China vor dem Burnout

Kann die Volksrepublik eine Transformation des kreditgetriebenen Wachstums vollführen und ein nachfrageorientiertes Wirtschaftsmodell etablieren?

von Tomasz Konicz

„Bis hierhin lief es ganz gut.“ auf diesen Nenner ließen sich die Folgen des halsbrecherischen Kreditwachstums bringen, das seit Krisenausbruch 2008 zur wichtigsten Konjunkturstütze in der Volksrepublik China avancierte. Im vergangenen Januar ist das Kreditwachstum im offiziellen chinesischen Bankensektor unerwartet um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum angestiegen (insgesamt rund 160 Milliarden Euro). Dies war der höchste Wert seit vier Jahren. Unter Berücksichtigung des wuchernden Schattenbanksektors, in dem Kredite völlig unreguliert außerhalb der Bankbilanzen vergeben werden, schwoll die sogenannte Gesamtfinanzierung in der Gesellschaft (TSF – Total Social Financing) um 18,5 Prozent auf ein Volumen von umgerechnet 310 Milliarden Euro an. Diese tatsächliche Kreditexpansion übertraf die Prognosen um 36 Prozent.

Somit scheinen die offiziellen Bemühungen der chinesischen Geldpolitik, die enorme Verschuldungsdynamik in der „Werkstatt der Welt“ in den Griff zu kriegen, einen schweren Dämpfer erlitten zu haben. Mit einer Reihe von geldpolitischen Maßnahmen hat es Peking vermocht, die offizielle TSF-Rate im zweiten Halbjahr 2013 auf 9,5 Prozent zu senken, um so der sich immer stärker abzeichnenden Blasenbildung im Reich der Mitte entgegenzuwirken. Doch brachte diese Drosselung der expansiven chinesischen Geldpolitik – die ähnlich der amerikanischen Strategie des „Tapering“ umgesetzt wird – eine Reihe ernsthafter Verwerfungen mit sich. Mehrmals stand der chinesische Finanzsektor am Rande einer Panik, als aufgrund versickernder Liquidität die Kreditzinsen im Interbankenmarkt in astronomische Höhen schossen und sich erst nach Liquiditätsspritzen der Zentralbank wieder normalisierten.

Der Staat und die Blase

Zudem hat die Beinahe-Pleite des auf dem grauen Kapitalmarkt gehandelten Fonds „Credit Equals Gold No. 1“ deutlich gemacht, dass die chinesische Volkswirtschaft bereits voll von einer Schuldenblase erfasst wurde und in dieser Dynamik gefangen ist: Die rund 700 wohlhabenden Anleger dieses dubiosen Fonds, die mit einer Dividende von zehn Prozent gelockt wurden, mussten mittels eines staatlichen Bailouts vor dem drohenden Totalverlust Ende Januar gerettet werden, da sich auf den Märkten eine Panik abzeichnete. Dieses Vorgehen illustriert die Ausweglosigkeit der chinesischen Wirtschafts- und Geldpolitik, die zu einer Geisel der Verschuldungsdynamik in China wurde. Der Staat kann nur noch versuchen, die mit dem Platzen der Blase einhergehende Panik hinauszögern – um den Preis deren weiterer Aufblähung.

Schließlich wurden die Bemühungen um eine Reduzierung der Kreditvergabe im Bankensektor durch das stürmische Wachstum des chinesischen Schattenbankwesens weitgehend zunichtegemacht. So soll die Kreditvergabe auf diesem total unregulierten grauen Finanzmarkt 2013 – also genau in dem Jahr, in dem Peking die Kreditvergabe zu drosseln versuchte – um 43 Prozent angestiegen sein. 2012 betrug dieser Anstieg nur 25 Prozent (Werte jeweils im Jahresvergleich). Dabei weiß eigentlich niemand so genau, welche Ausmaße dieser Schattenbanksektor – der mit dem offiziellen Bankensektor aufs Engste verflochten ist – bereits angenommen hat. Die unterschiedlichen Schätzungen schwanken hier zwischen einem Marktvolumen von umgerechnet 2,5 Billionen Euro (rund 40 Prozent des chinesischen BIP!) bis zu 4,4 Billionen Euro.

China wurde in den vergangenen Jahren offensichtlich von einer Defizitkonjunktur erfasst – von einem Aufschwung, der durch Schuldenmacherei befeuert wurde. Die Anfänge dieser chinesischen Defizitkonjunktur können relativ genau datiert werden: Mit dem Ausbruch der Finanz- und Weltwirtschaftskrise ab 2007 und 2008 geriet das bisherige chinesische Wirtschaftsmodell in die Krise. Bis zum jenem Zeitpunkt beruhte das stürmische Wachstum der Volksrepublik auf der Exportindustrie, die mit einem Millionenheer billiger und gut ausgebildeter Arbeiter versorgt wurde. Die enormen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Chinas bildeten somit bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise die mit Abstand wichtigste Konjunkturstütze und die Quelle der gigantischen chinesischen Devisenreserven. Doch nach den massiven Wirtschafts- und Nachfrageeinbrüchen in den chinesischen Exportmärkten in den USA und insbesondere in Europa musste Peking reagieren: China legte ab 2008 das in Relation zur Wirtschaftsleistung weltweit größte Investitionsprogramm auf (es umfasste rund 12 Prozent des damaligen BIP!), das zur Initialzündung der derzeitigen Schuldenblase wurde.

Investitionen, Export und Nachfrage

Seit 2008 ist die chinesische Konjunktur nicht mehr export-, sondern investitionsgetrieben, während der Binnenkonsum weiterhin keine relevante Rolle spielt. Das Land wurde mit Infrastrukturprojekten überzogen und mit ganzen Geisterstädten zugepflastert, deren Wohneinheiten auch Jahre nach Fertigstellung keine Käufer finden. In diesen fünf Jahren ist die Gesamtverschuldung Chinas von 120 Prozent des BIP auf nun 190 Prozent angestiegen, wobei ein Großteil des Kreditwachstums auf den Schattenbanksektor zurückzuführen ist, der vor 2008 kaum eine Rolle spielte. Zum Vergleich: In den fünf Jahren, die dem Platzen der gigantischen Immobilienblase in den USA vorangingen, stieg die dortige Gesamtverschuldung „nur“ um 40 Prozent des BIP. Über Chinas Banken schwebe ein gigantischer „Schatten“ im Umfang von 15 Billionen US-Dollar, warnte die prominente Ökonomin Chalene Chu in einem Interview mit dem britischen Telegraph. Um diesen Betrag sei der Bankensektor in nur fünf Jahren angeschwollen. Es sei kaum vorstellbar, dass diese extreme Kreditexpansion nicht zu „massiven Problemen“ in China führen werde. Zudem können die chinesischen Devisenreserven (rund vier Billionen US-Dollar) nicht im großen Ausmaß zur Krisenbewältigung eingesetzt werden, da dies automatisch zu deren Abwertung führen würde. Chinas durch Exportüberschüsse akkumulierter Devisenschatz sieht somit nur beeindruckend aus, solange er nicht „angefasst“ und veräußert wird.

Die sich zuspitzende Spekulationsdynamik bringt eine zentrale Fehlentwicklung der stürmischen Modernisierung Chinas erneut zum Vorschein, die eigentlich schon seit zwei Dekaden besteht: Das chinesische Wachstum ist nicht selbsttragend. Bis zum heutigen Tag ist es der Führung in Peking nicht gelungen, die Konsumbereitschaft der gesamten Bevölkerung verteilungspolitisch in ausreichendem Maße zu beleben, um die Binnennachfrage zum wichtigsten Träger des Wirtschaftswachstums zu machen. Trotz gradueller Fortschritte (2013 wuchs der Binnenhandel um 13,1 Prozent) sind die Folgen der Exportausrichtung noch nicht einmal ansatzweise behoben. Denn der Anteil des Konsums am chinesischen BIP sank von gut 50 Prozent in den frühen 90er Jahren auf nur noch 35 Prozent in 2011. Das bedeutet letztendlich, dass die allgemeine Reallohnentwicklung (inklusive der armen Landarbeiter) nicht mit dem Wachstum mithielt.

Chinas Wachstum war schon seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auf Verschuldung angewiesen – nur wurde sie bis 2008 exportiert. Irgendwer musste ja die Waren aufkaufen, die Chinas ArbeiterInnen produzierten, ohne selber konsumieren zu können. Diese Exportüberschüsse Chinas resultierten in einem gigantischen Leistungsbilanzüberschuss, der 2007 den Spitzenwert von 10 Prozent des chinesischen BIP überschritt. Das war nur möglich, weil sich die Zielländer der Exporte selber verschuldeten. Dies geschah in Form der uns sattsam bekannten und mit Blasenbildung einhergehenden Defizitkonjunkturen in den USA und Europa, die China die Ausbildung von enormen Handelsüberschüssen und die Anhäufung der riesigen Devisenreserven ermöglichten. Nach dem Platzen der Blasen in den USA und Teilen Europas – und dem Einbruch der chinesischen Handelsüberschüsse, die inzwischen niedriger sind als diejenigen Deutschlands – verlagerte China im Gefolge der gigantischen Konjunkturprogramme die Verschuldungsdynamik ins Binnenland. In Reaktion auf das Platzen der Blasen in den Absatzmärkten der chinesischen Exportindustrie initiierte Peking somit seine eigene Verschuldungsdynamik, die zum Wachstumsmotor wurde!

Arbeit und Gerechtigkeit in Maos Reich

Wieso scheint aber eine rasche Belebung der Binnennachfrage im Reich der Mitte kaum machbar? Warum findet trotz aller Sonntagsreden chinesischer Parteifunktionäre, die immer wieder eine rasche Belebung des Konsums propagieren, der immer wieder angemahnte Anstieg des Anteils des Binnenkonsums am BIP nicht statt? Bei der Beantwortung dieser Frage lohnt ein Blick ins südostasiatische Kambodscha, wo zum Jahreswechsel Streiks und Proteste von Textilarbeitern vom Militär zusammengeschossen wurden. Viele der demonstrierenden Arbeiter, die höhere Löhne als die landesüblichen 80 US-Dollar forderten, waren für chinesische Textilunternehmer tätig, die ihre Produktionsstätten nach Kambodscha verlagerten, da die dort ansässigen Arbeiter nur rund ein Drittel der Löhne ihrer chinesischen Kollegen erhalten. Das steigende Lohnniveau der chinesischen Facharbeiter lässt Tendenzen der Betriebsverlagerung entstehen. Das zieht wiederum Potential für den Binnenkonsum aus China ab und verstärkt die interne Einkommenshierarchie – wir kennen diese Prozesse aus Europa zu Genüge.

Das Millionenheer chinesischer Industriearbeiter kann also nur mit Niedriglöhnen international konkurrenzfähig produzieren. Bereits jetzt sind viele der in China tätigen Exportunternehmen – wie etwa der wegen seiner brutalen Arbeitsbedingungen berüchtigte IT-Auftragsfertiger Foxconn – dabei, ihre Standorte aufgrund steigender Löhne in die unterentwickelten chinesischen Ostprovinzen oder gleich ins billigere Ausland zu verlagern. Foxconn-Chef Terry Gou kündigte Mitte Februar an, eine große Smartphone-Fabrik in Indonesien zu errichten – und sie hauptsächlich mit Industrierobotern auszustatten. Dies soll nach dem Willen des Konzernchefs nur ein erster Schritt in Richtung einer umfassenden Automatisierungsoffensive sein. „Wir haben eine Million Arbeiter“, tönte Gou auf einer Investorenkonferenz Ende 2013, „in der Zukunft werden wir eine Million Roboter haben.“ Inzwischen ist eine Kooperation zwischen dem Internetgiganten Google – der vor Kurzem die Roboterfirma Boston Dynamics übernommen hat – und Foxconn bekannt geworden, die gerade die schnelle Durchsetzung dieser Automatisierungswelle ermöglichen soll. Nur mit absolut niedrigen Löhnen können Chinas Facharbeiter mit den immer besser und billiger werdenden Robotern „konkurrieren“. Eine nachfrageorientierte Ausrichtung der chinesischen Volkswirtschaft nach dem Vorbild der westlichen Konsumgesellschaften der 50er oder 60er Jahre – bei der Chinas Arbeiter genügend verdienen würden, um die selbst produzierten Waren auch zu konsumieren – scheitert somit letztendlich an dem hohen Produktivitätsniveau, das die globalisierte Weltwirtschaft inzwischen erreicht hat.

Bubble-Economy

Bis jetzt lief es mit dem kreditbefeuerten Wachstum ganz gut für die Volksrepublik. Doch entscheidend ist nicht die beeindruckende Aufstiegsphase, sondern der unweigerlich bevorstehende Fall, der jeder Blasenbildung folgt. Die Entwicklung in China ist Teil der globalen Blasenökonomie, die der nachfrageorientierte US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman in einem Beitrag für die New York Times kritisierte. Angesichts der gegenwärtig zusammenbrechenden Spekulationen in vielen Schwellenländern sprach Krugman von einem „Zeitalter der Blasen“, in dem sich die gesamte Weltwirtschaft befinde.

Die sich immer deutlicher abzeichnende Schuldenkrise in China birgt übrigens – zusammen mit den einsetzenden Verwerfungen in vielen Schwellenländern – auch für das exportfixierte deutsche „Geschäftsmodell“ ein enormes Krisenpotenzial. Bekanntlich konnte Deutschlands Exportindustrie die einbrechende Nachfrage im krisengeschüttelten Europa, das von der Bundesregierung auf eine wirtschaftlich und sozial verheerende Hungerdiät gesetzt wurde, durch einen raschen Anstieg der Exporte im außereuropäischen Ausland kompensieren. Neben den USA waren hiervon China, Südostasien und viele Schwellenländer betroffen. Die deutschen Ausfuhren nach China sind von 5,6 Milliarden 1996 über 27,5 Milliarden 2007 bis auf 66,6 Milliarden 2012 angestiegen. Der chinesische Absatzmarkt spielt insbesondere für den deutschen Maschinenbau und die Fahrzeugindustrie eine wichtige Rolle. Diese Neuausrichtung der deutschen Exportströme wird auch an dem Wachstum der Ausfuhren in alle BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) deutlich, deren Anteil am Gesamtexport Deutschlands von 4,3 Prozent in 1996 auf 11,4 Prozent in 2011 hochschnellte.

Insgesamt umfassten die deutschen Exporte in Länder außerhalb der EU 2012 bereits circa 44 Prozent der deutschen Gesamtausfuhren. Der Anteil der Ausfuhren in den europäischen Währungsraum sank krisenbedingt von 42,8 Prozent 2008 über 39,7 Prozent 2011 auf knapp 38 Prozent 2012. Diese erfolgreiche Neuausrichtung der deutschen Absatzmärkte versetzte die deutsche Politik überhaupt erst in die Lage, Europa eine derart harte „Sparpolitik“ aufzuoktroyieren. Doch nun dürfte sich diese Strategie angesichts der Blasenbildung in der Volksrepublik und der unübersehbaren Krisentendenzen in vielen Schwellenländern bitter rächen. Deutschland weist inzwischen neben Italien die europaweit höchste Exportabhängigkeit von dieser krisengebeutelten Region auf. Die drohende Schuldenkrise in der Volksrepublik dürfte somit auch das exportfixierte deutsche „Geschäftsmodell“ in Schieflage bringen.

Es sind aber nicht nur die oben dargelegten inneren Schranken, die ein selbsttragendes Wachstum in China verunmöglichen. Der ungeheure Wachstumszwang, der dem mit brachialen, sozialen Gegensätzen einhergehendem Entwicklungsmodell Chinas innewohnt, stößt immer stärker auch an „äußere“, an ökologische Grenzen. Der ungeheure Raubbau an der Natur findet seinen sichtbarsten Ausdruck in der extremen Luftverschmutzung, die viele der fossil versorgten Megametropolen Chinas plagt. Der Großraum Peking, der im vergangenen Jahr an 189 Tagen unter Smog litt, wurde in einem Bericht der Schanghaier Akademie für Sozialwissenschaften als „für Menschen kaum bewohnbar“ eingestuft. Die Feinstaubwerte in der Region haben im vergangenen Januar mehrmals die Grenze von 500 Mikrogramm pro Quadratmeter überschritten. Gesundheitlich unbedenklich sind laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Werte bis 10 Mikrogramm pro Quadratmeter, einer Feinstaubbelastung von 25 Mikrogramm sollen sich Menschen der WHO zufolge nicht länger als 24 Stunden aussetzen. Die zwanzigfache Überschreitung, die die Sichtweite in Peking auf wenige hundert Meter reduziert, führt zu Autobahnsperrungen und der Empfehlung der Stadtverwaltung, Kinder und alte Menschen sollten sich nicht im Freien aufhalten. Auf den Bericht der Schanghaier Akademie für Sozialwissenschaften reagierten die staatlichen Stellen mit der Anweisung an die Medien, den Bericht zu entfernen. Wenn nur alles so einfach zu steuern wäre in der größten Wachstumsökonomie der Welt.

aus: Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin

image_print