Toter Mann

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von Hedwig Seyr

U-Bahn Wien: Gleich beim Einsteigen höre ich ein unangenehmes Geschimpfe. Ein älterer Mann scheucht eine kleine, unscheinbare, verhutzelte Frau in schwarzem Gewand wie ein Tier vor sich her. „Schleich dich, Bettlergsindl. Raus da!“, schreit er laut. Ich erwidere ihm spontan in heftigem Ton: „Die U-Bahn gehört nicht Ihnen. Die Frau darf genauso wie Sie damit fahren!“ Da entlädt sich eine Salve von Schimpfwörtern auf mich. Darunter: „Sie blöder Trampel, Sie! Das ist die Bettlermafia. Die g’hört ausgerottet!“ Die Frau, die er sogar körperlich bedrängt, kommt hilfesuchend auf mich zu, ein großes Bild vor sich hertragend und mir hinhaltend. Es zeigt einen toten Mann, bekleidet mit einem schönen roten Anzug in einem Sarg liegend. In klagendem Ton sagt die Frau: „Mann tot. Bitte Geld für Kinder!“ Ich gebe ihr das Gewünschte. Der „freundliche Wiener“ hat sich in der Zwischenzeit auf einen Platz gelümmelt, alle Viere von sich gestreckt und murmelt vor sich hin: „Trampel, blöder, Gsindel, elendigliches, Bettlermafia, Verbrecher!“, bis er eingeschlafen ist. Ich blicke nochmals auf den Mann im Sarg, dessen kleine Frau für ihn und für ihre Familie unterwegs ist. Er ist für mich lebendiger geworden. Das goldene Wiener Herz hingegen hat da scheinbar aufgehört zu schlagen.

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