Pop, Kultur und Alltag

von Roger Behrens

Unser Alltag gehört zur Moderne. Nicht dass Menschen in vormodernen Zeiten nicht auch schon ihren Alltag gehabt hätten: nur war das Alltägliche weitgehend religiös gestaltet, mit reichlich Phantasie durchsetzt, die gerade half, von dem abzusehen, was heute eher als das Alltägliche erscheint – die Wiederkehr des Trotts, die Tretmühle, die Job, Beziehung, Hobby, das Treibrad von Beruf und Freizeit meint. Der Alltag war ein Fest. Unser Alltag gehört nun zur Moderne, weil das bürgerliche Zeitalter das Alltägliche modern macht: Das Fest wird in die alltäglichen Geschäfte integriert; ja, überhaupt ist der Alltag, auch und gerade der individuelle Alltag, ein einziges Geschäft. Formell ist es die protestantische Ethik, die diese merkwürdige, aber eben doch moderne Verkehrung von Alltäglichkeit und Nichtalltag prägt. Sie bedeutet ja mehr, als mit dem Etikett des homo oeconomicus beschworen wird: sie gebiert, nach dem Wort Max Webers, den Berufsmenschen. Und das ist der Mensch, der sein Wesen, nämlich auch in Hinblick auf sein notwendig falsches Bewusstsein, nein – nicht auf die Ökonomie abstellt, sondern voll und ganz auf sich, seine Individualität: weil er weiß, dass er Individualität nur verwirklichen kann, wenn er die Anpassung an die gesellschaftliche Produktionsordnung als seine Berufung glaubt. Und nur unter diesen Bedingungen wird der ganze Lebensvollzug, auch über die reine Zeit der Maloche, der Lohnarbeit hinaus, zur Profession verklärt, nämlich zur in jeder vermeintlich individuellen Haltung und Handlung sich wiedererkennenden Identität des auf die Verwertungslogik konfirmierten Berufsmenschen. Und das ist das, was den modernen Alltag in seiner Alltäglichkeit modern macht: dass er floriert in der Illusion permanenter Verkehrung, das Nichtalltägliche als Alltag zu zelebrieren, das Alltägliche selbst wie die ewige Wiederkehr des Nichtalltags zu feiern.

Und hier konvergiert der moderne Alltag mit Kultur, wird Alltagskultur, die aber, das ist bekannt, in der Regie der Kulturindustrie funktioniert. Nicht von ungefähr kommt es, dass Marx für die Charakterisierung des Warenfetischs den aus dem Theater kommenden Begriff der Phantasmagorie verwendet; und nicht von ungefähr kommt es, dass Benjamin in seinen „Passagen-Werk“-Notizen wiederum den „Begriff der Kultur als die höchste Entfaltung der Phantasmagorie“ bezeichnet (GS Bd. V·2, S. 1250).

Der Abschnitt über Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer heißt im Untertitel „Aufklärung als Massenbetrug“, nicht etwa „Verdunklung als Massenbetrug“ oder „Große Gefühle als Massenbetrug“; es geht um Aufklärung ganz im Sinne Kants, als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Diesen „Ausgang“ zeigt die Kulturindustrie, und zwar ganz ohne nötigen „Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant), perfiderweise als Eingang, ja als Pforte ins Reich des ursprünglichen Glücks; deshalb schreiben Adorno und Horkheimer: „Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an“ (GS Bd. 3, S. 164).

Die Kulturindustrie verspricht, was sich nicht hält. Glück. Der Alltag bietet nur den Abglanz davon. Und zwar kraft der rationalen Einsicht in diese Verhältnisse, der Trug ist durchschaut: das meint ja Aufklärung (die dann zur Verblendung sich überhöht).

Ohne weiteres lässt sich hier an Kafkas Türhüter-Legende denken: das Tor war immer offen; was der Mann vom Lande all die Jahre allein sah, war der Schein eines Größeren, Höheren. Er hätte jederzeit eintreten können. Dass er es hätte tun sollen, ist die Lösung, die sich nach der Logik des herrschenden Alltags ergibt. Die revolutionäre Lösung ist einfacher: Sie bedeutet, wegzugehen, abzuhauen, nicht mitzumachen, „Große Weigerung“ (Marcuse).

Aber so einfach ist es doch nicht, weil auch solche Weigerung in den modernen Alltag integriert werden kann und integriert wird, und zwar aus Prinzip. Dieses Prinzip ist der Logik der Kulturindustrie, spätestens wo sie sich selbst als Pop offenbart, eingeschrieben über das, was sie gerade in Bezug auf das Alltagsleben an Modernität verspricht. Charles Baudelaire war der erste, der dieses Wort Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet hat: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.“ (Das Schöne, die Mode und das Glück, Berlin 1988, S. 21) Schon in diesem Begriff der „Modernité“ ist die desolate Tendenz der Geschichte eingeschlossen, dass der Fortschritt („im Bewusstsein der Freiheit“, Hegel) entweder als Fortschritt der Humanität in die Katastrophe mündet, oder aber eben als alleralltäglichste, ewige Wiederkehr des Neuen, nämlich als Mode, verklärt wird, die sich nur noch an technischen Innovationen festmachen lässt, die Menschlichkeit auch nur noch technisch befördern.

Im mittelalterlichen Alltag war es die Not, die man hoffte, religiös lindern zu können. Wo in der Moderne allerdings Not ist, Elend und Leid, ist kein Alltag; das Problem der Moderne, wofür das Alltägliche dann als Lösung erscheint, ist vollkommen anders gelagert: der Feind gelingenden Alltagslebens ist – die Langeweile. Faktisch hat der Kapitalismus nämlich zur auch nachhaltig erfolgreichen Kaschierung seiner lebensfeindlichen Gewalt relativ wenig zu bieten; er muss sich auf Bewährtes verlassen, das sich eigentlich nur zufällig bewährt hat: weil es, obwohl als ewige Jugend verkleidet, nicht alterungsbeständig ist, sein Verfallsdatum aber nicht preisgibt.

Das ist indes die Definition des Pop, die ihm zur Strategie wurde: „Pop Art is: popular, transient, expendable, low-cost, mass-produced, young, witty, sexy, gimmicky, glamorous, and Big Business“, so der Künstler Richard Hamilton 1957 an das Architektenpaar Peter und Alison Smithson. Es ist bekannt, wie schnell dieses Pop-Art-Programm auf die Musik übergreift und als Musik, Popmusik nämlich, die Kulturindustrie endgültig veralltäglicht wird, nämlich als Popkultur. In den 1970ern findet das seinen musikalischen Höhepunkt, als der Popalltag wirklich auf das All ausgedehnt wird („Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“). Pop als Alltag, der von seiner eigenen übermächtig gähnenden Leere verschluckt wird, bis er schließlich an der Langeweile stirbt, immer wieder.

image_print