One World One Pain

Notizen zu den Rebellionen in Arabien und anderswo

von Lorenz Glatz

„We want Jobs & Peace life. We love Yemen.“ – So lautete jüngst ein Spruchband junger Demonstranten in Sanaa, die gegen ihren Patriarchen im Präsidentenamt aufbegehren. Tatsächlich dürfte sich heute ein großer Teil der Menschheit in Nord und Süd so ähnlich ein halbwegs gutes Leben vorstellen: Arbeit haben, damit man Geld hat zum Leben und zum nötigsten Prestigekonsum; kein Krieg und Bürgerkrieg; einigermaßen sicher sein vor Kriminellen und unbehelligt von Ordnungshütern; ein Staat, der einen nicht schon fürs Reden abstraft und über die Steuern hinaus in Ruhe lässt. Vermutlich umschreibt das auch so ziemlich das meiste von dem, was heutzutage in der historischen Selbstbescheidung der Menschheit gemeinhin als Freiheit durchgeht. Aber auch dieser Schatten eines guten Lebens ist nicht so leicht zu haben.

1.

Ein endemisch hoher Teil der Menschheit, vor allem der Jugend, ist in die Arbeitsgesellschaft nicht zu integrieren. Und wenn: „Working poor“ ist kein Begriff aus einem Drittweltland, sondern aus den USA und meint einen wachsenden Teil der Arbeiterinnen dort.

Die jüngsten Unruhen, die sich von Tunesien aus in den arabischen Ländern ausbreiten und weltweit ein Echo finden, sind nicht zuletzt von einem historischen Höchststand der Lebensmittelpreise angeheizt worden. (Das war übrigens auch 1789 in Frankreich so.) Die Teuerung wird weitergehen. Dafür sorgen Umweltzerstörung und Land Grabbing beim Essen, Peak Oil und vielleicht bald schon Peak Everything bei allem anderen. Was alles das soziale Gefüge weltweit erschüttern wird. Selbst Senior Economists erwarten Aufruhr auch in „entwickelten Ländern“.

Auf dem Trikont, wo diverse Potentaten nicht nur für ihre Macht und ihren Luxus, sondern vor allem für die Einhaltung der Weltwirtschaftsordnung sorgen, mögen Menschen ihre Empörung noch vorrangig mit dem Wunsch nach Wahlen und Zubehör a la Okzident verbinden. Aber auf halbem Weg kommen ihnen die Desillusionierten der „freien Welt“ entgegen. – Eine Episode mit Symbolwert: Demonstranten in Wisconsin, USA, besetzen wegen radikaler Lohnsenkungen und der Streichung gewerkschaftlicher Rechte das Capitol in Madison und nennen ihren demokratisch frei und geheim gewählten Gouverneur „Gov Mubarak“. Leute in Kairo, die ihrer neuen Regierung, die sie in die Demokratie zu führen hat, auf dem Tahrir-Platz lautstark misstrauen, erfahren davon. Sie bestellen per Internet Pizza für die Kollegen in Amerika und halten für sie die Losung vor die Kamera: „Egypt supports Wisconsin. One World One Pain.“

2.

Es kann ansteckend sein, sich gegen die herrschende Ordnung und ihre Hüter an der Macht zu wenden, derzeit breitet es sich aus und hört hoffentlich so schnell nicht wieder auf. Denn selten wird mehr miteinander gesprochen, debattiert und gelernt als in solchen Zeiten. Freie Rede, Selbstermächtigung der Frauen, der Verachteten, Kooperation, Freundschaft, Freude aneinander, wo eben noch kalte Gleichgültigkeit oder tiefes Misstrauen herrschte, herausfordernde Zuversicht, wo gerade noch die Furcht sich krümmte, alles wird vorstellbar, wovon eins nicht zu träumen wagte, kurz: der unvergessliche Geruch von Freiheit.

Gewähr dafür, dass dieser sich auch bei einem Sieg der Revolten nicht bald verzieht, ist das jedoch leider keineswegs. Die meisten spontanen Vorstellungen, wie die Zustände zu bessern sind, knüpfen am Gewohnten an, am längst schon Etablierten: Wir vertreiben den Diktator und seine Clique, schaffen illegale Bereicherung, Brutalität und Willkür ab – und gehen dann wieder in den Alltag und die Arbeit, hoffentlich mehr Arbeit und für mehr Leute. Also trägt eins seine Haut zu Markte, um Geld fürs Leben draus zu machen und verdünnt mit jeder Stunde „Hauptsache ein Job“ oder „wie krieg ich Arbeit“ oder „Erholung von der Arbeit“ und dem ganzen Rattenschwanz der öden, frustenden Sachlich- und Streitigkeiten von Arbeit, Geld und Ware jenen Geruch von Freiheit mit der Traurigkeit, wie wenig sich im Grunde doch geändert hat.

Es ist ein Zwangszusammenhang der Menschen, der zu einem Weltsystem der durchdringenden, alltäglichen Geldbeziehungen und Warenströme angewachsen ist. Er ist so allumfassend normal geworden, dass diese Verhältnisse von den meisten Menschen als so natürlich und unverzichtbar wie Essen und Trinken empfunden werden. Und schreibt man oben statt „Diktator“ schlicht „Politiker“, schrumpft auch die Differenz des Unmuts in „Dritter Welt“ und „Freiem Westen“ sehr zusammen.

Die Ideale von Demokratie und Gesetzestreue sind illusionär. Die Katastrophe der Geldbeziehungen ist schon deren Normalbetrieb, der durch Korruption und Beugung der Gesetze so viel gemildert wie verschlimmert wird. Und die gegenüber Mensch und Welt rücksichtslose Gier nach Geldvermehrung ist der Zweck des Geldes selber, sie ist das Herz des industriellen und technologischen Fortschritts, verträgt sich mit Diktatoren wie mit Demokraten. One World One Pain.

3.

Auch Arabischer Nationalismus, Islamismus (der entgegen aller demokratischen Propaganda eine islamische Anpassungsbewegung an den Kapitalismus war und ist!) und erst recht diejenigen, die von der Eingliederung in die westliche demokratische Welt träumen, werden auf dieser Grundlage nach dem Sturz der Tyrannen Vorstellungen formulieren, die sich im Grunde wenig voneinander unterscheiden. (So wie wir das in unserer Weltgegend von den etablierten demokratischen Parteien ja auch gewohnt sind.) Die diversen Strömungen haben offenbar schon zuvor so wenig Attraktivität und Formulierungsfähigkeit entwickelt, dass sie die von der Jugend ausgelösten, bemerkenswert „unpolitischen“ Revolten bisher in keiner Phase anzuführen oder zu lenken imstande waren.

Die tunesische und die ägyptische Regierung des Übergangs zur Demokratie haben versprochen, dafür zu sorgen, dass alle internationalen Abkommen weiterhin eingehalten werden. Zu begrüßen ist das gewiss beim einen oder andern Friedensschluss. Vor allem aber ist dieses Versprechen jenseits von Demokratie und Diktatur eine Fortschreibung der Verhältnisse, die Land und Leute in der globalen Ordnung der Wertverwertung und Geldvermehrung zementieren. Mit ihrer Pakttreue versprechen die neudemokratischen Übergangsregime bloß dasselbe wie die alteingesessenen Demokraten im ziemlich bankrotten Griechenland oder Portugal oder Irland und all die anderen Sanierer im Rest der Welt natürlich auch: demokratisch mitzuwirken bei der Sanierung für den nächsten Kollaps, den Klimawandel, die Zerstörung und Vergeudung der Natur, von der wir leben. Und bei der Durchsetzung dieser Zumutungen ist auch der demokratische Staat in der Wahl der Mittel nicht sehr wählerisch.

Welche politische Richtung mit welchen Wendehälsen oder neuer Personage und in welcher Koalition auch immer schließlich in Ägypten oder Tunesien und vielleicht noch in ein paar Ländern an die Regierung kommen wird – keine von ihnen hat anderes vor, als auf jenen Schienen weiterzufahren. Denn Staat, Recht und Politik sind die siamesischen Zwillinge von Kapital, Geld und Markt. Sie definieren Freiheit und Wohlstand als die Chance, in der gnadenlosen Konkurrenz der Standort-Staaten, Konzerne und isolierten Individuen in der verrückten Hoffnung auf unendliches Wachstum zu reüssieren. Sie werden genau dem Knäuel an Problemen gegenüberstehen, der zu den Revolten geführt hat, aber mit den Mitteln politisch-staatlicher Macht nicht lösbar ist. Diese Gesellschaftsordnung und Lebensweise lässt sich nicht mehr verbessern, sie kann mehr über kurz als über lang nur aufgegeben oder in globale soziale und ökologische Katastrophen weitergeführt werden. One World One Pain. Da braucht es Tieferes als einen „Change“ a la Obama.

4.

Die korrupten Politiker (ob Demokraten oder Diktatoren), die Spekulanten, die Heuschrecken oder gleich wieder: die Juden sind unser Unglück. Ausländer raus, ohne sie reicht’s für uns schon noch. Sagt der Hausverstand, der ignoriert, worauf und woraus das Haus gebaut ist und wie mit der ehrlichsten Arbeit die destruktivsten Dinge gebaut werden, wenn damit nur Geld zu verdienen ist und rentable Investitionen möglich sind. Und wenn nicht, dann siehe oben. Derlei Strategie zur Reinwaschung und Rettung unserer „Leitkultur“ und „sozialen Marktwirtschaft“ hat in Europa und besonders dort, wo man deutsch spricht, seit langem Heimatrecht.

Aber auch Revolten machen mit solchem Denken und Fühlen nicht von alleine Schluss. So werden z.B. die Gastarbeiter in Ölstaat Libyen auch von Gaddafi-Gegnern malträtiert, beraubt, vertrieben. Und in die Proteste auf dem Tahrir-Platz mischten sich auch Töne gegen die „Judenknechte“ des Mubarak-Regimes. Im Nahen Osten nimmt solcher Hausverstand leicht die Form eines ethnisch-nationalen, fundamentalistisch-religiösen und staatlichen Konflikts zwischen Israel und den arabischen Ländern an, der verheerende, ja atomare Sprengkraft birgt.

5.

In den Chefetagen der Politik und Wirtschaft hat man sich schon leichter getan. Planungshorizonte von fünf Jahren sind meist nur noch ein frommer Wunsch. Der Einbruch des globalen Finanzsystems vor drei Jahren war in den Prognosen der diversen Institute so wenig vorausgesehen wie die jetzigen Revolten in Maghreb und Levante und der Sturz „verhasster Diktatoren“, wie sie jetzt heißen. Eben noch wurden sie ja als verlässliche Pfeiler der westlichen Welt der Demokratie wie Mubarak und Ben Ali hofiert oder als neu gewonnene Freunde wie Gaddafi mit Handkuss begrüßt.

Zweifellos wären dem Westen und natürlich auch vielen einheimischen Firmen ein demokratischer Umschwung in so heiklen Gebieten wie dem Nahen Osten durchaus angenehm – wenn nur sonst alles so bliebe, wie es ist. Demokratie hieße doch, dass die Leute selbst von Zeit zu Zeit ihren Sanktus geben würden zum Status quo des freien Zugangs zum Erdöl und allem, was dort sonst noch brauchbar ist für florierende Wirtschaft und lohnendes Investment. Dass sie vielleicht raunzen, schimpfen, die Regierungsparteien regelmäßig abstrafen, aber im Ganzen doch per Wahlen „realistisch“ mitbestimmen würden.

Freilich setzt das voraus, dass die Bevölkerung den Eindruck hat, dass sie von den Zuständen doch auch profitiert, das heißt: dass es genügend andern schlechter geht als einem selbst. Das funktioniert in den reichen Ländern noch einigermaßen. An der Peripherie ist das ein Problem. Da können die Wünsche der Leute direkt „maßlos“ werden, wenn sie einmal zu Wort kommen. Im Zweifelsfall geht dann der Status quo natürlich vor. Allerdings ist es zweifelhaft, ob die Menschen wirklich noch lang zu bremsen sind. Es geht um Länder, wo die jungen Leute in der großen Mehrheit sind. Und es ist schon mehr als zweifelhaft, ob sich USA und NATO zu Irak und Afghanistan eine weitere Schlamastik leisten können.

Damit aber steht noch etwas auf dem Spiel: die Hegemonie der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in einer Schlüsselstellung des kapitalistischen Weltsystems. Die Verwertungsschwierigkeiten des von den USA ausgegangenen „Akkumulationsregimes“ des Fordismus mit Fließbandproduktion und Automobilisierung ziehen sich schon über Jahrzehnte. Und ein neuer Goldrausch unter einem neuen Hegemon scheitert wahrscheinlich schon im Ansatz am nüchternen „Peak Everything“. Wenn die Vormacht jetzt die wichtigste Erdölregion nicht unter ihrer politischen und militärischen Kontrolle halten kann, würde das in dieser Lage wahrscheinlich in den Zusammenbruch der herrschenden Hackordnung in der globalen Hierarchie münden und das Weltsystem des Kapitalismus ins Wanken, wenn nicht zum Einsturz bringen.

6.

Heißt es also nach fünfhundert Jahren „Rien ne va plus“ im Weltkasino? Auf jeden Fall ist es höchste Zeit, hier rauszukommen. Es kommt drauf an, den Umgang mit den Ressourcen der Natur, vom Ackerboden über den Häuserbau bis zur Produktion der Güter eines guten Lebens von der Zwangsneurose Rentabilität und Finanzierbarkeit zu heilen, die Konkurrenz um Profit in die Kooperation für die Herstellung nützlicher und schöner Dinge und die Ausbeutung der Natur in einen Austausch mit ihr umzuwandeln. Da ist ein recht langer Weg zu gehen, mental, im Umgang miteinander und in praktischen Versuchen. Am besten der Nase nach, nach dem Geruch der Freiheit. In Madison, in Kairo, in One World. To stop the Pain.

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