Aufwachen im Blasenland

von Tomasz Konicz

Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich seit einigen Monaten in heller Aufregung. Ein anscheinend neuartiges theoretisches Konzept, das auf den Begriff der „lang anhaltenden Stagnation“ (Secular Stagnation) gebracht wurde, scheint die Analyse der gegenwärtigen Krise voranzutreiben. Fast scheint es so, als hätte die Ökonomenzunft, deren Modelle und ideologische Postulate zumeist den Wahrheitsgehalt schamanischer Beschwörungsformeln aufweisen, endlich ihren Stein der Weisen gefunden, mit dem all das erklärt werden kann, was es ihrer als „Wissenschaft“ verbrämten Ideologie zufolge eigentlich nicht geben dürfte (Säkulare Stagnation und Bubbles forever).

Seitdem der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers bei einer Tagung des Internationalen Währungsfonds die Frage aufwarf, ob sich der Kapitalismus eventuell doch in einer langfristigen Stagnationsphase befinden könnte, scheint ein regelrechtes Tabu gefallen zu sein: Plötzlich diskutiert – zumindest im angelsächsischen Raum – die Wirtschaftspresse über das nicht mehr zu ignorierende Faktum, dass der globale Kapitalismus sich in einer schweren Strukturkrise befindet, die sich eben in einer Periode lang anhaltender Stagnation äußert.

Nicht alle applaudieren: Für das Wall Street Journal (WSJ) stellt die Idee der lang anhaltenden Stagnation schlicht „Humbug“ dar. Das Konzept sei schon in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, während der bislang schwersten Weltwirtschaftskrise des kapitalistischen Weltsystems, ausgebrütet worden, bemerkte das erzkonservative Wirtschaftsblatt zu Recht. Die Märkte für die Verfehlungen der Politik verantwortlich zu wachen, sei „jetzt genauso wenig überzeugend wie in den 1930ern“.

Doch steht das WSJ mit seiner Kritik an dem Konzept der Secular Stagnation und der Wirtschaftspolitik der Regierung Obama, die für die schwache „Erholung“ nach dem Kriseneinbruch 2008/09 verantwortlich gemacht wird, inzwischen weitgehend alleine dar. Führende Wirtschaftszeitungen wie die Financial Times, die Washington Post oder auch der Economist sind inzwischen durchaus bereit, sich mit der Hypothese der lang anhaltenden Stagnation offen auseinanderzusetzen und Summers ein Forum für seine Argumentation zu liefern.

„Neue Normalität“

Die Thesen, die Summers propagiert, rühren auch tatsächlich an etlichen in den „Wirtschaftswissenschaften“ aufgestellten Dogmen und Tabus. Demnach befinde sich die Weltwirtschaft in einer Periode der Stagnation, die durch „stockendes“ Wachstum, ein schwaches Beschäftigungsniveau und ein „problematisch niedriges Zinsniveau“ geprägt seien. Dieser Zustand könne laut Summers noch über „eine ziemlich lange Zeit“ anhalten. In der Financial Times sprach er gar von der Stagnation als einer „neuen Normalität“.

Was Summers Argumentation aber so außergewöhnlich macht, ist das für seine Zunft neuartige Verständnis der Finanzblasen der vergangenen Jahrzehnte, wie auch der derzeitigen, sehr expansiven Geldpolitik. Summer hat es als erster prominenter Ökonom tatsächlich gewagt, die historische einmalige expansive Geldpolitik, die einer gigantischen Gelddruckerei gleichkommt, wie auch die Finanzblasen der vergangenen Jahrzehnte zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit zu erklären. Spekulationsblasen und eine lockere Kreditpolitik hätten in der vergangenen Dekade nur ausgereicht, um „moderates Wachstum“ zu generieren, so Summers in einem Kommentar für die Financial Times. Ohne die Unterstützung durch „unkonventionelle Politik“ (Negativzinsen und Gelddruckerei in historisch beispiellosem Ausmaß) würden die USA und die wichtigen globalen Volkswirtschaften nicht mehr in der Lage sein, „zu Vollbeschäftigung und starkem Wachstum“ zurückzukehren.

In einem Interview mit der Washington Post machte Summers zudem klar, dass die „normalen selbstregulativen Eigenschaften der Wirtschaft“ nicht mehr ausreichen würden, um Beschäftigung und „finanzielle Stabilität“ aufrechtzuerhalten. Die ist eine kaum verhüllte Umschreibung für Marktversagen. Er stützt sich dabei auf die Idee des Ökonomen Alvin Hansen, der in den 1930ern die Idee der Secular Stagnation einführte, die aber „durch den unglaublichen Auftrieb der Nachfrage nach Konsum und Investitionsgütern“ nach dem Zweiten Weltkrieg erledigt schien. Doch nun müsse man Stagnation erneut als ein „globales Problem der industrialisierten Welt“ begreifen, so Summers.

Von besonderer Bedeutung seien vor allem die Spekulationsblasen gewesen, die sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem wichtigen Wachstumsmotor entwickelt hätten. Dabei wäre es angesichts ihrer Dimensionen ungewöhnlich gewesen, dass deren realwirtschaftlichen Auswirkungen so schwach ausgefallen seien:

Einer der Gründe für meine Besorgnis besteht darin, dass wir vor der Finanzkrise, als sich die Mutter aller Blasen auf dem Immobilienmarkt entwickelte, unser Wachstum nur auf ein adäquates Niveau heben konnten, aber es war nicht genug, um irgendeine Art von Überhitzung zu erschaffen … . Stellen Sie sich die Wirtschaft zwischen 2003 und 2007 ohne die Konsequenzen der Immobilienblase und lockerer Geldpolitik vor. Die Investitionen in dem Immobiliensektor wären um zwei bis drei Prozentpunkte des BIP niedriger gewesen, und die Ausgaben für den Konsum wären ebenfalls niedriger, was zu einer sehr inadäquaten Performance geführt hätte.
Larry Summers

Im Klartext: Die größte Spekulationsblase aller Zeiten hat die US-Wirtschaft vor deren Platzen gerade mal auf Wachstumskurs gehalten; ohne deren stimulierende – und schuldenfinanzierte! – Effekte wäre die amerikanische Volkswirtschaft bereits zum Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Krise gleich nach dem Platzen der Dot-Com-Blase im Jahr 2000 versunken. Larry Summers findet sich somit unversehens im Blasenland wieder, in einer Ökonomie, die von Blasenbildung und den korrespondierenden Verschuldungsprozessen abhängig ist. Kein Wunder also, dass konservative Blätter die das Wall Street Journal so allergisch auf diese Erkenntnisse reagieren – denn sie implizieren offensichtlich, dass die herrschende „Wirtschaftsordnung“ sich in einer fundamentalen Krise befindet.

Ähnlich argumentiert der bekannte US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times, der angesichts der gegenwärtig zusammenbrechenden Spekulationen in vielen Schwellenländern ein globales „Zeitalter der Blasen“ konstatierte. In einem Blogbeitrag verfolgte Krugman die Spur dieser Blasenökonomie über die Internetaktienblase der 90er Jahre bis in die 1980er Jahre zurück, in die „späten Jahre der Reagan-Expansion“. Auch Krugman tendiert inzwischen dazu, der Argumentation von Summers zuzustimmen, da es trotz Blasenbildung keine Anzeichen für eine „überhitzte Ökonomie“ gegeben habe:

Wie kannst du wiederholte Blasenbildung mit einer Ökonomie in Einklang bringen, die keine Anzeichen inflationären Drucks aufweist. Summers Antwort besteht darin, dass wir uns in einer Ökonomie befinden, die Blasen benötigt, um nahezu Vollbeschäftigung zu erzeugen – dass bei fehlenden Blasen die Ökonomie einen negativen Zinsfuß aufweist. Und das war nicht nur seit der Finanzkrise von 2008 wahr; es ist wohl wahr seit den 1980ern, wenn auch mit einer zunehmenden Intensität.
Paul Krugman

Krise der Arbeitsgesellschaft der Aufstieg der Finanzblasenökonomie

Die Krise ist laut Krugman nicht sechs Jahre, sondern 30 Jahre alt; es handelt sich um einen langfristigen Krisenprozess. Worauf die – plötzlich im Blasenland erwachenden – Herrn Ökonomen sich hier mühselig zubewegen, ist die Wahrnehmung der äußeren Auswirkungen der fundamentalen Systemkrise, in der das spätkapitalistische System gefangen ist. Telepolis-Leser konnten schon 2008 diese krisenbedingten Zusammenhänge zwischen Blasenbildung und Konjunkturentwicklung nachlesen, die nun von Summers und Krugman neu „entdeckt“ werden.

Worauf die beiden Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft hier stießen, sind die Folgen der tief greifenden Krise der Arbeitsgesellschaft, die den Kapitalismus an eine „innere Schranke“ seiner Entwicklungsfähigkeit stoßen lässt. Dank der mikroelektronischen Umwälzung der gesamten Gesellschaft wird das Kapital schlicht arbeitslos. Die mit dem Aufkommen der IT-Revolution immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt tendenziell auf globaler Ebene dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz seit den 1980er Jahren – zeitgleich mit dem Aufkommen der nun auch von Summers und Co. wahrgenommenen Finanzblasenökonomie – immer weiter. Der Kapitalismus produziert sozusagen eine überflüssige Menschheit – auf globaler Ebene.

Diese Entwicklung kennzeichnet einen fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise. Auch wenn die bürgerliche „Wirtschaftswissenschaft“ sich immer noch weigert, dies zu begreifen: Die Lohnarbeit bildet nun mal die Substanz des Kapitals – doch zugleich ist das Kapital bemüht, durch Rationalisierungsmaßnahmen die Lohnarbeit aus dem Produktionsprozess zu verdrängen. Marx hat für diesen autodestruktiven Prozess die geniale Bezeichnung des „prozessierenden Widerspruchs“ eingeführt. Dieser Widerspruch kapitalistischer Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der Lohnarbeit seine eigene Substanz durch Rationalisierungsschübe minimiert, ist nur im „Prozessieren“, in fortlaufender Expansion und Weiterentwicklung neuer Verwertungsfelder der Warenproduktion aufrechtzuerhalten. Derselbe wissenschaftlich-technische Fortschritt, der zum Abschmelzen der Masse verausgabter Lohnarbeit in etablierten Industriezweigen führt, ließ auch neue Industriezweige oder Fertigungsmethoden entstehen. Doch genau dies funktioniert nicht mehr, nachdem sich die Lohnarbeit aufgrund der Rationalisierungsschübe der mikroelektronischen Revolution innerhalb der Warenproduktion verflüchtigt. Letztendlich ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden.

Und genau deswegen setzt zeitgleich mit der Krise der Arbeitsgesellschaft der Aufstieg der Finanzblasenökonomie ein: Der wuchernde Finanzsektor generierte so die – schuldenfinanzierte – Nachfrage, die der hyperproduktiven Warenproduktion wegbrach. Die von Summers konstatierte Ausbildung einer finanzmarktgetriebenen Blasenökonomie und des korrespondierenden riesigen Schuldenbergs im globalen Maßstab kann folglich als eine Systemreaktion auf einen nicht mehr erfolgreich stattfindenden Strukturwandel in den Industrieländern aufgefasst werden.

Aus dem erläuterten „prozessierenden Widerspruch“ der Warenproduktion resultiert ein industrieller Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Kapitalverwertung und Lohnarbeit eröffneten. Über einen bestimmten Zeitraum hinweg besaßen bestimmte Industriesektoren und Fertigungsmethoden die Rolle eines Leitsektors, bevor diese durch andere, neue Industriezweige abgelöst wurden: So erfahren wir seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert einen Strukturwandel, bei dem die Textilbranche, die Schwerindustrie, die Chemiebranche, die Elektroindustrie, der Fahrzeugbau, usw. als Leitsektoren dienten, die massenhaft Lohnarbeit verwerteten. Mit der IT-Revolution scheiterte der industrielle Strukturwandel. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden. Die Produktivkräfte sprengen somit die Fesseln der Produktionsverhältnisse, um hier Marx zu paraphrasieren. Dieses System stößt an eine innere Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit.

Falsche Harmonielehre

Die Wahrnehmung der Krisensymptome durch Krugman und Summers bedeutet aber mitnichten, dass es selbst den nachfrageorientierten – und in Relation zur sonstigen Zunft geistig eher aufgeschlossenen – Ökonomen umgehend gelingen würde, diese Ursachen der Systemkrise zu begreifen. Summers hält sich bei der Ursachensuche auffallend zurück, während Krugman absurderweise mit demografischen Argumenten zu hantieren versucht, um in Anlehnung an Alvin Hansen – den erwähnten Erfinder der Stagnationsthese – die Stagnation auf ein abnehmendes Bevölkerungswachstum zurückzuführen. Wie würde sich dann aber die Wachstumsdynamik des von der Ein-Kind-Politik geprägten Chinas in den vergangenen Dekaden erklären lassen?

Auch Adair Lord Turner, ehemaliger Präsident der britischen Bankenaufsicht, kommt über die Beschreibung des Phänomens einer Weltwirtschaft, die immer mehr Schulden aufnehmen muss, um noch ausreichend Wachstum zu generieren, nicht hinaus. Es sind ja gerade keine Investitionen in die Warenproduktion, die die Verschuldungsdynamik antrieben, sondern Hypothekenkredite oder Konsumkredite, wie Patrick Bernau in der FAZ am Beispiel Großbritanniens mit Verweis auf Adair Lord Turner, den ehemaligen Präsidenten der britischen Bankenaufsicht, darlegte. Turner nennt drei Faktoren, die seiner Meinung nach zu dieser zunehmenden „Schuldensucht“ des spätkapitalistischen Systems führten.

„Warum braucht Wachstum heute so viel Kredit? Turner nennt drei Gründe:* den Kauf bestehender Immobilien. Mit immer neuen Krediten können die Leute immer mehr Immobilien kaufen und die Immobilienpreise steigen immer weiter, obwohl volkswirtschaftlich – wie beschrieben – nichts investiert wird.

* die hohe Ungleichheit. Während reiche Leute mit hohem Einkommen ihr Geld nicht ausgeben, sondern zur Bank bringen, kaufen arme Leute viel auf Kredit – ein Mechanismus, den Raghuram Rajan so ähnlich beschrieben hat.

* die Ungleichgewichte zwischen den Ländern. Sie führen dazu, dass sich einzelne Länder hoch verschulden, um Waren in anderen Ländern zu kaufen.“

Hier werden offensichtlich Krisenfolgen – wie die Spekulationsdynamik, die zunehmenden internationalen Ungleichgewichte und die eskalierende soziale Ungleichheit – mit den Ursachen der Krise verwechselt. Vor einer tiefer gehenden Ursachensuche schreckt das durch die Volkswirtschaftsehre präformierte Bewusstsein offensichtlich zurück. Die bürgerliche Ökonomie erweist sich – mal wieder – als ein regelrechtes Gedankengefängnis, dessen Insassen nur Oberflächenphänomene wahrnehmen können.

Ähnlich bieder muten die Rezepte aus der keynesiansichen Mottenkiste der 1970er Jahre an, die etwa Summers und Krugman als Gegenmaßnahmen propagieren. Krugman wie Summers plädieren für eine Ausweitung staatlicher Konjunktur- und Investitionsprogramme. Man müsse die „Chance zur Erneuerung unserer Infrastruktur“ aufgreifen, und das „Nachfrageniveau anheben“, forderte Summers in einem Kommentar für die Financial Times. Summers tut hier gerade so, als ob es die gigantischen Konjunkturprogramme nicht gegeben hätte, die nach Krisenausbruch 2008 und 2009 aufgelegt wurden – und die ein Volumen von rund 4,7 Prozent der damaligen jährlichen Weltwirtschaftsleistung umfassten (Hurra, der (Pseudo-) Aufschwung ist da!). Die Staaten legten also bereits umfassende Investitionsprogramme auf, nur erwiesen sie sich als ein kurzfristiges wirtschaftliches Strohfeuer.

Fasst scheint es so, als ob diese renommierten Wirtschaftswissenschaftler vor der Radikalität der Implikationen zurückschrecken würden, die aus den von ihnen gemachten Beobachtungen resultierten. Larry Summers habe ein „sehr radikales Manifest“ verfasst, so Krugman in seinem diesbezüglichen Blogeintrag: „Und ich fürchte sehr, dass er recht haben könnte.“ Offensichtlich dämmert es einigen Ökonomen, dass ein System buchstäblich „in der Schwebe“ hängt, das nur noch vermittels der heißen Luft aufrechterhalten werden kann, die immer neue Spekulationsblasen produziert.

Die Unfähigkeit dieser Ökonomen, die Ursachen der endlich zur Kenntnis genommenen Krisensymptome in der Krise der Arbeitsgesellschaft zu verorten, ist auf die Grundannahmen des Ideologiegebildes zurückzuführen, das gemeinhin als Volkswirtschaftslehre bezeichnet wird. In dieser Wissenschaft finden sich zwei Momente wieder, die in der gegenwärtigen Krise zunehmend in Widerspruch zueinander geraten: Einerseits das Bemühen, das bestehende System zu verstehen, um es zu optimieren, und anderseits die stumme Vorgabe, es zu legitimieren und als alternativlos darzustellen. Deswegen wird der Kapitalismus als ein quasi „natürliches“, der menschlichen Natur des homo oeconomicus (hierbei soll es sich um eine Art Raubaffen handeln, der auf ewiger Jagd nach größtmöglichem Profit die Welt durchstreifen soll) gemäßes Wirtschaftssystem dargestellt.

Dieses angeblich „natürliche“ Wirtschaftssystem, das – ein kurzer Blick in ein Geschichtsbuch müsste da eigentlich genügen – erst vor drei Jahrhunderten seinen vollen gesamtgesellschaftlichen Durchbruch erlebte, gilt der Volkswirtschaftslehre allen Krisen zum Trotz als potenziell widerspruchsfrei und harmonisch. Die Märkte würden demnach in einem „Gleichgewicht“, in einer Ära der Harmonie, auf ewig prosperieren – wenn man sie denn nur ließe! Der einzige Unterschied zwischen Keynesianern wie Krugman und neoliberalen Hardlinern wie etwa Hans Werner Sinn besteht darin, dass die Ersteren den Staat und seine Regulationsfähigkeiten als Teil dieser natürlichen Ordnung wahrnehmen, während die Letzteren den Staatsapparat tendenziell als einen Fremdkörper in der geheiligten Marktwirtschaft imaginieren. Daraus resultiert die Tendenz in der gesamten Volkswirtschaftslehre, die grundlegenden Kategorien und Vergesellschaftungsformen, die das Kapital in den vergangenen rund 300 Jahren hervorgebracht hatte, als unabänderlich und natürlich anzusehen – sie werden nicht hinterfragt. Dies gilt vor allem für die als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommene Lohnarbeit, deren Krise die Wurzel der „lang anhaltenden Stagnation“ bildet.

Angesichts dieser Denkhürden, die die Volkswirtschaftslehre den Ökonomen aufwirft, stellt die bloße Wahrnehmung der Stagnation tatsächlich ein „radikales Manifest“ dar. Summers stellt tatsächlich die scheinbar natürliche Ordnung der Dinge infrage, wenn er eine durch Marktkräfte bedingte Stagnationsphase konstatiert. Das Bemühen Summers, das offensichtlich kriselnde System zu verstehen, rührt somit an der Vorgabe der Systemapologetik. Dies erklärt auch die heftigen Reaktionen des Wall Street Journals und vieler konservativer Ökonomen. Unsere Ökonomenzunft gleicht somit der Theologie des ausgehenden Mittelalters, die sich darüber streitet, ob Gott die Erde tatsächlich im Zentrum des Universums platziert hat oder eben nicht.

Die Stagnationsthese stellt somit einen weiteren Beweis für die geistige Bankrotterklärung dar, die die bürgerliche Ökonomie spätestens mit dem manifesten Krisenausbruch ab 2008 abgeben musste. Die „Wirtschaftswissenschaften“ haben rund sechs Jahre gebraucht, um nach dem bislang stärksten Krisenschub überhaupt zu der offensichtlichen Erkenntnis vorzustoßen, dass mit der geheiligten Marktwirtschaft irgendetwas fundamental nicht stimmen könnte. Vielleicht sollten sich die Hohepriester des Kapitalkultes ein paar Anregungen bei der Konkurrenz im Vatikan abholen, denn die Krisenanalyse des Papstes – bei der immerhin vom „Fetischismus des Geldes“, „überflüssigen Menschen“ und einer „Wirtschaft der Ausschließung“ die Rede ist – kommt der Realität um ein Vielfaches näher als alle Hervorbringungen derjenigen Experten, die die Zeilen der Wirtschaftspresse vollschreiben dürfen.

Dabei stellen Ökonomen wie Krugman, die sich mit dem Faktum einer Systemkrise auseinandersetzen, schon den progressiven Flügel dieser Zunft dar. In der deutschen Wirtschaftswissenschaft, deren Volkswirtschaftslehre den Realitätsgehalt eines Grimmschen Märchens angenommen hat, wird die Stagnationsthese gerne rundweg bestritten. Längst hat man sich hierzulande angewöhnt, die Volkswirtschaftslehre als eine theoretische Unterabteilung der Betriebswirtschaftslehre zu behandeln, bei der Nationen Unternehmen gleich ein „Geschäftsmodell“ haben müssen und sich ausschließlich an der Weltmarktkonkurrenz zu orientieren haben.

Wie tief man hierzulande in ideologischer Verblendung sinken kann, macht die einstmals als linksliberal geltende deutsche Zeitschrift Die Zeit auf ihrer Internetpräsenz klar. Die von Summers aufgeworfenen Fragen bezeichnete das Blatt schlich als eine „Entschuldigung fürs Schuldenmachen“. Stattdessen soll der Krise mit Sparpolitik und mehr Arbeit begegnet werden: „Aus der Krise kommt der Westen nur auf altmodische Art: Er muss sich neuen Wohlstand verdienen.“ Auf die Krise der Arbeitsgesellschaft wird hier letztendlich mit einem Aufruf zur Mehrarbeit reagiert. Hier, bei solcher deutschen Krisenideologie, fungiert eine zur nackten Weltanschauung verkommende „Ökonomie“ nur noch als Projektionsfläche für Ressentiments. Absurd etwa die Einschätzung der Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik und in der Eurozone, die ja von der Bundesregierung auf neoliberale Spardiät gesetzt wurde:

Und Europa? Fährt überall gut, wo Reformer der Wirtschaft neue Kraft verleihen. Spanien und Portugal etwa sind heute im internationalen Wettbewerb stärker als vor fünf Jahren. Und wer würde in Deutschland schon von anhaltender Arbeitslosigkeit und Stagnation reden?
Die Zeit

In den Redaktionsstuben der Zeit scheint die spätkapitalistische Welt trotz Arbeitslosenquoten von rund 30 Prozent (Spanien) noch in Ordnung, auch wenn man sich der totalen Realitätsverweigerung hingeben und hierbei sogar das eingangs erwähnte Wall Street Journal unterbieten muss. Die Grundlage dieses Fiebertraums eines durch Sparwut erstarkenden Europas stellen natürlich die deutschen Export- und Leistungsbilanzüberschüsse dar, mit denen auch Verschuldung und Arbeitslosigkeit exportiert werden – und die hierzulande die Illusion einer intakten Arbeitsgesellschaft aufkommen lassen, wie es inzwischen sogar einem FAZ-Autor dämmert

Somit dürfte evident sein, dass die nachfrageorientierte Ökonomie eines Paul Krugman (oftmals auch als Keynesianismus bezeichnet) dem brutalen neoliberalen Spardiktat vorzuziehen ist, obwohl sie ebenfalls von ideologischen Verzerrungen geprägt ist. Die Keynesianer merken zumindest noch, dass der Kapitalismus sich in einer schweren strukturellen Krise befindet, während viele Neoliberale – insbesondere in Deutschland – zu verblendet sind, um dies überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Zudem weist insbesondere die von Krugman favorisierte nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik ein fortschrittliches Element auf, das als Ausgangspunkt einer Systemtransformation dienen könnte:
Die Betonung der Bedürfnisse der Menschen, die laut Krugman befriedigt werden könnten, ohne dass irgendwer unter einem Sparterror leiden müsste. Dieses Postulat ist aufgrund der ungeheuren Produktivitätsschübe der IT-Revolution sicherlich richtig, aber nur jenseits der gerade an dieser Produktivität erstickenden kapitalistischen Produktionsweise zu realisieren.

Der Neoliberalismus hingegen bildet mit seiner Propagierung immer neuer Sparpakete, mit seiner Forderung nach totaler und sinnloser Unterwerfung unter die Imperative einer kollabierenden Wirtschaftsunordnung, die ideale Ausgangsbasis für das Erstarken autoritärer und extremistischer Kräfte, wie es derzeit überall im rezessionsgeplagten Europa auch beobachtet werden kann.

Telepolis 19.2.2014

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