Vakanzen der Freundschaft

Wegzeichen wider die Unfreundlichkeiten des Lebens

Streifzüge 48/2010

von Franz Schandl

„O meine Freunde, Freunde gibt es nicht!“
(Aristoteles)

Freund und Freundin kann heute schon alles Mögliche heißen. Sie kommen und gehen, vergehen und verlaufen sich. Hier wird nun eine aufgeladene Bestimmung vorgenommen, die auch in emanzipatorischer Absicht tauglich sein soll.

I.

Man trifft sich in der Freundschaft nicht der Sache wegen, sondern ob des oder der anderen. Was sich ausdrückt und ausführt, ist die direkte Beziehung. Freundschaft meint Akzeptanz ohne Umweg. Freundschaft gibt es nur als gegenseitige Anerkennung jener.

Wir definieren Freundschaft hier als eine andauernde und wechselseitige Hingezogenheit, die keine Gründe kennt, die außerhalb der Unmittelbarkeit dieses spezifischen Verhältnisses liegen. Man mag noch so viele Argumente anführen, die für diese oder jene Freundschaft sprechen, das ihr Wesentliche lässt sich nicht benennen. Es ist keine analytische Größe.

Ohne Affekte ist Freundschaft nicht möglich. Freundschaft beginnt mit der Erwiderung der Sympathien. Indes geht Freundschaft in ihrer besonderen Weise der Verbindlichkeit weit über diese Gemütsbewegungen hinaus, sie ist vielmehr bewusst hergestellte Effizienz. Freundschaft baut auf spontaner wie gewachsener Neigung, die sich praktizieren lässt. Freunde haben ist etwas Praktisches, theoretisch geht das nicht. Freundschaft hat somit vornehmlich mit Erfahrung und Erlebnis zu tun, ist von Genossenschaft und Partnerschaft zu trennen.

Freundschaft setzt Bekanntschaft voraus. Bekanntschaft ist jedoch meist etwas Zufälliges: Man besucht eine Schule, arbeitet in diesem oder jenem Büro, publiziert in einem Medium, besucht Kundschaften, geht in dieselben Lokale, benützt öffentliche Verkehrsmittel oder Bäder. Freundschaft erbaut sich im Gegensatz zur Bekanntschaft oder Verwandtschaft auf etwas Bewusstem und Aktivem. Bekannte und Verwandte kann man sich kaum aussuchen, Freunde schon. Freundschaften sind Bekanntschaften, denen Bekenntnisse und Versprechen folgen.

II.

Freundschaft ist Intimität, auch wenn diese sich verbal äußert und nicht körperlich betätigt. Oder wie Montaigne sagt: „Bei der Freundschaft hingegen umfasst uns eine alles durchdringende, aber gleichmäßige und wohlige Wärme, beständig und mild, ganz Innigkeit und stiller Glanz; nichts Beißendes ist in ihr, nichts, das uns verzehrte.“ (Michel de Montaigne, Essais (1580) Frankfurt am Main 1998, S. 100.)

Indes hat Freundschaft auch einen sexuellen Gehalt, doch im Prinzip keinen aktiven, sondern einen latenten. Der Eros ist nicht körperlich, sieht man von kleineren amikalen Berührungen ab. Das Sexuelle ist in Freundschaften aber so offensichtlich, wie es übergangen wird.

Freundschaft ist in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich orientiert. Zweifellos handelt es sich um gedämpfte, aber dünstende Homoerotik. Eine Freundin wie einen Freund zu haben, scheint für einen heterosexuellen Mann noch immer nicht leicht zu sein. Aber auch umgekehrt trifft das zu. Ganz bewusst steht daher hier abseits aller paritätischen Floskeln auch stets „man“. Diese Betrachtungen sind eindeutig maskulin und nicht geschlechtsneutral codiert. Was wiederum kein Bekenntnis ist, sondern lediglich eine Feststellung.

Nach der Liebe ist die Freundschaft wohl die innigste Beziehung, zu der wir fähig sind. Das Vertrauen in der Freundschaft bedeutet auch die tendenzielle Aufhebung individueller Geheimnisse. Wo sonst außer in der Diskretion der Freundschaft sollten jene ihren Platz finden? Natürlich muss es viel Vertrauen geben, wie sonst könnte man Freundschaft ernst nehmen? Sie hat schon was von der reinen, also unbedingten Verlässlichkeit, etwas, das freilich das Konkurrenzsubjekt nur sehr bedingt aufzubringen versteht.

III.

Freundschaft ist nur möglich, wenn man Zeit und Raum miteinander teilen kann. Sie braucht, zumindest zeitweilig, räumliche Nähe, um als sinnliche Gewissheit bestehen zu können. Vor allem auch das Vieraugengespräch. Physische Anwesenheit ist nötig, um Freundschaft zu etablieren, und auch erforderlich, will Freundschaft sich erhalten. Freundschaften können letztlich nicht vom Sinnlichen abstrahieren.

Gegenseitige Aufmerksamkeit ist ein zentrales Kriterium. Da Aufmerksamkeit begrenzt ist, sind Freundschaften von jeher in der Zahl begrenzt. Freundschaft erfordert Zeit, viel Zeit. Man kann daher nicht viele Freunde haben, sondern nur wenige, bestenfalls einige. Gerade in Zeiten der Zeitnot ist das Hüten und Halten der Freundschaft alles andere als leicht.

Neue Technologien multiplizieren keineswegs unsere Freundschaften. Auch via Internet kann man nicht viele Freunde haben. Das gilt selbst für jene, die aufgrund ihrer unmittelbaren Lebenslage von vielen Verpflichtungen, insbesondere der Lohnarbeit, befreit sind. Vertraue keinem, der zu viele „Freunde“ hat.

IV.

Ist der Beginn der Freundschaft wechselseitig, so ist das Ende meist einseitig. Das Aus kann recht unterschiedlich erfolgen: abrupt durch Tod oder Bruch, allmählich durch das Auslaufen. Einen wirklichen Akt setzt nur die mittlere Variante, allerdings sagt das noch nichts über die Zeit nach dem Ende: ob die Trennung bloß Rückzug und Distanz bedeutet, oder aber in Feindschaft und Hass übergeht. Das hängt von den jeweiligen Personen und Situationen ab. Das Auslaufen hingegen ist meist die Konsequenz einseitiger Entscheidungen (z.B. eine Ortsänderung), die mit Freundschaft unmittelbar nichts zu tun haben, sie aber in Folge entscheidend tangieren.

V.

Man ist nicht Freund, weil man etwas erhält, sondern weil man jemanden mag. Dieses Mögen ist ein Vermögen ohne Kalkül, es ist einfach da. Vielleicht kann man es begründen, aber warum sollte man? Es ist eine gegenseitige Anerkennung, die Zuversicht, Vertrauen und Verlässlichkeit erwirkt. Freundschaft ist nicht nur leidlich, sie ist gedeihlich und bekömmlich. Zumindest in ihren besten Momenten.

Freundschaft ist von beidseitigem Nutzen zu unterscheiden, auch wenn dieser jener dienen mag und ihr förderlich ist. Freundschaft ist nicht das Austauschen von Gefälligkeiten. Das ist nicht ihr Kern. Kennzeichnend für Freundschaften sind keineswegs die „gemeinsamen Interessen“. Die wird es geben, aber ausschlaggebend können sie nicht sein. Sind sie es, dann steht diese „Freundschaft“ auf fremden und tönernen Füßen.

Es ist vielmehr ein Problem, dass gegenwärtig viele solcher „Freundschaften“ bestehen, die sich auf und um gegenseitige Nützlichkeiten konzentrieren. Im Prinzip verdienen sie diese Bezeichnung nicht, sind bloß ein System institutionalisierter Freundlichkeiten, nicht mehr als funktionelle und funktionalisierte Beziehungen.

Allzu oft werden (scheinbar) solide Zweckgemeinschaften mit Freundschaften verwechselt. Das offenbart sich dann, wenn mit dem gemeinsamen Zweck auch die „Freundschaft“ über Bord geht, als hätte es für sie nie eine Grundlage gegeben. So hinterlassen nicht wenige Brüche einen fahlen Nachgeschmack. Zu Recht fragen sich viele, was denn das gewesen ist. Nicht weniges baut auf falschen Voraussetzungen.

Freundschaften, die sich aufgrund einer gemeinsamen Sache entwickeln, lösen sich meist auch wieder auf, wenn dieser Bezug nicht mehr gegeben ist. Man steht dann schneller vor den Trümmern, als man meint. Wirkliche Freundschaft muss also die direkte Bezogenheit kennen, soll aus der Differenz um den Gegenstand nicht auch die Trennung oder gar das Zerwürfnis und die Feindschaft folgen. Nicht alle Differenzen können überbrückt werden, doch wenn es Brücken gibt, dann gehören Freundschaften zu deren festesten.

VI.

Nicht nur das Feindbild ist zumeist falsch, auch das Freundbild ist oftmals unzureichend. Es ist eine seltsame Imagination und bespiegelt das, was man zu haben meint und nicht das, was man hat. Eins schreit dann Verrat und Betrug und drückt damit doch nur Verständnislosigkeit, ja Hilflosigkeit aus. Enttäuschung sagt freilich aus, dass die Projektion nicht richtig gewesen ist. Was folgt, ist meist die emotionale Eskalation.

Gelegentlich äußern sich aufgekündigte Freundschaften in gezielter übler Nachrede und – wir existieren ja auch in einem Segment kritischer Theorie – in Verfolgungsschriften auf geradezu latrinischem Niveau, mögen da die Argumente noch so hochtrabend formuliert und als Inhalte inszeniert werden. Hier tarnen sich psychisches Elend und mentale Unbeholfenheit als theoretische Souveränität.

Da mag es schon vorkommen, dass zweifellos gescheite Köpfe in einem kurzen Pamphlet einige dutzende Male den Unbegriff „Arschloch“ für ehemalige Weggefährten – waren das Freunde? – verwenden und dann auch noch meinen, sie hätten mehr gesagt als über sich selbst. Derlei Aggressivität, Ausfluss von Biederkeit wie Verbitterung, lässt einen nur noch Trauer und Mitleid empfinden. Indes sollte der Ärger keinen Hass erzeugen.

Nicht jede Feindschaft, die man sich zuzieht, muss man auch noch unbedingt ausüben. Ungeliebten Unfreunden ist die Feindschaft zu verweigern. Nicht nur, weil das Energie vergeudet, sondern weil nur so dieses destruktive Realszenario überwunden werden kann.

Anders als der Freund setzt der Feind persönliche Bekanntschaft nicht voraus. Gerücht und Ressentiment reichen vielfach, um die Feindschaft in Gang zu setzen. Feinde sind überhaupt leichter zu pflegen als Freunde, da jene keiner Nähe bedürfen. Im schroffen Gegensatz zu Freundschaften sind Feindschaften auch einseitig möglich.

VII.

„In der Freundschaft hingegen gibt es kein Geschäft und keinen Handel, sie beschäftigt sich ausschließlich mit sich selbst“, schreibt Montaigne (ebenda). Freundschaften sind daher ein Gut, aber sie haben an sich keinen Wert, auch wenn sie einen ausdrücken, d.h. materialisieren und idealisieren können. Freundschaft hat nichts mit Berechnung zu tun, sie meint nicht Freunderlwirtschaft. Freundschaften sind partiell außerhalb der Marktbeziehungen zu verorten. Wären sie nur eine Ausgeburt derselben, könnten wir sie von diversen Partnerschaften gar nicht erst unterscheiden.

Marktteilnehmer mögen freundlich sein, freundschaftlich sind sie deswegen nicht. Ihre Freundlichkeit ist nicht Ausdruck von Freundschaft, sondern Reklame für den Zweck des Kaufs. Sie drücken sich nicht aus, sie bewerben sich. In ihrem struktiven Verhalten sind sich Marktteilnehmer Feinde.

Das System der Konkurrenz setzt auf die Organisation der Feindseligkeit. Dort, wo Gegnerschaft erforderlich ist, gilt es sie auch zu fördern und zu entwickeln. Das ist freilich ohne eine mentale Grundhaltung, die dem entspricht, nicht möglich. Die Tendenz zur Feindseligkeit ergibt sich aus den Zwängen der marktwirtschaftlichen Kommunikation. Schließlich ist diese kein Spiel, sondern ein Kampf um gesellschaftliche Möglichkeiten.

Freundschaft ist nun etwas, das sich der Konkurrenz entziehen möchte, ja sich gar nicht so selten offensiv widersetzt. Sie mag damit immer wieder auflaufen und scheitern, aber sie kreiert sich stets aufs Neue. Keine Resistenz kann ohne Freundschaften bestehen. Freundschaft bedeutet, man schenkt sich her und gibt sich hin, aber: man tauscht sich nicht aus!

VIII.

Dass beim Geld die Freundschaft aufhört, sollte man einfach dahingehend interpretieren, dass jenseits des Geldes Freundschaft erst richtig aufblühen kann, somit umgekehrt Freundschaften als Brennstäbe der Emanzipation ein entscheidendes Mittel wären, die Welt des Geschäfts restlos zu überwinden. Ganz profan sollte schon jetzt die Grundfrage „Geld oder Freundschaft?“, gestellt werden. In aller Freundschaft: Wie halten wir es mit uns?

IX.

Bereits heute versteht Freundschaft die Vakanzen des Lebens in mancher Hinsicht aufzufüllen, und es ist zu vermuten, dass in ihr, wird sie von den falschen Projektionen und Belastungen befreit, noch mehr Potenzial stecken könnte. Freundschaft als Kern der Kommune, das wäre durchaus eine Perspektive. Die freie Assoziation könnte man sich durchaus als riesiges Netz vieler Freundschaften vorstellen. Auf dass die Menschen den Menschen Menschen werden.

X.

Postskriptum: Ob ich selbst Freunde habe? Mein Kopf sagt mir, dass ich mir da ja nicht sicher sein soll. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sich einige finden werden.

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