Eine Frage des Vertrauens

Eskalierende Schuldenkrise führt Weltwirtschaft an den Rand einer neuen Rezession – auch wenn die Beziehung zwischen beiden Phänomenen ständig auf den Kopf gestellt wird

von Tomasz Konicz

Während Europas Staaten und Banken unter einer immer weiter anschwellenden Schuldenlast zusammenzubrechen drohen, mehren sich zugleich weltweit die Anzeichen für eine abermalige Wirtschaftskrise. Innerhalb der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft und Fachpublizistik wird nur noch darüber spekuliert, ob der Weltwirtschaft nun eine Stagnationsperiode bevorsteht, oder ob eine erneute Rezession droht. Auf beiden Seiten des Atlantiks – im Euro-Raum wie in den USA – stehen die wirtschaftspolitischen Alarmzeichen nämlich schon längst auf Rot.

Am 4. Oktober warnte Ben Ber­nanke, Chef der US-Notenbank Fed, daß die Vereinigten Staaten kurz davor seien, ökonomisch »ins Taumeln« zu geraten. Bernanke warnte vor einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und einem anämischen Wachstum. Die konjunkturelle Erholung seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 sei weitaus schwächer ausgefallen als ursprünglich angenommen, gab der oberste Währungshüter der USA zu bedenken. So wuchs das US-Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Halbjahr 2011 nur um 1,0 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Der bekannte Ökonom Nouriel Roubini, einer der wenigen, der die Weltwirtschaftskrise von 2008 korrekt prognostizierte, sieht hingegen kaum noch Chancen, eine erneute Krise zu verhindern, weder in den USA noch in Europa: »Die Frage lautet nicht, ob es einen erneuten Rückfall in die Rezession geben werde, sondern wie sanft oder stark die Abkühlung im Vergleich zu anderen Finanzkrisen ausfallen wird.«

Schon Ende September ging der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, davon aus, daß die Euro-Zone im Winter sogar in eine Rezession absacken werde: »Ich bin immer weniger der Meinung, daß wir es mit einer bloßen Wachstumsverlangsamung in der Euro-Zone zu tun haben.«

Doch zugleich offenbarte Krämer ein merkwürdiges Verständnis der Ursachen der drohenden Rezession: »Die Staatsschuldenkrise verunsichert die Wirtschaft und hat sich wie Mehltau über den Ausblick gelegt.« Eine ähnliche Interpretation der Rezessionsursachen liegt auch den verbalen Attacken zugrunde, die Washington immer wieder gegen die Europäer richtet. Die Schuldenkrise in Europa könne die USA und die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen, erläuterte etwa US-Finanzminister Timothy Geithner Anfang Oktober, da diese »Vertrauen und Nachfrage massiv beschädigen« würde.

Ist das alles nur eine Frage des Vertrauens? Verhält es sich tatsächlich so, daß »raffgierige Banker« und »Finanzmarktzocker« die Zuversicht der braven Industriekapitalisten erschütterten und somit die Wirtschaft in die Rezession treiben? Eine erste Ahnung der Zusammenhänge zwischen Schuldenkrise und Konjunktureinbruch bringen die vordergründig absurden Versuche der US-Administration, die Europäer mitten in der Schuldenkrise zur Auflage weiterer Konjunkturpakete zu bewegen. Geithner startete eine entsprechende Initiative im September auf dem EU-Gipfeltreffen in Wrocaw. Auch Fed-Chef Bernanke warnt beständig trotz anwachsender Schuldenberge vor Kürzungen bei Staatsausgaben.

Tatsächlich bildeten die schuldenfinanzierten staatlichen Konjunkturprogramme, die weltweit nach Krisenausbruch in 2008 aufgelegt wurden, den wichtigsten globalen Treibstoff, der die Weltwirtschaft aus ihrer tiefen Rezes­sion führte. Die globalen Konjunkturaufwendungen beliefen sich auf nahezu fünf Prozent der damaligen Weltwirtschaftsleistung, was insbesondere exportorientierten Wirtschaften wie der deutschen zugute kam. Die meisten dieser Konjunkturpakete liefen aber Mitte oder spätestens Ende 2010 aus – und seitdem befindet sich die Weltwirtschaft insgesamt im Sinkflug, der diese nun an die Schwelle zur Rezession führt. Die Forderungen nach weiteren schuldenfinanzierten Konjunkturpaketen aus Washington sind aber letztendlich nur ein implizites Eingeständnis, daß der Kapitalismus ohne diese kreditfinanzierte Nachfrage nicht mehr reproduktionsfähig ist.

Mit dieser staatlichen Defizitkonjunktur wurde aber nur die Verschuldungsdynamik »verstaatlicht«, die zuvor im Rahmen der diversen Spekula­tionsblasen auf den wuchernden Finanzmärkten betrieben wurde. Mehr noch: Letztendlich wurden ja alle kostspieligen Krisenmaßnahmen– wie auch die Konjunkturpakete – der Politik zumindest in der EU und in den USA über weitere Verschuldung auf den Finanzmärkten realisiert. Deswegen ist ja die europäische Staatsschuldenkrise zugleich eine Finanzmarktkrise. Letztendlich enthüllt die gegenwärtige »Spirale zwischen Staatsschulden- und Bankenkrise« (Handelsblatt) in der EU nur die gemeinsame ökonomische Funktion, die den staatlichen wie privaten Verschuldungsprozessen der letzten Jahre innewohnte: Diese Schuldenberge haben eine zusätzliche kreditfinanzierte Nachfrage geschaffen, ohne die der Kapitalismus aufgrund einer beständig zunehmenden Produktivität nicht mehr funktionieren kann. Sobald die – private oder staatliche – schuldengenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen.

Sobald einer der beiden Pole kapitalistischer Vergesellschaftung– Staat oder Kapital – unter seiner Schuldenlast zusammenbrechen wird, muß auch die Überproduktionskrise voll in einen katastrophalen Wirtschaftseinbruch münden. Die Weltwirtschaft befindet sich somit tatsächlich am Rande des Absturzes. Das ist sie aber nicht, weil das Kapital als »scheues Reh« (Otto Graf Lambsdorff) aufgrund von Finanzmarktzockereien alle Zukunftszuversicht verloren hat. Die Rezession wird kommen, weil die Verschuldungsdynamik kaum noch aufrechterhalten werden kann, mit der die an ihrer eigenen Produktivität erstickende kapitalistische Zombie-Ökonomie überhaupt noch am Scheinleben gehalten wird.

aus: Junge Welt, 13.10.2011

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