Mentaler Gau oder: Die europäische Wand

Eine nicht nur österreichische Nachlese zur griechischen Misere

von Franz Schandl

„EU zwingt Griechen in die Knie“ war am 13. Juli auf dem Cover einer Tageszeitung zu lesen. Zweifelsohne handelt es sich um eine Kapitulation und um eine Demütigung. Und diese Schmach wird auch noch genüsslich zelebriert und ausgeschlachtet. Das Kuratell steht und das Diktat der gemeinsamen Spielregeln ebenso. Wenn die „Institutionen“ von Vertrauen sprechen, dann meinen sie Gehorsam. Die Jungs von der Straße, die da ohne Krawatten in den Palast eingedrungen sind, werden jetzt domestiziert oder rausgeworfen.

Ob man verschämt oder unverschämt vorgehen soll, darin scheiden sich freilich die Geister. Aber Kapitulation und Demütigung bleiben, können nicht um- oder gar weginterpretiert werden. Natürlich oktroyierte man auch schon Spanien, Portugal und anderen subalternen Staaten die Bedingungen, doch deren Regierungen waren im Gegensatz zu Syriza a priori der neoliberalen Linie Deutschlands verpflichtet, da regierte willige Komplizenschaft, nicht widerwillige Unterwerfung wie jetzt in Athen. Die Pointe der griechischen Tragödie liegt darin, dass nunmehr eine linksradikale Regierung ein lupenreines Austeritätsprogramm im Parlament durchpeitscht, ohne hinter diesem stehen zu können.

Zur Fraktion der Verschämten zählte auch der österreichische Bundeskanzler. Anders als sein Finanzminister Hans-Jörg Schelling (ÖVP), der ganz als Adlatus seines deutschen Amtskollegen aufgetreten ist, gehörte Werner Faymann (SPÖ) zur Gruppe um Hollande und Renzi, die zum Schluss meinte, der Schläge seien nun genug, man soll die Niedergestoßenen nicht auch noch treten. Sie wollten also Tsipras Gnade erweisen, nicht mehr. Dass dies inzwischen als Unterstützung ausgelegt wird, zeigt an wie sehr die Maßstäbe bereits verrutscht sind. Diskutiert werden weniger Erpressung und Erniedrigung an sich, sondern bloß das Ausmaß der Entmündigung und die etwaigen, vor allem auch nichtintendierten Folgen.

Ansonsten unterscheiden sich die Reaktionen in Österreich kaum. In Wien wird keinesfalls weniger heiß gekocht als in Berlin oder Brüssel. Was war da nicht alles zu lesen und zu hören? „Polit-Hasadeure“ fahren „ihr Land mit Vollgas an die Wand“, behauptet Wolfgang Fellner, der Herausgeber der Gratisgazette Österreich: „Mit dem Griechen-Theater muss jetzt Schluss sein“. Die REWE-Verkäuferin aus Stockerau dürfe nicht die griechischen Schulden zahlen, schreiben diese Retter unseres Steuergeldes. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) warnt gar vor einem „Griechen-Urlaub“. Heinz-Christian Strache (FPÖ) wiederum freut sich zwar über die Störungen der EU-Politik aus dem Süden, propagiert jedoch ganz entschieden den sofortigen Rauswurf der Griechen aus der Euro-Zone. Und die selige Wiederentdeckung der Totalitarismustheorie erlaubt es Tsipras und Le Pen, Podemos und FPÖ in eine Dumpfbackendose zu stecken.

Die Differenz zwischen Qualitätsmedien und Boulevard ist minimal. Permanent der Vorwurf der „Realitätsverweigerung“: „Die Syriza-Fantasten meinen den Unfug, den sie im Wahlkampf verzapften, ernst“, heißt es. „Danke, Wolfgang Schäuble“, ließ der Chefredakteur der Wiener Presse, Rainer Nowak im Kampf gegen die „Griechen-Versteher“, schon Ende Februar, also Monate bevor der deutsche Finanzminister seine Nummer abgezogen hat, wissen. Es gehe darum, die „Finanz-Clowns aus Athen“ in die Schranken zu weisen, damit nicht auch noch Hollande und Renzi übermütig werden. Die neue griechische Regierung hätte das Land „an die Wand gefahren“, „Öl ins loderende Feuer gegossen“, da wurde „selbst der Stecker gezogen“. Christian Rainer, der Chef des Wochenmagazins profil, freut sich einmal mehr, dass der „sich aufblähende Antikapitalismus und die Dummheit niedergehalten wurden“. Insgesamt sei Tsipras ein „Durch-die-Wand-Politiker“, assistiert der liberale Standard. Es ist ein Kanon. Dass da wirklich eine Euro-Wand zu durchstoßen wäre, will diesem Journalismus nicht auch nur eine Sekunde kommen. Da schreibt die Wand von der Wand.

Kotmeer der Gefühle

Medial wurde das europäische Desaster in einer beispielhaften Kampagne inszeniert. Flächendeckend die Propaganda, von den Zeitungen bis zu den Magazinen, von den Talk-shows bis zu den Nachrichten. Was sich als kritischer Journalismus ausgibt, ist brutale Hetze. Karl Kraus nannte solche Leute einst eine „Koppel von Presskötern“. Tatsächlich ist auch die Journaille von heute eine Meute von Jagdhunden. Wie sie Fragen stellen, nach suggestiven Antworten heischen, missliebige Personen und Inhalte diskreditieren, sagt, wozu sie gut sind. Sie sind Quotennutten der Macht. Ihre Freude ist die Schadenfreude. Da sind sie in ihrem Metier. Es geht darum abweichendes Verhalten zu punzieren und deren Exponenten zu denunzieren. Meinungsdirnen im Schlagwortwahn ertränken schuldige Schuldner im Kotmeer, um sich gleich noch einmal drei Kraussche Begriffe auszuborgen.

Unabhängige Medien entpuppen sich als marktradikale und kapitalkonforme Einsatztruppen, egal ob sie mehr nationalistisch oder euronationalistisch aufgeladen sind. Diese Differenz macht nicht so viel Unterschied als deren Vertreter meinen. Die Klaviatur ist die selbe und die Melodie ist ähnlich. Man weiß, wo Herren thronen und wo Knechte sitzen. Urteile sind gefasst und werden gesprochen. Die schärfsten Exemplare dieser Spezies gerieren sich wie magazinierte Scharfrichter. Stationen kämpfen um den größten Pranger, Studios werden zur Richtstätte. In einem waren sich alle einig: Das Referendum ist Dreck. Dass sie falsch abgestimmt hatten, sollten die Griechen und ihre Linksregierung büßen.

„Hausaufgaben! Hausaufgaben!“, schreit die Meute. Unisono. Die Kontrahenten werden als infantil, ja debil abgestempelt, eigentlich dürfen sie weder als Gegner noch als Partner ernst genommen werden. Sie sind a priori minderwertig. Dazu gehört etwa auch das tätschelnde, letztlich aber pseudoamikale Verhalten Junckers gegenüber Tsipras oder die unentwegte Behauptung, Varoufakis sei unvorbereitet in die Sitzungen gekommen. Das Problem war eher, er hat geredet, obwohl er absolut nichts zu melden gehabt hätte. „Die Verhandlungen dauerten ewig, weil die andere Seite sich weigerte, zu verhandeln“, sagt der ehemalige griechische Finanzminister. Und als er nicht spurte wie sie wollten, ließ man unverblümt wissen: „Wir werden sie trotzdem zerquetschen“. „Wir fragen uns schon seit Wochen, wann die Griechen endlich begreifen, wie es funktioniert“, doziert ein schwer genervter österreichischer Finanzminister. Genau so stellt man sich einen herrrschaftsfreien Diskurs vor.

Beängstigend das kommunikative Fiasko, das hier nun abgegangen ist. Es lässt nichts Gutes für die Zukunft ahnen. Es ist ein Gau, ökonomisch wie politisch, aber auch medial, mental, sozial. Alle Organe sind auf Linie. Gelegentliche Abweichungen flankieren lediglich die geballte Sicht der Dinge. Besonnene Stimmen gibt es wenige: Reinhard Göweil, der Chefredakteur der Wiener Zeitung meint etwa: „Und ehrlich, die Weigerung Griechenlands, die Sparpolitik weiter zu tragen und gegebenenfalls die Schulden einfach nicht mehr zu bedienen, sollte gerade uns in Österreich nicht aufregen. Bei der Hypo/Heta wurden ja auch Kärntner Landeshaftungen für null und nichtig erklärt.“

Die Griechen bluten, die Asylanten strömen, die Schulden steigen. Die Gemüter erhitzen sich stets aus falschen Gründen, während alles seinen bitteren Gang geht. Und man muss zugeben, dass es in Kerneuropa satte Mehrheiten sind, die so denken und noch mehr es so spüren, ja am Allerschlimmsten: aufgrund ihres psychischen Zurichtung als drangsalierte Konkurrenzsubjekte es kaum anders können. Die Brisanz des kollektiven Unsinns, sie fällt nicht auf, der gesunde Menschenverstand blüht in seiner Ignoranz so richtig auf. Wenn die Volksseele brodelt, sinkt die Empathie auf den Gefrierpunkt.

Ist Europa schon zu vergessen? Als Euroland zweifellos. Aber dass Europa, die in Matala auf Kreta, aus dem Meer gestiegen ist, deswegen zwangsweise ersticken muss, das ist nicht ausgemacht. Die griechische Regierung mag angesichts der Ereignisse und Drohungen ratlos sein und hilflos wirken. Doch trifft auf ihre Kontrahenten anderes zu? Es regiert eine Politik, die Losungen mit Lösungen verwechselt, deren Apparate aber noch ungebremst, ja blindlings agieren. Wie aufgezogen.

Flüssig und überflüssig

Im Fokus der Kritik müsste der Realismus einer Gesellschaft stehen, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen und ansonsten die Augen verschließen vor den großen Miseren bürgerlichen Daseins. Real ist das von Notenbanken gedruckte Geld, irreal sind die Wünsche und Bedürfnisse notleidender Menschen. Wie die Griechen sollen wir kapieren: Wer nicht flüssig ist, ist überflüssig. Und wer flüssig ist, das bestimmen noch immer wir hier, in den Bank- und Politzentralen der Metropolen, wir hier, die willfährigen Exekutoren der Marktgesetze. Zu diskutieren wäre also der Charakter der Flüssigkeit. „Was sagen die Märkte?“, lautet die bestechend dümmste aller Fragen. Und die zweitdümmste ist die nach der Befindlichkeit der Ratingagenturen und ihren Rankings. Tatsächlich ist die Auslieferung inzwischen so weit gediehen, dass wir kaum mehr denken, sondern nur noch rechnen. Weiß eigentlich noch jemand, worum es geht? Wenn der Markt aufatmet, ist Gefahr im Verzug.

Fällig wäre etwas ganz anderes, eine Debatte über Schuld und Kredit, über Geld und Zahlung überhaupt. Dass der menschliche Haushalt ohne sie nicht funktionieren könnte, ist nämlich ein abendländischer Mythos, an den wir alle glauben müssen und es auch nach wie vor tun. Da kann es schon vorkommen, dass die Märkte in Griechenland voll mit Gütern sind, diese allerdings verderben, da sie als Waren nicht bezahlt werden können. Was wiederum zur Folge hat, dass die Händler nicht mehr kaufen und die Bauern nicht mehr liefern. Marktwirtschaftlich geht das alles in Ordnung. Die Logik ist so, und ihre Logiker können nicht anders, die ticken so. Solange uns derlei als normal erscheint, werden wir zweifellos verrückt bleiben.

Nicht Zahlungsfähigkeiten sind herzustellen, sondern Lebensmöglichkeiten. Und zwar für alle und überall, nicht bloß in Berlin und Wien, sondern ebenso in Athen und natürlich auch in Damaskus und Bagdad. Wird die menschliche Miteinander aber weiterhin als Gegeneinander dem Fetisch Geld überantwortet und somit geopfert, dann sieht es wirklich zappenduster aus. Es wäre an der Zeit über ein weltweites Schuldenmoratorium nachzudenken, ja Schulden überhaupt zu streichen. Mit Griechenland und der Dritten Welt könnte man beginnen. „Bezahlt wird nicht“ (Dario Fo) sollte zum kollektiven Credo werden. Aber das sind Überlegungen, die heute nicht einmal den Linksradikalen in den Sinn kommen. Da waren die griechischen Denker und Dichter vor mehr als 2000 Jahren schon weiter. Einer unserer größten Dramatiker, ein gewisser Sophokles, wusste, was er sagte als er in Antigone sagen ließ:

Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
Ja, es verführt auch unverdorbne Herzen,
Sich schändlichen Geschäften hinzugeben,
Es weist den Sterblichen zur Schurkerei
Den Weg, zu jeder gottvergessnen Tat!

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