Das ungarische Desaster

von G. M. TAMÁS

Das Mediengesetz ist nur die Spitze einer Entwicklung. Viktor Orbán ist weit vorangekommen bei seinem autoritären Umbau, eine Alternative ist nicht in Sicht

Ich hasse es, diesen Artikel zu schreiben. Weil ich mich den alarmierenden autoritären Entwicklungen in meinem Land entgegenstelle und für die Wiederherstellung der Bürgerrechte plädiere, könnte ich als jemand erscheinen, der ich definitiv nicht bin: jemand, der glaubt, dass die liberale Demokratie in ihrer europäischen Ausprägung des 21. Jahrhunderts eine politische Ordnung ist, die unreformiert am Leben erhalten werden sollte.

Niemand wünscht sich diese Welt zurück, in der Chaos, Armut, Korruption, Kriecherei, Bestechlichkeit, Schacher, Verachtung der Unterschichten, Ungleichheit und Heuchelei anfingen sich auszubreiten, und das in dem legendären Jahr aller unserer Hoffnungen – 1989. Als einer der Gründungsväter der ungarischen Republik bin ich alles andere als stolz. Im Gegenteil.

Auch will ich nicht im Namen eines wolkigen Europäertums im Namen von Sarkozy, Berlusconi, Bossi, Geert Wilders und Horst-„Multikulti ist tot“-Seehofer sprechen. Nicht viele Menschen würden Kritik vonseiten der EU gutheißen, mit ihrer idiotischen Politik unmöglich niedriger Defizitvorgaben, strenger Sparmaßnahmen, Kürzungen im öffentlichen Sektor und einem allgemeinen Sozialabbau – eine Politik, die den ärmeren und schwächeren Mitgliedstaaten riesige Probleme bereitet.

Die ungarische Geschichte ist ein lehrreiches und warnendes Beispiel, das zeigt, wie zerbrechlich die europäischen bürgerlichen Demokratien in diesen wirren und dekadenten Zeiten geworden sind. Dort, wo soziale Solidarität und der Zusammenhalt aufgrund von Gerechtigkeit fehlen, kann von den Bürgern nur schwerlich erwartet werden, dass sie liberale Institutionen, Checks and Balances und Gewaltenteilung verteidigen.

Ihre Mehrheit ist gewaltig

Seit April 2010, als die ungarische Rechte eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichte, und vor allem nach den Kommunalwahlen im September (die Rechte bekam 93 Prozent in den Dörfern und Städten und stellt jetzt die Mehrheit in allen Regierungsbezirken) wurden fieberhaft Gesetze verabschiedet, die Ungarn für immer verändern könnten.

Zunächst verurteilte das Parlament in einem feierlichen Akt den Vertrag von Trianon von 1920 und stellte Angehörigen der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten die ungarische Staatsbürgerschaft in Aussicht. Sodann wurden alle staatlichen Institutionen und öffentlichen Gebäude angewiesen, ihre Wände mit dem grundsätzlichen Bekenntnis des neuen Regimes zu schmücken – der Erklärung zu einer Nationalen Kooperation (das Regime nennt sich offiziell System „Nationaler Kooperation“, und die Regierung ist eine Regierung der Nationalen Einheit).

Weiterhin wurden die Wahlgesetze geändert, um es kleinen Parteien zu erschweren, ins Parlament zu gelangen. Außerdem wurde das Verfassungsgericht kastriert. Zu guter Letzt wurden die Spitzenposten bei der Generalstaatsanwaltschaft für neun Jahre, des Rechnungshofes sowie der lokalen Rechtsorgane mit Politikern des rechten Flügels besetzt. Die Geheimdienste wurden umstrukturiert und ein neues Antiterrorismuszentrum unter Leitung von Viktor Orbáns früherem persönlichen Leibwächter geschaffen.

Die Regierung hat das Führungspersonal in allen staatlichen Behörden ausgetauscht – vor allem bei der Polizei, den Steuer- und Zollbehörden und in der Armee. Sie hat ein Gesetz verabschieden lassen, wonach alle Staatsbediensteten ohne Begründung entlassen bzw. Nachfolger ohne die erforderliche Qualifikation eingestellt werden können. Gegen frühere Funktionäre – allesamt Sozialisten oder Liberale – wird wegen Korruption ermittelt, oder es sind Verfahren anhängig.

Neue Bildungsgesetze wurden verabschiedet oder sind in Vorbereitung. Sie bekräftigen Disziplin, machen die Prüfungen schwerer und geben Schuldirektoren größere Machtbefugnisse. Diese Maßnahmen zielen auf eine Trennung der Eliteschulen von anderen Bildungseinrichtungen und auf eine Verringerung der Zahl von Hochschulstudenten. Ein landesweiter nationaler Lehrplan für Geschichte und Geisteswissenschaften wird eingeführt.

Die nationale Pädagogik hört hier jedoch nicht auf: Soziale Unterstützung können nur noch diejenigen erhalten, die in „geordneten Verhältnissen“ leben. Das ermöglicht es der kommunalen Verwaltung, die Unterstützung missliebiger Schichten und Minderheiten zu verweigern. Bei einigen Angestellten des öffentlichen Dienstes ist es dem Staat erlaubt, Nachforschungen über ihr „untadeliges Privatverhalten“ inklusive ihrer Familien anzustellen. Kleine Diebstähle werden unabhängig vom materiellen Wert streng bestraft, auch wenn die Täter minderjährig sind. Bei der dritten Verfehlung kann eine besonders schwere Strafe verhängt werden. Das Ergebnis ist, dass der Staat bereits geschlossene Gefängnisse wieder öffnen musste.

Konservative Köpfe von akademischen Institutionen haben vor den Wahlen damit begonnen, weitreichende, politisch motivierte Säuberungen durchzuführen. Und diese werden unaufhörlich fortgesetzt. Zwei bedeutenden Forschungsinstitute, die zuvor vom Staat finanziert wurden – das 1956-Institut und das Institut für politische Geschichte – wurden die Gelder entzogen. Alle Universitäten sind fest in konservativer Hand. Theaterleiter sind durch traditionalistische Konservative ersetzt worden – die Operette tritt an die Stelle der Avantgarde. Alternative und freie Theater haben ihre finanzielle Unterstützung verloren.

Filme, Bücher, Zeitungen

Die Finanzierung der ungarischen Filmindustrie ist vollständig gestrichen worden. Als Nächstes, so wird gesagt, komme das Verlagswesen an die Reihe. All dem folgt das infame Mediengesetz, das in der internationalen Presse Gegenstand intensiver Berichterstattung war. Dieses Gesetz erlaubt der Regierung, neben einer offenen politischen Zensur von Inhalten, die Medien mit Strafen zu ruinieren, die von einer Medienaufsichtsbehörde willkürlich festgelegt werden. An der Spitze dieser Medienbehörde steht eine rechtsgerichtete Politikerin, die auf neun Jahre ernannt wurde und die die Macht hat, Radiofrequenzen zu vergeben und Inhalte im Internet zu zensieren.

Aber all das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich als Positive Zensur bezeichne. Diese räumt dem Staat die Macht ein, Medien zu zwingen, Nachrichten oder Inhalte zu verbreiten, die „Angelegenheiten von nationaler Bedeutung“ enthalten oder andernfalls mit Strafen belegt zu werden. Strafen in Millionenhöhe können über Medien verhängt werden, die die Gefühle von Minderheiten oder Mehrheiten verletzen. Die Medienbehörde selbst darf darüber richten. Der öffentliche Rundfunk wird zentralisiert. Nachrichten fürs öffentliche Radio und Fernsehen werden ausschließlich von einem neuen Zentrum aus verbreitet, das Teil der staatlichen Nachrichtenagentur ist, und von niemandem sonst. Die Chefs der öffentlichen Kanäle sind alle neu ernannt worden, es sind alles rechtsgerichtete Journalisten, die meisten kamen von rechten Talkradios und den rechten oder extremen Kabelsendern. Hunderte Journalisten im öffentlichen Rundfunk sind schon gefeuert worden, anderen ist dies in Aussicht gestellt.

Das Recht zu streiken ist extrem eingeschränkt worden. Die Verhandlungsrechte von Mediengewerkschaften sind offen ignoriert worden. Die Sozialgesetzgebung transferiert Geld von den Armen an die weiße und junge Mittelklasse. Eine einheitliche Steuer wird eingeführt, die die Reichsten bevorteilt, während die indirekten Konsumsteuern brutal angehoben werden.

Und das Land verhält sich ruhig.

Die Kritik des Mainstreams am System der nationalen Kooperation ist ineffektiv, denn sie wird als Unterstützung der vorherigen Regierung wahrgenommen – im Einzelnen der neokonservativen sozialen und ökonomischen Politik, die ganz tief und zu Recht unpopulär ist, verbunden mit einer liberalen Fassade, einem künstlichen Pluralismus und einer Toleranz, die von vielen als unwichtige und perverse Spiele der abgehobenen, städtischen Eliten erlebt wurde. Es gibt keine Trauer um die Demokratie, da fast niemand geglaubt hat, dass wir in einer Demokratie lebten. Justiz und Polizei haben nicht erst heute angefangen, unfair, ungerecht, brutal und ineffektiv zu sein.

Offene rassische Trennung

Die Orbán-Regierung war ganz außerordentlich erfolgreich darin, rechtsextreme, paramilitärische Gruppierungen zu spalten und zu zerschlagen, um damit einem aufkommenden einheimischen rassistischen und faschistischen Terrorismus Einhalt zu gebieten. Gewiss mit fragwürdigen Polizeistaatsmethoden, die aber natürlich in diesem Fall von den Liberalen nicht kritisiert wurden. Die Roma-Frage wird als ein Problem der Kriminalität behandelt, die rassische Trennung wird von der Rechten ganz offen propagiert, Integrationsprogramme sind eingestellt worden. Fragen der Rasse oder der Ethnizität sind aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden, das noch verbliebene Mitte-links-Spektrum hat sich von diesem Thema verabschiedet, weil es hoffnungslos ist. „Antifaschismus ist ein Verbrechen“, hat ein führender konservativer Kolumnist, Universitätslehrer und Redakteur einer angesehen Monatszeitschrift erklärt.

An diesem Punkt stehen wir heute. Es gibt keinen Weg zurück zu einer erfolglosen und unpopulären liberalen Ära. Eine Alternative zu einer neuen autoritären Ordnung ist derzeit nicht in Sicht.

Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Oertel und
Georg Baltissen

Alle öffentlichen Gebäude sollen ihre Wände mit dem Bekenntnis zum neuen Regime schmücken

Es gibt keine Trauer um die Demokratie, da fast niemand glaubte, dass wir in einer Demokratie lebten

G. M. Tamás
ist ein ungarischer Philosoph. Er wurde 1948 in Kolozsvár/Klausenburg (Siebenbürgen, Rumänien) geboren. 1978 emigrierte er nach Ungarn, wo er als Dissident mit Berufsverbot belegt war. Er war Mitglied der demokratischen Opposition und bis 1994 liberaler Abgeordneter. Heute ist er Vorsitzender der Partei „Grüne Linke Ungarn“ (Zöld Baloldal), einer linksradikalen Kleinpartei.

BERICHTIGUNG
Text von G. M. Tamás zu Ungarn in der taz

BERLIN | Bei der Übersetzung des Beitrages von unserem Gastautor G. M. Tamás „Das ungarische Desaster“ (siehe taz vom 3. 1. 2011, Seite 3) haben sich leider zwei Fehler eingeschlichen. Bei den ungarischen Parlamentswahlen im vergangenen April erhielt die Partei Fidesz 52 Prozent (was eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bedeutet), bei den Kommunalwahlen im September rund 67 Prozent der Stimmen. 93 Prozent der gewählten Bürgermeister waren für Fidesz angetreten. Wir bitten um Entschuldigung. (taz)

aus: taz, 3. Januar 2011

image_print