Vor dem ökonomischen Abstieg

Wirtschaftliche Bewältigung der Katastrophe könnte an Japans hoher Verschuldung scheitern

von Tomasz Konicz

Die weltwirtschaftlichen Folgen der Katastrophe in Japan sind schwer abschätzbar. Der von manchen Ökonomen erwartete Konjunkturschub durch die anstehenden Investitionen wird durch die hohen Schulden erschwert.

Japans Doppelkatastrophe aus Erdbeben und drohendem Super-GAU hat regelrechte Schockwellen durch das globale Wirtschafts- und Finanzsystem geschickt, die zeitweise zu massiven Kurseinbrüchen an den Börsen geführt haben. Die erste Panik scheint sich aber – vorerst – gelegt zu haben. Am Mittwoch hatte der japanische Börsenindex Nikkei gut sechs Prozent zulegen können, bevor es am Donnerstag wieder leicht bergab ging. Ähnlich sieht es an anderen großen Finanzplätzen aus.

Gleichzeitig finden in Reaktion auf die Katastrophe enorme Umschichtungsprozesse statt, die zu fallenden Aktienkursen und Rohstoffpreisen sowie zur Flucht in vermeintlich sichere Häfen wie deutsche und US-Staatsanleihen oder den Schweizer Franken führen. Die kurzfristig gesunkenen Rohölpreise sind vor allem auf die Produktionsausfälle in der japanischen Industrie zurückzuführen, die aufgrund des hohen transnationalen Vernetzungsgrades insbesondere in der IT- und Fahrzeugindustrie zu Lieferengpässen führen können. Hierbei ist vor allem Südostasien betroffen, da inzwischen 54 Prozent aller japanischen Ausfuhren – hierunter auch wichtige Vorleistungsgüter – in die aufstrebende Region fließen. Als wahrscheinlich kann auch ein erneuter Anstieg der Energiepreise angesehen werden, da Japan die ausgefallenen Kapazitäten seiner Atommeiler durch erhöhten Verbrauch fossiler Brennstoffe decken wird.

Obwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine verlässliche Einschätzung der mittel- und langfristigen Folgen des japanischen »Nuklearbebens« kaum möglich ist, sehen die meisten deutschen Ökonomen keine Gefahr eines weltweiten Rückfalls in die Krise. Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Thomas Meyer etwa erklärte gegenüber dem »Handelsblatt«, dass die Schwächung der exportfixierten japanischen Industrie global nur geringe Effekte zeitigen werde: »Japan ist ein Netto-Exporteur. Es lässt sich eher von der globalen Konjunktur mitziehen, als selbst eine Lokomotive zu sein.«

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft argumentiert indes im Sinne des vom Ökonomen Joseph Schumpeter eingeführten Theorems der »Schöpferischen Zerstörung«: Der bald einsetzende Wiederaufbau werde einen gewaltigen Investitionsschub auslösen, der die Konjunktur beleben dürfte. Auch könnten die rasant steigenden Aktienkurse von Unternehmen aus der regenerativen Energiewirtschaft darauf hindeuten, dass ein neuer Leitsektor am Entstehen ist, der die Transformation der energetischen Basis der Industriegesellschaften bewerkstelligen und der Kapitalverwertung neue Märkte erschließen könnte.

Gegen eine solche phönixgleiche Auferstehung aus den verstrahlten Asche- und Trümmerhaufen rund um den Reaktor von Fukushima spricht aber der gigantische Schuldenberg, den Japan angehäuft hat. Tokio weist die höchste Staatsverschuldung aller Industrienationen in Höhe von mehr als 200 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf – der Wiederaufbau der Infrastruktur müsste vor allem aus Steuermitteln finanziert werden. Der Investitionsschub könnte also an der Finanzierung scheitern, zumal ja nicht nur Japan, sondern auch die USA und die EU mit einer schwelenden Schuldenkrise konfrontiert sind. Zudem könnte die nun geschwächte japanische Exportindustrie Marktanteile an weitere exportfixierte Volkswirtschaften – wie etwa Deutschland – verlieren. Die gegenwärtige Katastrophe könnte somit angesichts eines von Überkapazitäten geprägten Weltmarkts auch einen ökonomischen Abstieg Japans einleiten.

Fraglich bleibt auch, ob die regenerativen Energien eine ähnliche Funktion als Leitsektor der Industriestaaten einnehmen können, wie sie einst der Fahrzeugbau innehatte. Die Umgestaltung der gesellschaftlichen Infrastruktur war nur aufgrund der massenhaften Verwertung von Arbeitskräften im Produktionsprozess möglich. Hierdurch wurde Vollbeschäftigung erreicht und den Staaten flossen die notwendigen Steuermittel zu, mit denen die Verkehrsinfrastruktur modernisiert wurde. Bei dem heutigen Produktivitätsniveau kann aber die Produktion von Solarzellen oder Windkraftwerken keine vergleichbaren Jobeffekte zeitigen; und eine Anpassung der Energieinfrastruktur an den Bedarf der Erneuerbaren könnte an den staatlichen Schuldenbergen scheitern. So absurd es klingen mag: Japans Bürger könnten aufgrund einer über den Kapitalismus hinausweisenden Produktivität sich gezwungen sehen, auf Dauer in der Krise zu leben.

aus: Neues Deutschland, 18. März 2011.

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