Es ist mehr los als wirklich

Österreich probiert sich als Avantgarde der Postpolitik

von Franz Schandl

Es ist ja nicht so, dass die Lage einfach die Stimmung bestimmt. Im Gegenteil, meistens ist es ganz anders, nämlich die Stimmung entzückt die Lage oder besser: jene behauptet sich als diese. Am Stimmungsmarkt geht es heute zu wie auf dem Kapitalmarkt. Man weiß nicht mehr, was real ist und was nicht. Ähnliches gilt für die Stimmungen, die da Konjunktur haben. Diese selbst reduzieren sich zunehmend auf Erregungen, egal nun, ob diese schnell verpuffen oder zu hartnäckigen Vorurteilen werden. Ein Kreischalarm folgt dem nächsten. Conchita Wurst war in den letzten Wochen nicht nur präsenter, sondern auch eminenter als die diesen Sonntag stattfindenden Wahlen in der Steiermark und im Burgenland.

It’s party time: Life ball, Song Contest, ÖVP-Parteitag. Die spätkapitalistischen Metropolen verfallen dem Spiel. Events kumulieren. Es ist mehr los als wirklich. Armut und Elend sind in den österreichischen Landen zwar vorhanden, aber gut versteckt. Was man nicht sieht, ist nicht wirklich wirklich. Die Arbeitslosen, die Bettler, die Obdachlosen, die Flüchtlinge sie sind extra durch die Reportagen zu schleusen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Gesellschaftliche Sichtung ist hochgradig virtuell geworden. Die (sich ausweitende) Wiener Innenstadt bis hin zum neuen Hauptbahnhof wirkt als sei Boom forever. Die teuren Dachausbauten gehen noch immer weg wie die warmen Semmel.

Simulation und Spektakel

Wenn Politik lediglich die kapitalistische Rationalität der Krise in öffentliche Verwaltung übersetzt, sind die Substitute Simulation und Spektakel zur Stelle. Diese sind zunehmend Ersatz einer zerbröselnden Form, die nur noch die Hülle zur Verfügung stellt. Der heute grassierende Populismus kann als adäquates Zerfallsprodukt absterbender Politik gelten. Politik war zwar immer kulturindustriell geprägt, inzwischen ist aber der ganze politische Sektor zu einer Unterabteilung von PR und Coaching, Marketing und Campaigning geworden. Österreich geriert sich einmal mehr als Avantgarde, diesmal als eine der Postpolitik. Alte Ordnungen brechen ohne dass neue entstehen. Event und Anmache bestimmen die Gemüter, legen sie fest oder versuchen es zumindest. Konsumenten konsumieren, was sie vorgesetzt kriegen. In den Supermärkten dürfen sie unter zahlreichen Sinnstifungssurrogaten auswählen.

Die Skandale, die aufregen sollen, regen immer weniger auf. Mit eherner Regelmäßigkeit geben sich Affäre und Aufdeckung die Hand, ohne dass sich Entscheidendes geändert hat und ändern wird. Ein Blick in Zeitungen von vor 5, 10 oder 20 Jahren wird als Déjà-vu enden. Der fatale Eindruck ist der, dass da dagegen kein Kraut gewachsen ist. Daran wird sich unter diesen Rahmenbedingungen nichts ändern, auch wenn permanent das Gegenteil behauptet werden muss. Die Abwicklung der Kärntner Hypo-Alpe-Adria wird samt ungewissen Prozessen noch an die zehn Jahre dauern. Schätzt man.

Das Interesse an Politik ist abnehmend. Das mag unmittelbar nicht nützlich sein, aber ist es schädlich? Wäre es nicht schädlicher, sich unverdrossen an sie zu klammern und die Augen zu verschließen vor ihrer Impotenz? Kampagnen, um wieder Beachtung zu erzeugen, werden immer aufwendiger, ja monströser. Jeder Kampf gegen die Verdrossenheit stärkt diese, mögen da auch zwischendurch einmal mehr die Wähler „abgeholt werden“ und auf die neueste Agitation reinfallen.

Parteitage, die keine bürokratischen Veranstaltungen der Funktionäre mehr sein dürfen, gleichen einer Mischung aus programmiertem Ritual und unfreiwilligem Kabarett. Die ÖVP, die vor einigen Tagen erst ihren Konvent ausgerichtet hat, möchte nicht mehr als verstaubt und konservativ gelten, sondern als modern und liberal. Der Elan, der versprüht werden muss, ist aus der Dose, der Konservendose der Reklameindustrie. Attraktivität ist eine Frage der Performance. Und in allen Kanälen droht dieses Schlammbad für Hartgesottene, die Talk-Show. Kein Thema, das dort nicht in einem demokratischen Brei zu ersticken droht.

Die steirische Wahl steht ganz im Zeichen von „Arbeit“ und „Reform“. „Wir sind noch lange nicht fertig“, lässt die regionale Volkspartei ausrichten. Was als Ankündigung gemeint ist und als Drohung daherkommt, ist eigentlich schiere Angst. Sieht man sich die Themen und Vorschläge genauer an, dann scheint in der Politik die Platte hängen geblieben zu sein. Alles wird schneller, doch es bewegt sich nichts. „Rasender Stillstand“ (Paul Virilio) wäre da eine durchaus treffende Charakterisierung. Es gibt keine Debatten über die Zukunft, sondern nur darüber, wie man, sich stets beschleunigend, weitermachen kann.

Vokabelkompott und Reformfieber

Überhaupt grassiert das Reformfieber. Der Begriff der Reform freilich hat sich völlig gedreht. Dachte man früher an den Genuss zusätzlicher Leistungen, so ist nun das schiere Gegenteil der Fall. Es drohen soziale Einschnitte oder restriktive Zwangsmaßnahmen. Ein dünnes Vokabelkompott dient vornehmlich der Beruhigung. Da ist die Rede von „mehr Optimismus wagen“ von „Eigenverantwortung übernehmen“ und stets davon, „den Reformstau aufzulösen“. Natürlich muss „die Wirtschaft angekurbelt werden“ und „die Konjunktur anspringen“. Es ist ein Gebräu der Schlagworte, die als sprachliche Dauerattacken die Öffentlichkeit zumüllen. Fällt Österreich im Wachstumsranking zurück, geraten die obligaten Kampagnen ins Laufen: das Pensionsalter ist hinauf zu setzen, die Arbeitszeiten sind zu verlängern, Zumutbarkeitsbestimmungen zu erhöhen, Studiengebühren einzuführen. Und als aktuelle Draufgabe: „Vorbild Merkel“ oder „Was die Deutschen besser machen“.

Die Gebetsmühle ist ebenso unerträglich wie unermüdlich. In vielen Statements geht völlig unter, worum es geht. Hauptsache es geht weiter. Wohin ist da schon egal. Mit diesem Wortschwatz erkennt man nichts, aber man erkennt sich wieder. „Warum sagen sie nicht, was ist?“ beschwert sich etwa Bernd Ulrich in der Zeit Anfang des Monats über die europäischen Politiker. Nun, sie wissen es selbst nicht, dürfen aber ihre Ratlosigkeit nicht zugeben. Daher verstärken sie die Werbung, bis sie deren Botschaften wohl selbst wieder für bare Münze nehmen. Es muss doch stimmen, sonst würden wir es nicht sagen. Das ist eine bestechende Logik, vor allem auch eine selbst bestechende. Politik sagt nicht, was ist, sondern dass es gut ist oder gut wird oder gut zu sein hat. Die Krankheit des positiven Denkens ist auch jene von Wirtschaft und Werbung, von Medien und Kultur. Zwangsoptimismus ist die schärfste Variante der Affirmation.

Und doch dämmert es so manchen, dass Politik und Wirklichkeit so wirklich nicht mehr zusammen passen. Immer weniger Menschen wählen und die das tun, sind immer weniger überzeugt davon. Stammkundschaften der Parteien werden zu Minderheiten. Die einst ausschlaggebenden Segmente sind porös geworden und trocknen aus. Wer wählt, ist eher Opfer der Eindruckskonkurrenz als ein Träger sozialer Interessen. Die verbleibenden Wähler entscheiden nach Kriterien, die oft nichts mehr mit ihren Lebenslagen zu tun haben.

Die andauernd entstehenden neuen Kräfte haben meist eine begrenzte Haltbarkeit. Sie sind mediale Seifenblasen mit viel Geld im Hintergrund, aufgepumpt steigen sie auf und zerplatzen. Auf jugendliches Getöse folgt meist der Alterschwachsinn, prototypisch dafür die Liste des austrocanadischen Multimillionärs Frank Stronach. Allesamt vertreten keine Alternativen, sondern repräsentieren das Gleiche: Arbeit, Wachstum, Konkurrenz, Markt, Standort. Nichts sieht so alt aus wie das Neue.

Nach der nächsten Nationalratswahl 2018 werden Sozialdemokraten und Christdemokraten schon rein rechnerisch keine Große Koalition mehr zimmern können. Was dann? Eine Dreierkoalition mit den Grünen? Das würde die FPÖ von Heinz-Christian Strache wohl in kürzester Zeit an die 40 Prozent anschwellen lassen. Den Dreikampf um den ersten Platz dürften nach heutiger Prognose sowieso die Freiheitlichen gewinnen. Indes ist die FPÖ in diesem Szenario nicht so stark wie sie scheint. Die sinkende Wahlbeteiligung gepaart mit dem Mangel an linken Alternativen, lassen nach Haider nun Strache aufsteigen. Auf unterer Ebene, insbesondere in den Gemeinden erweisen sich die alten Kräfteverhältnisse zugunsten der traditionellen Großparteien als recht robust. Hier sind die Freiheitlichen extrem schwach aufgestellt. Das lokale Personal wirkt nicht selten inferior. Eine Regierungsbeteiligung wäre für die FPÖ wie schon unter Haider 2000 in vieler Hinsicht fatal.

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