklamieren, zeugt von wenig Einsicht in die Verhältnisse. Als Alternativprogramm zum Bestehenden ist das weder brauchbar noch handhabbar.

Und doch sind Nation und Nationalismus ein Zwischenglied der menschlichen Selbstfindung, eine Art Vorstufe des Internationalismus, Überwindung von Hinterweltlertum und Lokalborniertheit, regionaler Fürstenherrschaft und andauernder Kriegsbereitschaft. Um sich auf diese Zwischenstufe menschlicher Emanzipation zu erheben, mußte man sich sowohl gegenüber den kleineren als auch den äußeren Einheiten abkoppeln. Nur das Glück, das die Nation bescherte, glückt nicht mehr. Der Nationalismus hat als fortschrittliche Kraft endgültig ausgespielt. Er ist Hindernis in vielfacher Hinsicht. Er hat keine positiven Alternativen zur kapitalistischen Modernisierung und Internationalisierung zu bieten, er verkommt zu seiner reaktionären Variante derselben. Wer hier Bündnispartner sucht, wird scheitern. Die Nation ist kein überhistorischer Rahmen. Der Nationalstaat muß und wird fallen.

„Die Zeit der auserwählten Völker ist für immer vorbei!“ (Friedrich Engels) Was heute notwendig und erstmals auch wirklich möglich geworden ist, ist ein „intransigenter Internationalismus“, wie ihn etwa der Reichenberger Marxist Josef Strasser, zuerst Sozialdemokrat, dann Kommunist, dann Linksoppositioneller in seiner lesenswerten Schrift „Der Arbeiter und die Nation“ bereits 1912 forderte. Ein Internationalismus, der sich heute freilich letztendlich selbst aufheben muß, da er nicht so sehr von den den Nationen übergeordneten Interessen geprägt ist, sondern von den sie transzendierenden. Der einzige Patriotismus, der heute noch erlaubt sein darf, ist ein planetarischer. Ein Universalismus, der wirklich ernst nimmt, daß wir in bloß einer Welt leben und die gesamten Probleme nur mehr gemeinsam und nicht gegeneinander angehen und lösen können. Nationale Interessen, regionale Absicherungen, Konkurrenzfähigkeiten, optimale Wirtschaftsstandorte, betriebswirtschaftliche Rentabilitäten, das alles ist kontraproduktiv. Emanzipatorische Praxis muß sich gerade aus der nationalen Borniertheit der Politik befreien. Mit Kapitalismus und Marktwirtschaft ist da nichts mehr zu machen.

Kurzfassung aus: Gero Fischer/Maria Wölflingseder (Hg.)