Casting

Streifzüge 56/2012

von Roger Behrens
Kolumne Rückkopplungen

Zum Teil sollen es über 30.000 Menschen sein, die zu den Vorstellungsterminen kommen, nein: pilgern. Wo die Kultur vollends zur Ware und die Ware selbst wieder zur Kultur geworden ist, sind die Castingshows die letzten, neuesten „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ (Benjamin, GS Bd. V·1, S. 50), das Fernsehen die Kirche dieser Religion. Manche kommen schon seit Jahren zu den Auswahlveranstaltungen, versuchen es immer wieder, eingelassen zu werden und wenigstens eine Runde weiterzukommen. „Eine Runde weiter“ heißt „Recall“, und das bedeutet auch Erinnerung (wie in dem Film „Total Recall“); doch Erinnerung hat hier niemand: Sonst wüsste man, wie die anderen vorgeführt wurden, wie viele Häme und Gemeinheit über sich ergehen lassen mussten. Dass auch und gerade die Verlierer und Versager mit ihren Auftritten in die Sendungen eingebaut werden, gehört zum Programm; schon zu Beginn ist das über Verträge geregelt, an die selbst die Gewinner über die Show hinaus gebunden bleiben.

Castingshows sind Talent-Shows. Allerdings: Mit Talent wird man im Kapitalismus nichts; Talent ist keine Qualifikation der protestantischen Ethik im Sinne des Berufs. Gleichwohl gehört die Ideologie des Talents zum Kapitalismus, gerade in seiner fortgeschrittenen Verwertungslogik. Schon in Patricia Highsmiths „The talented Mr. Ripley“ verkörpert sich in der Disposition des Talents der Wunsch, dem bisherigen, als trostlos erfahrenen Leben zu entfliehen. – Talent ist, von griech. tálanton, „Waagschale, das Gewogene“, eine Maßeinheit für ein einer bestimmten Geldsumme entsprechendes Gewicht. Im „Neuen Testament“ ist es dann immer noch das „anvertraute Vermögen“, doch schon auch in der übertragenen Bedeutung „der – einem von Gott anvertrauten – geistigen Anlage“. Die Ideologie des Talents verspricht den Menschen, denen ansonsten jede Anlage abgesprochen wird, eine besondere Fähigkeit zu besitzen, die auch nur in ihrer Besonderheit erkannt werden kann: durch eine Jury, durch einen Coach, durch Dieter Bohlen, Heidi Klum, Nena etc.

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Highsmiths Roman ist von 1955, die Verfilmung von 1999. Die Jahre markieren die Entwicklung der Ideologie des Talents, auch in Bezug auf die Verwertungsinteressen der Kulturindustrie und der ihr folgenden Popkultur: Im US-amerikanischen Fernsehen starten 1948 mit Ted Mack’s Original Amateur Hour und Arthur Godfrey’s Talent Scouts die ersten Castingshows, 1954 kommt die TV-Version der Miss-America-Schönheitswettbewerbe dazu. Ab 2000 wird von einer regelrechten Explosion des Castingshow-Formats gesprochen, wozu neben American Idol oder Deutschland sucht den Superstar auch Big Brother gehört.

Heute laufen mitunter vier, fünf Castingshows gleichzeitig im Fernsehen. Sie gehören zu den wesentlichen Formaten des Privatfernsehens und bilden mit Talkshows, Gerichtssendungen oder Pseudo-Dokus (Die Super Nanny etc.) das Reality-TV-Programm. Beliebtheit wie Unbeliebtheit der Sendungen gehören mit zur Sparte, die selbst auch nur ein Teil des Gesamtkomplexes des Fernsehens ist, das sich mittlerweile als eine die Bildschirm- und Studio-Grenzen weit überschreitende „Programmindustrie“ darstellt. Die Trennung zwischen Privatfernsehen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist freilich Schein, bloße ideologische Funktion innerhalb des integrierten Spektakels.

Denn zu dieser Programmindustrie – von der Negt und Kluge schon 1972 sprachen – gehört längst auch die vermeintliche „Kritik“, die Pseudodiskussion über Wesen und Unwesen der Castingshows. Fachbereiche wie Kultur- und Medienwissenschaften an den Universitäten profilieren die Angestellten, die solche Sendeformate einerseits produzieren und andererseits reproduzieren: mit Stichworten wie Mediendemokratie, kritischer Medienkonsum oder auch dem Label Unterschichtenfernsehen wird das Verwertungsinteresse des Medienverbundes überhaupt nicht tangiert und dadurch affirmiert. Und ob man als promovierter Medientheoretiker in der Redaktion einer Castingshow landet, als Forscher mit Analysen eben dieser TV-Formate reüssiert oder als Journalist darüber in der Tagespresse schreibt, wird heute in den meisten Fällen berufsbiografisch völlig zufällig über Jobs entschieden. Und ansonsten kann man es immer noch selbst als Kandidat einer Castingshow versuchen.

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Das englische Wort „cast“ meint nicht nur die Besetzung der Rollen beim Theater oder Film. Das Oxford English Dictionary verzeichnet weit über fünfzig weitere Bedeutungen für „cast“ als Verb oder Nomen. Die Etymologie reicht bis ins frühe 13. Jahrhundert zurück; abgeleitet vom altnordischen „kasta“, „werfen“, ist „cast“ also „der Wurf“, im Sinne von „die Gestalt, die ein Ding annimmt, nachdem es (hin- oder hinein-)geworfen wurde“. So eben auch die Schauspieler, die, einmal auf der Bühne, ihre neue Gestalt in ihrer Rolle finden. Das verweist aber auch auf die zahlreichen industriell-technischen Bedeutungen von „cast“ wie „Abguss“ oder „Abdruck“.

Heute werden die Rollen nicht mehr mit – professionellen – Schauspielern besetzt, sondern relativ beliebige, unprofessionelle Menschen werden für die Rolle, die sie als Menschen haben, glauben zu haben oder haben wollen, „gecastet“, um dann mit dieser Rolle in den Kulturbetrieb integriert zu werden – bis sie auch hier rausfliegen, oder einfach in Vergessenheit geraten.

In ihrer Rolle, in der sich das Talent verbergen soll, sind die Gecasteten, also die „Eingepassten“, Charaktermasken. Und „Charaktermasken sind das Resultat ständiger Personifikation“, schreibt Franz Schandl (krisis 31, S. 126). Die Ideologie des Talents ist die Personifikation der Einzigartigkeit – als Persönlichkeit: „Zeige, wer Du wirklich bist!“, im Sinne von „Beweise die Nützlichkeit Deiner Rolle (von der wir wissen, dass sie wenn überhaupt nur fürs Spektakel taugt)“.

Das Prinzip des Castings ist insofern nicht Konkurrenz, sondern Rivalität. Die Shows annullieren die Reste noch vorhandener Solidarität, Sympathie wird zum Lohn der Jury und des Publikums.

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