Unbehagen. Ressentiment. Kritik

von Franz Schandl

Es geht nicht darum, in objektivistischer Manier das Handeln der Agenten als strukturell bedingt zu verteidigen, wohl aber doch ganz entschieden dieses Agieren in seinen Kontext zu setzen. Wenn man den Masken den freien Willen abspricht, heißt das ja nicht, dass sie fortan für ihre Taten entschuldigt sind bzw. anstellen können, was sie wollen. Sie sind die Ausführenden, und das gilt es stets zu betonen. Nicht Grund, aber doch die letzte Instanz des Vollzugs. Ohne sie ginge nichts. Struktur kann sich nur über ihr Personal in Bewegung setzen, ist nicht selbsttätig. Sie wird nur real, wenn sie kommuniziert wird. So ist es auch schwierig, eine Seinsebene von einer Handlungsebene zu scheiden. Sein kommt nur durch Handeln zu sich. Es gilt aber auch zu konstatieren, dass es eine Basis für Handlungen gibt, die ihre Ursache nicht in ihren Verursachern haben. Widersprüche sollen auf diese Weise begreifbar und angreifbar gemacht werden. Nur wenn dies erkannt wird, aber auch wirklich emotional berührt, ist eine Ablöse oder zumindest ein Liften der Masken möglich.

Unbehagen ist vorerst ein Reflex, der konkreten Gegebenheiten und Entwicklungen in ihrem Sosein und Daherkommen nicht zustimmen will. Unbehagen ist unbeholfener Unwille, unbestimmte Negation. Sinnlich aufgeladen, aber inhaltlich diffus, kann jenes seine Befangenheit nicht überwinden. Die Frage nach dem „Warum“ interessiert kaum. Des Unbehagens Streben geht auch gar nicht Richtung Analyse und Kritik, sondern möchte in weiterer Folge das, was jedes bürgerliche Subjekt immer wieder tut, muss und will – es schreit nach Abrechnung. Irgendjemand hat etwas angestellt und hat dafür zu büßen resp. zu bezahlen. Im Ressentiment schließlich verengt sich die Gegengerichtetheit des Interesses auf die Personalisierung des Übels. Der vermeintlichen eigenen Harmlosigkeit und Ehrlichkeit tritt das Böse in der Form bösartiger Charaktere gegenüber.

Nicht nur nebenbei ist auch zu fragen, welchen Stellenwert bei alledem die herrschenden Grundmythen bürgerlicher Geselligkeit haben. Ein ergiebiges Thema wäre es wohl, die fatale Rolle der Hausmärchen (nicht nur) bei der Maskenausbildung junger Menschen zu untersuchen. Im Märchen werden das Gute und das Böse strikt getrennt und personalisiert. Sie treten auf als unbegründete Instanzen. Die Rede ist von guten Königen und bösen Frauen, habgierigen Juden und braven Untertanen. Und die Bösen sind immer Personen, keine Umstände werden ihnen zugute gehalten, jene sind auf sich selbst gestellt und werden als solche auch gerichtet, oft hingerichtet, auf jeden Fall aber bestraft. Grautöne sind unbeliebt. Märchen halten kaum etwas in Schwebe, sondern enden mit einem voraussehbaren wie herbeigesehnten Schluss. Die Guten heiraten, bleiben an der Macht oder kommen zu Reichtum. Nicht Kinder brauchen Märchen, sondern Bürger. Der moderne Spielfilm als Tonbild in Serie ist nichts anderes als die konsequente Fortführung dieser Art von Erzählung.

Reflexionsarmut transzendiert nun Unbehagen ins Ressentiment. „Wie dagegen im engsten Umkreis Menschen dort verdummen, wo ihr Interesse anfängt, und dann ihr Ressentiment gegen das kehren, was sie nicht verstehen wollen, weil sie es allzu gut verstehen könnten, so ist noch die planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran verhindert, den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produkt des unsublimierten, unaufgehobenen Interesses der Herrschenden. Kurzfristig und doch unaufhaltsam verhärtet es sich zum anonymen Schema des geschichtlichen Ablaufs. Dem entspricht die Dummheit und Verstocktheit des Einzelnen; Unfähigkeit, die Macht von Vorurteil und Betrieb bewusst zu vereinen. Sie findet mit dem moralisch Defekten, dem Mangel an Autonomie und Verantwortung regelmäßig sich zusammen, während so viel zutrifft am Sokratischen Rationalismus, dass man einen ernsthaft klugen Menschen, dessen Gedanken auf Gegenstände gerichtet sind und nicht formalistisch in sich kreisen, kaum je als Bösen sich vorstellen kann. Denn die Motivation des Bösen, blinde Befangenheit in der Zufälligkeit des Eigenen, tendiert dazu, im Medium des Gedankens zu zergehen.“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia (1951), Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main 1997, S. 225-226)

Der Konkurrenz tritt das Ressentiment nicht antikonkurrenzistisch, sondern als Konkurrenz auf anderer Ebene gegenüber. Ziel aller bürgerlichen Vergemeinschaftungsbestrebungen durch Klasse, Staat, Nation, Betrieb, Familie, Clan, Gewerkschaft, Bande etc. ist es, dem Ausschluss zu entgehen und sich irgendwo und irgendwie zu integrieren. Die Identitätssucht der Leute korrespondiert mit der Differenzierungswut des Kapitals. Wir oder die? ist die konfliktbeladene Conclusio. Diese besondere Inklusion ist nur über spezifische Exklusionen zu bewerkstelligen. Der Club der Inländer muss die Ausländer draußen halten, im Krieg der Standorte werden Standorte minimiert oder liquidiert. Das Spiel wird also nicht durchbrochen, man will nur zusätzliche Sicherungen und Garantien für sich und seinesgleichen haben, die der Markt unmittelbar nicht bietet. Je weniger die Hereinnahme über den Markt gelingen kann, desto entscheidender werden diese Verlagerungen, die seinen Grundbedingungen nicht widersprechen, sondern sie bloß ergänzen und korrigieren. Die ideologische Aufladung ist die logische, aber nicht zwingende Zuspitzung der Formvorgaben. Sie ergänzt die nicht mehr aushaltbare Immanenz durch eine falsche Transzendenz.

Vergemeinschaftungen sind Versuche, ihre Mitglieder vor der Konkurrenz zu schützen bzw. sie in ihr zu unterstützen. Letztlich Reglementierungen, Eingeständnisse, dass verfolgte Subjekte Schutz brauchen und finden in Kollektiven, die aber wiederum als Verfolger bestimmter Interessen in Erscheinung treten müssen. „Markt pur“, das wäre nicht auszuhalten. Das Vorenthaltene braucht neben der Identifikation aber auch einen Feind, dem es die Übel zuschreiben kann. Jede bürgerliche Gemeinschaft definiert sich durch das Andere oder die Anderen. Jede Schutzgemeinschaft wird zu einer Drohgemeinschaft. Feindlichkeit (in welcher Form auch immer) bleibt Motiv dieser unglücklichen oder verunglückten Gemeinschaften. Das gilt für den Sozialstaat ebenso wie für den Faschismus, für die Kulturkämpfer der westlichen Werte genauso wie für islamische Glaubenskrieger oder proletarische Klassenkämpfer. Das ist nun kein Bekenntnis zu einer indifferenten Betrachtungsweise, der alles gleich schwarz ist, aber doch die Einsicht, dass auf ähnlichen Mustern aufgebaut wird. Freilich ist es ein Unterschied, welchen Strömungen möglicher Vergemeinschaftungen sich eins anschließt, denn ganz ohne Anschluss gibt es keine bürgerliche Existenz. Kriterium hiebei ist, zu fragen, mit welchen apriorischen Wesensmerkmalen die jeweiligen Kollektive sich ausstatten. Es soll sich nur niemand einbilden, frei vom Ressentiment zu sein. Es ist nicht einfach so, dass die einen bereits wissen, wovon die anderen keine Ahnung haben. Auch mag es Befangenheiten geben, die wir gegenwärtig noch gar nicht erkennen (können).

Vorherrschend ist, wie könnte es anders sein, die affektive Verarbeitung der Form durch ihre Reproduktion. Stimmung macht dem Begreifen des Öfteren einen Strich durch die Rechnung, ja sie desavouiert nicht selten Erkenntnis in vollem Umfange. Mental ist da etwas tief eingesenkt: das Bekenntnis zur Arbeit, der Glaube an Nation und Volk, die Erotik des Geldes, die Rolle der Frau, die Freiheit des Marktes, die Natürlichkeit der Konkurrenz, die Selbstverständlichkeit des Tauschs, die Anhänglichkeit an diverse Gemeinschaften, die Aversion gegen Abweichler. Auch fleißige Arbeitskritiker verachten praktizierende Arbeitsverächter. Zumindest gelegentlich. Und niemand sage, er oder sie erwische sich nicht dann und wann. Auch wenn wir wissen, dass wir das alles nicht wollen, heißt das noch lange nicht, dass wir es wirklich nicht wollen. Es ist nicht so, dass mentale Haltung und inhaltliche Erkenntnis schon eins sind, und wenn nicht, nur die Systemzwänge dies verhindern. Das ist denn doch eine billige Ausrede. Die Realität ist kein Alibi für jedwede Gemeinheit. Es ist also nicht nur systemischer Zwang oder schlichte Bequemlichkeit, denen wir uns unterwerfen. Die mentale Basis liegt zwar in den Verhältnissen, doch die Verhältnisse sind wir durch unser Verhalten selbst. Diese Erkenntnis, die einem Zirkelschluss gleicht, ist absolut schrecklich. Sie deutet nämlich an, dass die Konvention der Verstellung möglicherweise auch jede Perspektive verstellt. Es sich eins in seinem Innersten gar nicht anders vorstellen kann – auch wenn es das nicht wahrhaben möchte.

Man lacht etwa über einen Witz, wo es nichts zu lachen gibt. Und es ist nicht äußerer Druck, sondern innerer Ausdruck, der sich da den Weg bahnt, auch wenn man im nächsten Moment weiß, dass da eine falsche Regung entfleucht ist. Man ist nicht Souverän solcher Empfindungen, die sich einfach Luft machen, ob das die Träger nun für zulässig halten oder nicht. Nichts ist so enteignet wie der Gefühlshaushalt. Unsere Ansicht ist nun nicht, dass sich unterdrückte Triebe „befreien“, sondern dass verschiedene Strömungen der Vergesellschaftung des Subjekts und/oder des Individuums, also mehr synthetische und mehr reflexive aufeinandertreffen und es oft nicht aus und ein weiß, welchen Vorgaben und Verlockungen es sich fügen soll oder darf. Innere Sicherheit ist sowieso ein Popanz. Das fragmentierte Bündel Mensch weiß vielfach nicht, wie ihm geschieht, was es will, geschweige denn, wer es ist. Es läuft auf verschiedenen Frequenzen in verschiedenen Geschwindigkeiten. In seiner Zerrissenheit vermag es die einzelnen Partikeln immer seltener zu einem für sich stimmigen Ganzen zu gestalten. Naheliegend ist daher geradezu die Flucht aus dem Nachdenken. Doch das löst nichts, führt lediglich in Ignoranz und Indifferenz. Abgeklärtheit ist die Folge.

Die Frage, die sich uns stellt, ist die, wie es gelingen kann, diverse „Selbstverständlichkeiten“ des Daseins zu durchkreuzen. Praktische Kritik hat das zu können, will sie nicht versagen. Ohne diese Anstrengung ist jede Auseinandersetzung a priori verloren. Ohne vermittelbare und konkrete Perspektive wird Regression um sich greifen. Unaufhaltsam. Bestenfalls kann man recht behalten. Solch Erkenntnis setzt allerdings voraus, dass man das Unbehagen ernst nimmt, nicht aufgrund seiner chron(olog)ischen Entwicklung vorab diskreditiert. Die bloße Distanzierung ist meist hilflos, es geht darum, die Partikularität der Sichtung durch eine Totalität der Sicht zu ersetzen. Die Verrücktheit der Aktienmärkte ist nicht abzustreiten, sie ist aber zu integrieren in das Ensemble der verrückten Formen, die das Kapital auf Grundlage seiner Bewegungsgesetze hervorbringt. Dass die Banken die Leute ausnehmen, ist ja nicht falsch, so wenig wie es falsch ist, dass im System der Konkurrenz alle alle übervorteilen wollen; Banken jedoch aufgrund ihrer Position als Geldinstitute in einer besseren Situation sind als etwa Arbeiter oder gar Arbeitssuchende. Indes, wenn die Leute Zinsen kassieren möchten, bekunden sie praktisch, am Mehrwert partizipieren zu wollen und an einer hohen Profitrate interessiert zu sein. Notwendig wäre es hier, bis in die kleinsten Details des Alltags vorzudringen und die vom Wert gesetzten Zumutungen als solche fassbar zu machen.

Bei aller Problematik liefert das Unbehagen an den Zumutungen Ansatz- und Entwicklungspunkte. Ein viel größeres Problem als jenes ist etwa die Affirmation in all ihren Verkleidungen, was meint, dass Menschen ihr Leiden leiden sollen. Diese fanatische Ignoranz sich selbst betreffend ist um einiges schwieriger aufzubrechen. Gesellschaftskritik, die den Anspruch hat, Alternativen zu entwickeln, darf nicht an der Rohheit des Unbehagens verzweifeln oder, was nur eine Flucht darstellt: gegenüber ihm zynisch werden. Es und die Seinigen dem Schicksal überlassen, kann schon deswegen nicht angehen, weil es auch das eigene tangiert.

Kritik hat weder grobschlächtig noch hochnäsig zu sein, sondern sich einmischungsfähig zu gestalten. Distanzierung als Grundeinstellung ist verheerend. Die kalte Zurückweisung, das verdammende Urteil, selbst wenn es dem Gegenstand zukommen mag, es kommt ihm nicht bei. Die Frage ist immer wieder die: Will man etwas ermöglichen oder will man jemanden verunmöglichen? Solange sich Letzteres als Unsitte bewährt, wird der linke Minimundus nichts anderes bewerkstelligen als eine schlechte Kopie der großen Welt, was bedeutet: die selbstdestruktiven Kräfte werden sich in ihrem Autokannibalismus durchsetzen. Und dieser ist auf kleinem Raum sogar noch schlimmer als im normalen Leben, dort gibt es zumindest größere Flucht- oder Sturzräume.

Aus: Maske und Charakter. Sprengversuche am bürgerlichen Subjekt, krisis 31, S. 166-170. Die Ausgabe ist um 10 Euro (inklusive Porto) bei uns zu bestellen.

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