ich ichtet

2000 Zeichen abwärts von Severin Heilmann

Man sagt mir also, ich bin ein Strich in der Landschaft. Existieren bedeutet herausstehen, insofern habe ich, der Strich, eine Existenz. Ich stehe heraus aus einem Ozean der Unverfügbarkeit: I – ganz wie das englische Ich, das groß tut und alleine dasteht. Im deutschen ist das i des ichs regelmäßig klein, höflichkeitshalber; das ich gibt sich bescheiden und dämpft mit seinem abschnürenden Kehllaut den ohnedies dünnen Vokal; und überzogene Erwartungen in seine Bonität gleich dazu. Der abgeschnürte Vokal erscheint also mit vom Rumpf abgetrennten Kopf – das ich denkt gerade! Hierin vollzieht es seine Ichtung: teilt Körper und Geist, ich und die andern, das Weltganze in tausend Splitter und sonst nach Möglichkeit – nichts. Aus der Mitte dieses Nichts ist es entsprungen, doch sein aufgeschwatztes Dasein ist uns traulich bekannt und wir staunen höchstens über diese Verwirklichung.

In englischer Schreibe ist der I-Strich ident mit dem der Zahl eins, denn das Ich ist Einzelkämpfer. Immerhin lässt sich ein I beliebig zu Massen aufaddieren und (so es sein muss) auch dezimieren. Trotzdem: aus noch so vielen I’s erwächst doch keine Emergenz der Geselligkeit – sie taumeln in Ich-Einsamkeiten, stoßen aneinander wie Atome der Edelgase – unfähig zu Bindungen. Anders das Dasein des Säuglings, der noch in seinem Freud’schen Bewusstseinsozean badet und nicht ahnt, dass auch er noch ein kleines ich haben oder werden soll und der keine Grenze weiß, zwischen sich und allem. Ein therapiewürdiger Zustand – später gefällt sich das ausgearbeitete Ich als sorgfältig gegen seine Welt abgegrenzt. Es liebt Zaunpfähle als Striche in der Landschaft und fürchtet sich zu Tode bei geringster Anlösung seiner scharf konturierten Demarkationslinie zum vermeintlichen Außerhalb.

Bisher galt: Die Freiheit des ichs endet dort, wo die Freiheit eines andern (ichs) beginnt. Schade! Von nun an gelte: Unsere Freiheit beginnt dort, wo die Freiheit des ichs endigt!

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