Das doppelte Ich

von Peter Klein

Die beiden Komponenten des Ich

„Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. Was Leute wie Kathrin für Individualismus hielten, entsprach in Wahrheit einem Zustand von Unterwürfigkeit. Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpause verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben.“ (Juli Zeh, Unterleuten, S. 107)

Diese Textpassage aus Juli Zehs Erfolgsroman von 2016 scheint mir der realen Situation, in der sich viele unserer freien Marktteilnehmer heutzutage befinden, durchaus nahezukommen. Vor allem fällt mir der Ausdruck „persönlicher Erfolg“ in die Augen. Er ist (wie so vieles in unserer Alltagssprache) theoretisch unscharf, trifft aber eben darin die Ambivalenz und Doppeldeutigkeit, mit der die modernen, um „Erfolg“ bemühten Individuen tagtäglich zurechtkommen müssen. Es sind nämlich zwei letztlich unvereinbare Sphären oder Seinsbereiche, die hier, als würden sie seit jeher unter einer Decke stecken, in harmlos klingender Kumpanei zusammen auftreten.

Der „Erfolg“ setzt, um als solcher gelten zu können, Kriterien von allgemeiner Gültigkeit voraus. Er ist sozusagen messbar. Wer bei der Vier-Schanzen-Tournee ein paar Meter weiter gesprungen ist als der Rest des Feldes, wer eine definierte Wegstrecke zu Fuß oder im Rennwagen schneller bewältigt hat, steht als Sieger zweifelsfrei fest. Und mit dem Erfolg bei einem Tennisturnier oder sonst im Berufsleben verhält es sich genauso. Wer den meisten Umsatz generiert, erbringt eine Leistung, von der er erwarten darf, dass sie honoriert wird. Was „oben“ oder „vorne“ ist, zählt zu den „objektiven Tatsachen“ des modernen Lebens, und das Universalmedium Geld, in dem noch jeglicher Erfolg gemessen wird, ist an objektiver Geltung nicht zu übertreffen. Die Geldsummen, über die ich verfüge, zeigen mir und meinen Mitmenschen zuverlässig, dass ich zu den „Erfolgreichen“ gehöre. Woran mag es nur liegen, dass ich nicht glücklich bin?

Diese Frage führt uns zu der Person, die sich ihren Erfolg einiges an Mühe und Anstrengung hat kosten lassen. Die jeden Tag bis zum Umfallen trainiert, geübt, gelernt und studiert hat. Die während ihrer Tournee durch 50 Städte keine zwei Nächte am gleichen Ort schlafen konnte. Die für ihre Firma von Kanada bis China ständig unterwegs ist, um die Kunden und Niederlassungen zu betreuen. Und die das ganze Jahr über ihre sogenannten Lieben kaum je oder nur flüchtig zu Gesicht bekommt – wenn sie auf ihrem Weg nach oben überhaupt die Zeit erübrigen und die Fähigkeit entwickeln konnte, andere Menschen persönlich kennen- und lieben zu lernen. Beim „persönlichen Erfolg“, das will ich damit andeuten, bleibt die Person, soweit sie das Bedürfnis nach vertrauter Nähe, Glück und Zufriedenheit empfindet, oft genug auf der Strecke. Das Traumziel ist erreicht, aber wo sind die Gefühle geblieben? Ich habe gelernt, zu kämpfen und zu rackern, aber verlernt, mich zu freuen. Und andersherum, im Falle der Katastrophe, macht sich „die Unfähigkeit zu trauern“ bemerkbar.

Als prominente Beispiele für einen Erfolg, der dem emotionalen Verhungern gleichkommt, fallen mir auf Anhieb der Skispringer Sven Hannawald („Ich war erfolgskrank“, heißt es in dem am 28.12.2017 auf ZEIT-Online veröffentlichten Interview) und die Tennisspielerin Jennifer Capriati ein. Auch Janis Joplin, die mit 27 Jahren, an der Schwelle zum Welterfolg, einsam in einem Hotelzimmer starb, nachdem sie sich eine Überdosis Heroin genehmigt hatte, ist ein schönes Beispiel für die mit dem „persönlichen Erfolg“ verbundene Problematik. Innig befreundet mit mancherlei Drogen einschließlich des Alkohols waren auch die früh verstorbenen Erfolgsmenschen Amy Winehouse, Michael Jackson und Elvis Presley. Und wenn wir die vielen missmutig blickenden Alltagsmenschen befragen würden, die uns „im Dickicht der Städte“ begegnen, könnten wir diese Shortlist zum Thema „Erfolg“ sicherlich um einige Millionen weiterer Beispiele verlängern. Freilich mit umgekehrtem Vorzeichen: Wir würden feststellen, dass der Mangel an Erfolg nicht automatisch glücklich, sondern die Minderwertigkeitskomplexe offenbar macht, die den Bewohnern der Konkurrenzgesellschaft von Kindesbeinen an beigebracht werden.

Die Person, die den Erfolgskriterien zugewandt ist, die von klein auf gelernt hat, strebsam zu sein, hungrig nach Erfolg und Anerkennung, bin ohne Zweifel ich. Aber das Objekt dieser Bemühungen, das „Material“, von dem es heißt, dass aus ihm „etwas gemacht werden“ muss – „Leben ist, was du daraus machst“ (Hugh Jackman in einem Interview zu seinem neuesten Film The Greatest Showman, SZ vom 23.12.2017) –, und das von meinem Ich im Namen der Erfolgskriterien des Öfteren drangsaliert wird, rücksichtslos bis zur Gefährdung meiner physischen Existenz, bin doch ebenfalls ich! Zwei Ichs, die in ein und demselben Körper wohnen und die es schwer miteinander haben.

Viele Redewendungen, die alle etwas mit „innerer Zerrissenheit“ und „innerer Unruhe“ zu tun haben, zeigen, dass das Bewusstsein der beiden Komponenten des Ich durchaus verbreitet ist. Das moderne Individuum möchte gerne einmal „abschalten“, mit sich „ins Reine kommen“ und sein „inneres Gleichgewicht“ finden. Die „in sich ruhende“, „ausgeglichene Persönlichkeit“ ist für viele Menschen zum Ideal geworden. „Innere Ruhe“, „Einklang“, „goldene Mitte“ – so werden heute Duschgels, Badezusätze und Kräutertees benannt. Bedauerlich nur, dass die Menschen sich so wenig wundern über die schizophrene Struktur, die dem erhofften und erwünschten Zustand zugrunde liegt.

Der Manager ist eine Abstraktion

Einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung dieser Struktur, die sich als Fleisch-Geist-Dualismus seit Plato durch die Philosophiegeschichte zieht, hat zweifellos Immanuel Kant mit dem geleistet, was man seine „Zwei-Welten-Theorie“ nennen könnte. Das der Objektivität zugewandte Ich ist bei Kant ein vom vernünftigen Denken eingenommener Standpunkt, der sich zur Wirklichkeit als zu seinem Gegenüber verhält. Es liegt aber nicht an diesem Gegenüber, sondern an diesem Ich und an der Beschaffenheit seines Denkens, dass sich ihm die Wirklichkeit so präsentiert: dinglich, in der Gestalt klar identifizierbarer Gegen-stände. Diese Gegenstände sind, anders als die Erscheinungen und Gesichte des Wunderglaubens, kommunizierbar, miteinander vergleichbar und nachprüfbar: weil und sofern das Denken bei der Verarbeitung der Sinneseindrücke in der immergleichen Weise verfährt, sie mit den immergleichen Kategorien ordnet. Was der Empirismus für die Wirklichkeit selbst hielt, die Gegenstände der Erfahrung, bedarf also, um zustande zu kommen, bereits einer Leistung des Denkens. Und erst recht ist es eine Leistung, die Gegenstände der Erfahrung nach Gesetzen der Kausalität miteinander verknüpft zu denken: als Ursache und Wirkung. Ohne die von jeder Anschauung freien Ideen der Allgemeinheit und der Notwendigkeit, die dabei die entscheidende Rolle spielen, wäre die Formulierung der Naturgesetze nicht möglich gewesen. Wegen dieses seines Sprunges ins „Jenseits der Sinne“ nennt Kant das Subjekt der Erkenntnis, ebenso die Kategorien, die es anwendet: transzendental.

Was Kant damit aufdeckt, ist eine Eigenart des neuzeitlichen Denkens überhaupt. Um im Rahmen der Subjekt-Objekt-Konstellation zu verlässlichen und allgemeingültigen Resultaten zu gelangen, muss es über das, was nicht allgemeingütig ist, über das, was wir – als „bloße Sinnenwesen“ – unmittelbar spüren und empfinden, hinweggehen oder -sehen. Mit den „Stangen und Spießen“ (Hegel) eines verselbstständigten Kategorienapparates ist die Wirklichkeit nicht wirklich zu erfassen, nicht in der Einzigartigkeit ihrer Existenz, die ja mich immer schon einschließt. Kant selbst räumt dies mit dem Hinweis auf das unerkennbare „Ding an sich“ ausdrücklich ein.

Die gleiche „Jenseitigkeit“ besitzt die Vernunft laut Kant auch in praktischer Hinsicht, auf dem „Felde der Sitten“ (Moral- und Rechtsphilosophie). Das Bewusstsein von einem eigenen Willen, das vernünftige Wesen kennzeichnet, bedeutet, dass sie ihr Ich als ursächlich verknüpft mit dem darauffolgenden Handeln denken. Wer sich aber selbst als Ursache denkt, zeigt, dass ihm die Kategorie der Allgemeinheit zugänglich ist, dass er aufgrund der Einsicht in allgemeine, gesetzliche Regelungen handeln kann. Er tritt damit heraus aus dem Ursache-Wirkungs-Geflecht, in dem er sich realiter immer schon befindet. Er gehört also nicht nur zur empirisch-kreatürlichen Welt der Bedürfnisse, sondern auch zu einer anderen, intelligiblen Welt, in der andere als die Naturgesetze gelten, Gesetze, „die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88). Als eine dauerhafte Instanz, die frei ist, nämlich vom Naturzwang, ist das Vernunft-Ich dazu fähig, nicht bloß aus Furcht oder Gier, sondern um des willen, was allgemein gilt oder gelten sollte, zu handeln (Kategorischer Imperativ). „Für die Freiheit sterben“, so lautet der Titel eines bekannten Buches über den amerikanischen Bürgerkrieg von James M. McPherson. Warum nicht auch sterben für den Markterfolg?

Heute, wo wir die gesellschaftliche Entwicklung überblicken, die seit Kant und der Französischen Revolution abgelaufen ist, fällt es nicht schwer, in dem vom Naturzwang freien „Ich will“ den Standpunkt des Warenbesitzers zu erkennen, den Marx schon zu seiner Zeit darin gesehen hat. Was Marx sich allerdings nicht vorstellen konnte, war eine Entwicklung des Kapitalismus, die schließlich alle Lebensbereiche der Gesellschaft der Ware-Geld-Logik unterwarf, sodass wir heute eine klassenlose Gesellschaft freier und gleicher Marktteilnehmer sind, in der buchstäblich jeder Mensch, Männer und Frauen gleichermaßen, als der private Eigentümer seiner selbst erscheint: „Letztlich ist der Körper das einzige, was uns wirklich gehört“ (Alicia Giménez Bartlett, FÜR SIE 3/2009). Das Paradox ist entstanden, dass ausgerechnet das abstrakte Vernunft-Ich Kants bestens dafür geeignet ist, die psychische Situation zu beschreiben, in der wir uns als Ware-Geld-Individuen befinden – der Kritik zum Trotz, die die Anwälte des „konkreten Lebens“ und des „lebendigen Geistes“ schon sehr bald an seiner „Jenseitigkeit“ geübt haben.

Je mehr wir uns vom „transzendentalen Subjekt“ zu eigen gemacht haben, so müssen wir uns sagen, je „vernünftiger“ wir also im kantschen Sinne geworden sind, desto eher wird es uns gelingen, zu dem, was uns unmittelbar bewegt oder bewegen könnte, auf Distanz zu gehen. Die abstrakte Vernunft wirkt wie eine Schutz- oder Isolierschicht, sodass unsere Gefühlsregungen nur abgeschwächt und gedämpft in unser Bewusstsein dringen. Wenn denn die auf Objektivität getrimmte „Vernunft“ sich überhaupt dazu herbeilässt, das, was von „unten“ kommt, vom Kellergeschoss unserer kreatürlichen Bedürfnisse und Triebe, zur Kenntnis zu nehmen. Eine im kantschen Sinne aufgeklärte Gesellschaft wird daher im Ganzen gesehen einen eher „coolen“ Eindruck machen, sie wird ruhiger, gleichmäßiger, sachlicher funktionieren als eine, in der die Menschen noch wenig „Verblüffungsresistenz“ besitzen und auf ihre Umwelt in stärkerem Maße emotional reagieren. Was übrigens nicht bedeutet, dass die vernünftigen Individuen von den Gefühlen nichts wissen wollen. Wo es an der Sache fehlt, kommt sie umso lauter zur Sprache. Gerade die modernsten der modernen Individuen, reichlich ausgestattet mit den „Gegenständen möglicher Erfahrung“, die ihnen von den Medien ins Wohnzimmer geliefert werden, pflegen einander wortreich zu versichern, wie wichtig ihnen die Gefühle sind. Sensibilität, Empathie, Betroffenheit und Achtsamkeit sind die in der Ratgeberliteratur um und um gewendeten Stichworte.

Das starke Ich …

Unterstellen wir, dass sich in den großen politischen Bewegungen der letzten, sagen wir, 300 Jahre die etappenweise Durchsetzung und Entwicklung jenes gesetzlichen Zustandes spiegelt, den Kant im Namen der Vernunft propagierte, dann können wir das Abflauen der politischen Leidenschaften, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl in allen Ländern des globalen Westens zu beobachten war, als Zeichen dafür nehmen, dass hier ein gewisser Endzustand in Sachen abstrakter Vernunft erreicht war. In der modernen Massendemokratie ist das bürgerliche Bewusstsein, das nach rechtlicher Gleichheit strebt, gewissermaßen zur Ruhe gekommen. Der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit bringt zwar Affären und Skandale hervor, aber er erschüttert die Gesellschaft nicht mehr als ganze. Man ereifert sich vornehmlich im privaten Kreis oder wendet sich, wenn die Empörung besonders hoch kocht – an die Gerichte. Das Rechtssystem ist hier weitgehend mit sich selbst beschäftigt und funktioniert durch eine Vielzahl von Einzelfällen hindurch. Der demokratische Rechtsstaat unserer Zeit, der von seinen Bürgern keine ideologischen Bekenntnisse mehr erwartet, dürfte weitgehend jener eigenschaftslosen „Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ entsprechen, von der Kant meinte, sie sei schon als solche dazu imstande, bei „vernünftigen Wesen“ Respekt und Achtung zu erzeugen. Die Politik ist jedenfalls zu einem nüchternen Geschäft geworden, zu trockenem „Verwaltungskram“, bei dem Leute, die mit Pathos auftreten und irgendwelche Visionen verkünden, teils belächelt, teils als gefährliche Populisten angeprangert werden.

Dieser gemeinhin als „Stillstand“ wahrgenommene Zustand bedeutet aber nicht, dass die Gesellschaft als ganze zum Stillstand gekommen wäre. Es handelt sich nur darum, dass an die Stelle der moralischen und politischen Bewegtheit unmittelbar die kapitalistische Geldbewegung selbst getreten ist. Und damit kommt eben das kantsche Vernunft-Ich ins Spiel, dem es heute freisteht, seinen Erfolg an jeder beliebigen Stelle des kapitalistischen Funktionszusammenhangs zu suchen. Da es von seinen historischen Konstitutionsbedingungen nichts weiß (ebenso wenig übrigens wie Kant, der von diesem Nicht-Wissen allerdings ein klares Bewusstsein hatte), behandelt es das, was bei Kant Metaphysik heißt, den Standpunkt des vereinzelten „Ich will“, wie eine empirische Gegebenheit. Einen Unterschied zwischen dem Willen, mit dem Privateigentümer sich an den Vertrag binden, den sie miteinander abschließen, und jenem Willen, der im Sinne von Brauchen, Mögen, Lieben auf der Ebene konkreter Bedürfnisse angesiedelt ist, pflegt der Alltagsverstand nicht zu machen. Was bei Kant als logischer Ausgangspunkt des vernunftgemäßen Handelns konzipiert ist: Das in allem Denken gleiche „Ich will“, das die „Einheit des Begehrungsvermögens“ darstellt, ist für den modernen Menschen selbst zum Gegenstand des Begehrens geworden. Und zwar dadurch, dass er die Attribute der Starrheit, Unveränderlichkeit und Dauerhaftigkeit, die der Abstraktion als Abstraktion zukommen, empirisch wendet. Vor Kant wurde das Bewusstsein von einem kontinuierlichen Ich transzendent interpretiert, als Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Heute wird die Abstraktion andersherum missverstanden: als integraler Bestandteil der empirischen Welt. Und das Missverständnis äußert sich in dem Wunsch nach einem starken, zuverlässigen Ich.

Umso dringlicher wird dieser Wunsch empfunden, als es der „äußeren Welt“, mit der wir zurechtkommen müssen, an Zuverlässigkeit gerade mangelt. Bei der „fortwährenden Umwälzung der Produktion“ (Marx im Kommunistischen Manifest), die für den Kapitalismus kennzeichnend ist, ergeben sich auch fortwährend veränderte Lebenssituationen. Wechsel des Wohnortes, Wechsel des Arbeitsplatzes, Wechsel des persönlichen Umfelds, immer neue Produktionstechniken, immer neue Konsumangebote und Moden, immer neue Überraschungen: Bei der „ewigen Unsicherheit und Bewegung“ der „Bourgeoisepoche“ (ebd.) dürfen wir von der empirischen Situation, in der wir uns gerade befinden, nicht erwarten, dass sie so etwas wie Kontinuität, Halt oder Sicherheit zu bieten hätte. Wer sich auf irgendetwas „ausruhen“ oder in der Routine, im Alltagstrott „einrichten“ möchte, gilt bekanntlich als Spießer. Offen und beweglich sollen wir sein und lebenslang lernen. Und dazu ist es eben notwendig, dass wir die Stabilität, die Ruhe, das Gleichgewicht „in uns selbst“ finden und jene „Ich-Stärke“ entwickeln, auf die die bürgerliche Gesellschaft seit den Tagen Sigmund Freuds ausgiebig reflektiert.

… und seine Krise

Anstatt uns vor dem Quälgeist des abstrakten Ich zu hüten, anstatt es als den Statthalter zu enttarnen, den der Kapitalismus in uns errichtet hat, auf dass seine Erfolgskriterien wie „unsere eignen“ aussehen, suchen wir Zuflucht bei ihm. Und in der Art, wie wir es tun, macht sich sogleich wieder die von der Abstraktion vorgegebene Konstellation bemerkbar. Da das Ich für sich genommen inhaltslos ist und keine andere Bestimmung enthält als die des Ausgangspunktes, stellt sich der Impuls des Machens und Tuns ein. Für die Pflege des Ich muss etwas unternommen werden. Auf dem heute erreichten Stand der Egozentrik befindet sich jeglicher Inhalt im Modus des „Außen“, selbst wenn wir beteuern und bezwecken, „in uns“ zu gehen. Die betuchteren unter den Ware-Geld-Individuen begnügen sich nicht mit Badezusätzen und Kräutertees. Sie buchen Schweigewochen im Kloster, ein Wellness-Wochenende mit Yoga-Kurs oder stärken ihr „Ich“ beim meditativen Wandern. So kommt es, dass ein Bedürfnis, das als Reaktion auf das abstrakte Leistungs-Ich entstanden und seinem stofflichen Gehalt nach oppositionell ist, doch wieder zurückmündet in den Ware-Geld-Kreislauf. Das System bewältigt die Probleme, die es hervorruft, dadurch, dass es weiter um sich greift und, mit Niklas Luhmann gesprochen, ein weiteres „Subsystem“ aus sich heraussetzt: die Psycho-Industrie.

Auf die Dauer aber lässt sich die aus Fleisch und Blut bestehende Wirklichkeit von der Abstraktion nicht foppen. Die Wohltaten, die uns in der Warenform angeboten werden, muss man sich leisten können. Und sie führen nicht weg vom Erfolgs- und Leistungs-Ich, sondern dienen ihm. Der „gesunde Körper“, den das abstrakte Ich immer noch weiter zu optimieren trachtet, spürt, dass er missbraucht wird. Er verweigert zunehmend den Dienst. Und wenn er, von Multitasking und Sofortness gepeinigt, die „Libido“ genannte Lebensenergie, die sich laut Freud in „Kulturleistungen“ sublimieren sollte, auf null stellt, wenn er psychisch auffällig wird, wenn er SOS funkt mit Zeichen der Depression und der Erschöpfung à la Burnout-Syndrom, dann kommt es sehr auf den Standpunkt an, ob man hier eine Krankheit oder vielleicht eher einen gesunden Fluchtreflex wahrnimmt.

Am anderen Ende der Skala, aber mit dem gleichen Effekt, führt die Objektivität, die mir permanent sagt, was ich besser hätte tun oder auch unterlassen sollen, um meine Chancen zu wahren, zu einer in die Enge getriebenen Empirie, die beeindruckende Ausbrüche von Gewalt zustande bringt. Die komplette Beliebigkeit, mit der die an Zahl zunehmenden Amokläufer und Selbstmordattentäter ihre Opfer treffen, zeigt uns eine Explosivkraft, die geradezu demonstrativ auf jeden allgemeinverständlichen oder -verbindlichen Sinn verzichtet. Neben der Krise des Finanzsystems, der Flüchtlingskrise, der Umwelt- und der Klimakrise haben wir es ganz offensichtlich auch mit einer Krise des Ich zu tun. Und der Tag ist vielleicht nicht mehr fern, an dem auch im öffentlichen Bewusstsein alle diese Krisen auf den gemeinsamen Nenner der kapitalistischen Krise werden gebracht worden sein.

Die Mainstream-Literatur hat jedenfalls ihr Augenmerk längst schon auf das Ich und dessen Anfälligkeit gerichtet. Abschließend sei noch einmal Juli Zeh zitiert:

„Endlich war auch in Kron das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, diese Epoche des kollektiven Wahnsinns. Mit einem kleinen Schritt war er in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden.“ (Unterleuten, S. 614, Hervorh. P. K.)

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