Konkurrenz statt Solidarität

von Friederike Habermann

Die Frau schreibt einen Brief, doch dann fällt ihr der Stift zu Boden. Sie beugt sich über den Schreibtisch und versucht, nach ihm zu greifen, schafft es aber nicht. Da erkennt der kleine Junge, dass er ihr helfen kann. Er geht zum Stift, hebt ihn auf und reicht ihn der Frau. Es handelt sich um ein Experiment mit 20 Monate alten Kindern: In einer ersten Phase zeigen sich fast alle hilfsbereit gegenüber Erwachsenen, denen Gegenstände entgleiten und die sich scheinbar vergeblich bemühen, sie wieder aufzuheben. Danach werden die Kinder willkürlich auf drei Gruppen verteilt: In der ersten reagiert die erwachsene Person gar nicht auf die Hilfe des Kindes, in der zweiten lobt sie das Kind und in der dritten belohnt sie es mit einem Spielzeug. Ergebnis: Während die Kinder der ersten und zweiten Gruppe weiterhin wie selbstverständlich helfen, zeigen die Kinder der dritten Gruppe überwiegend nur noch dann Hilfsbereitschaft, wenn sie dafür belohnt werden (Warneken/Tomasello 2008).

»Die Szene ist rührend«, beginnt der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch Die Kunst, kein Egoist zu sein sein Kapitel »Was Geld mit Moral macht«. Gemeint ist zunächst ein ganz ähnlicher Versuch mit 14 Monate alten Kindern, die Erwachsenen helfen, eine Schranktür zu öffnen (Precht 2010: 314ff). Wer möchte, kann sich diese Experimente des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie im Internet anschauen.1 Doch das mit der dritten Kindergruppe findet sich dort nicht, und offen gestanden: Ich würde es nicht sehen wollen. Es wäre mir zu traurig. In einem Artikel mit dem Titel Der Gummibärcheneffekt über »monetäre Anreize für Mitarbeiter« findet sich im Internet auf der »Plattform für Innovationskultur« folgendes »Debakel, das der Wissenschaft lange bekannt ist«: »Man erzähle auf einem Kindergeburtstag eine spannende Geschichte von Piraten, Drachen und einem versunkenen Schatz. Anschließend lässt man die Kinder Bilder zur Geschichte malen. Die Kinder stürzen sich auf das Papier und zeichnen passioniert Piratenbuchten, Seeungeheuer und detaillierte Flotten von Piraten-schiffen. Nun wird das Experiment variiert, und man führt ein Incentive-System ein. Für jedes fertige Bild bekommt das Kind ein Gummibärchen. Zunächst ist die Begeisterung groß, doch schlagartig werden zwei Typen von Kindern sichtbar: Die Künstlerpersönlichkeiten arbeiten weiter mit gleichem Eifer an ihren Kunstwerken und nehmen die Belohnung als positiven Nebeneffekt mit. Die Unternehmerpersönlichkeiten hingegen steigen in die Massenproduktion ein: Nach dem Motto ›Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht‹ werden die Bilder immer schlampiger und schneller produziert. Als Zeichen ihres Erfolges türmen die Unternehmerpersönlichkeiten Gummibärchen vor sich auf. Die völlig in ihren Bildern vertieften Künstlerpersönlichkeiten nehmen im Augenwinkel die Gummibärchenberge der Kollegen wahr und verlieren langsam, aber sicher die Lust an den Details ihrer Werke […]. Es folgt die letzte Phase des Experiments: Die Spielregeln werden erneut geändert, erklärt, dass die Gummibärchen aufgebraucht sind. Schlagartig verlieren nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Künstler ihre Motivation. Die Einführung und Abschaffung eines Incentive-Systems hat aus einer hoch motivierten Rasselbande einen mies gelaunten Mob gemacht.«2

Experimente mit Erwachsenen laufen auf Ähnliches hinaus. So hatte der Ökonom Uri Gneezy bemerkt, dass im Kindergarten seiner dreijährigen Tochter die Einführung einer Strafgebühr für Eltern, die ihr Kind nachmittags zu spät abholten, nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte. Daraufhin ließ er gemeinsam mit seinem Kollegen Aldo Rustichini in Haifa, Israel, in zehn anderen Kindergärten prüfen, wie viele Eltern zu spät kamen. Dann wurde ab einer Verspätung von zehn Minuten jeweils ein Bußgeld von zehn Schekel (etwa zwei Euro) eingeführt. Ergebnis: Nun kamen im Schnitt mehr als doppelt so viele Eltern zu spät. Und selbst nachdem das Bußgeld wieder abgeschafft wurde, blieb es dabei. Was vorher eine soziale Qualität gewesen war – die betreuende Person nicht warten zu lassen –, war nunmehr zu einer Quantität degradiert, die das Verantwortungsgefühl noch weniger stimulierte. Dass es das »Zuspätkommen« dann wieder »umsonst« gab, mag den Eltern wie ein Sonderangebot erschienen sein (Gneezy/Rustichini 2000).Precht spricht von der »seltsamen Macht des Geldes«: Es zerstöre in uns »den Sinn für […] die individuellen Qualitäten, für das Seltene und Flüchtige, für den Moment, für die Nähe und so weiter. Alles klingt farblos und indifferent, wo das Geld den Taktstock schwingt. Das Leben erscheint völlig versachlicht – so sehr, dass alles außer dem Geld an Bedeutung verliert« (Precht 2010: 319).

Auch von Wirtschaftswissenschaftlern durchgeführte Kooperationsspiele mit Erwachsenen widersprechen zunächst dem ihrer Disziplin zugrunde liegenden Menschenbild des Homo oeconomicus, welcher stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist; stattdessen zeugen sie von der Neigung, sich fair zu verhalten – allerdings nur solange, bis der erste Egoist auftritt (vgl. Precht 2010: 394f)3. Dabei ist es keine Überraschung, dass beim Vergleich mit anderen Studierenden die Studie renden der Wirtschaftswissenschaften die ersten sind, die in solchen Spielsituationen die Kooperation aufgeben und unkooperative Strategien beginnen: Der Homo oeconomicus ist das, was sie tagtäglich lernen.

aus: „Wir werden nicht als Egoisten geboren“ in:
Silke Helfrich und die Heinrich-Böll-Stiftung:
Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat
Bielefeld : Transcript Verlag

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