unterwegs entwegt – und vice versa

Homestory

von Severin Heilmann

Im Zug. Mein Blick streicht über die vorbeiziehende Landschaft. „Vorbeiziehend“… – als Bub hielt ich jedes Mal den Atem an, als sich der Zug unmerklich rückwärts in Bewegung setzte, Fahrt aufnahm und in die Schalterhalle zu krachen drohte. Irgendwann ließ ich mich von den abfahrenden Garnituren am Nebengleis nicht mehr beirren. Fensterplätze blieben aber bevorzugte Wahl, namentlich jene in Fahrtrichtung. In dieser Situierung schiebt sich dem Betrachter vom Horizont her die unbekannte Landschaftsmasse bedächtig näher, gibt sich erkennbare Kontur, zerbricht in Einzeldinge, zerfällt in definierte Details und entzieht sich in ihrer größten Annäherung, rasend zersplitternd jetzt, dem gerade noch gesondert Fassbaren; fegt vorbei, unerkannt, unergründlich.

Inzwischen hab ich den gegenüberliegenden Sitzplatz lieb gewonnen, auf dem mich früher zuweilen unerklärliche Beklemmung überkam. Von hier nimmt der Vorbeizug den entgegen gesetzten Lauf: da platzt etwas ins Gesichtsfeld, wird erfasst, rasch kleiner werdend entflieht es dem Blick; die Trennschärfe schwindet, gemächlich löst es sich im Ganzen, bis es sich im weiten Horizont nahezu vollständig einebnet. (Ob die veränderte Sitzplatzpräferenz mit meinem Älterwerden zu tun haben sollte? Ich verwarf die Überlegung, eitel.)

Beim Fußgang bin ich es, der vorüberzieht, nicht die Umgebung. Und während einem Bahnreisen eine klare Gerichtetheit in Raum und Zeit nahe legen, kann beim Gehen grundsätzlich alles jederzeit anders laufen; vorausgesetzt, Freude beflügelt den leichten Fuß und kein Zweck bindet ihn in geregelte Bahn. Das geschieht drum meist spontan und also meist allein; oft zu zweien, bisweilen zu mehrt; des Tags oder im Vollmondschein, kaum bei Regen; Der Wald ist in Rufweite und er ruft nicht selten. Die Streckenleistung ist dabei nicht berauschend, irgendwo zwischen Wanderung und Spaziergang.

Beim Verlassen der Forstwege stellt sich ein sonderbares Gefühl ein. Denn der Weg kennt noch sein eigenes vor und zurück, verlangt den Fortschritt und bietet ein Ziel. Abseits davon tritt die Zwecklosigkeit des Ausgangs aber deutlicher hervor. Vorn, hinten, links und rechts, jedes woher, wohin und wielange verliert allen äußeren Bezug: Keine Wegmarke, kein Zeitziel, kein Ziel überhaupt; Unmittelbarkeit des Standorts, fünf erfrischte Sinne und die seltene Lust, überrascht zu werden sind wegweisend allein! Jede Richtung, jedes Tempo ist möglich.

Den Eispickel hab ich mit, wenn die allzu vertraute Stimme in mir drinnen eindringlicher frägt Wofür? und mir meine Entrichtetheit verscheucht. Ich pflüge damit schmale Pfade durch den Wald, seine Lichtungen, über Wiesen und lege Aussichtsplätze an, zum schwachen Zwecke der Erlustigung. Des Wildes Tritt verrät, dass den Bewohnern des Waldes die Panoramastrecken ebenfalls zusagen.

Zur Abenddämmerstunde hab ich mich auf der Wiesenrampe eingefunden. Der Ast einer mächtigen Schwarzkiefer birgt sie nicht zur Gänze… Dass es die Erde ist, die sich dreht, nicht der Mond, der aufgeht, beleidigt mein ästhetisches Empfinden (so irr ich mich ganz gern hierin); und doch drehen wir uns rasend schnell, jagen im Höllentempo um unsern Stern; und der, wer weiß wohin? Und ich lieg da, starre hinunter in diese unerforschliche Schwärze: Regungslos, Einschlüssen gleich im Kristall, flimmern Myriaden solcher Gestirne. Ein welkes Nadelpaar hat sich gelöst. Über mir hör ich, wie es seinen Weg durchs Astwerk nimmt. Dann ist’s wieder still. Wie es sein kann?

In dankbarer Erinnerung an eine unvergessene Zugreise und einen wundervollen Spaziergang!

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