Trinkbares Wasser, atembare Luft

Günther Anders zu ausgewählten Fragen der so genannten Umweltproblematik

von Franz Schandl

„Die Menschheit als Ganzes ist tötbar“, schreibt Günther Anders im 1956 veröffentlichten ersten Band der „Antiquiertheit des Menschen“. (AI, S. 243) Zeitlebens ist das „apokalyptische Monstrum der Atomgefahr“ (P, S. 6) sein Thema gewesen. Seit 1945 bestimmte es sein Fühlen, Denken und Handeln.
Was er liefern wollte, war nichts weniger als eine Kritik der Grenzen der Menschheit. (AI, S. 18) Als moralisch kann nur gelten, wer „die Konsequenzen der Konsequenzen der Konsequenzen seiner Handlungen im Auge behält“. (KO, S. 35) In einem gleichnamigen Artikel sprach Anders auch vom „Globozid“ und die Redaktion des Wiener FORVM versah den Heftschwerpunkt Atomkraft mit dieser Überschrift. Natürlich lag sein Augenmerk mehr auf der Atombombe im Speziellen als auf der Atomkraft im Allgemeinen. Trotzdem hat er auch Einiges an Ausführungen und Notizen zur so genannten friedlichen Nutzung der Kernenergie hinterlassen. Er hält fest: „Mit Kraftwerken beschießt man die Menschheit.“ (GAA, S. 128) „Die Gleichsetzung von Atomwaffen und Atomkraftwerken ist legitim; der Ausdruck ‚friedliche Nutzung der Kernenergie‘ ist eine Lüge.“ (GAA, S. 127)

Nach Tschernobyl

Scharf ins Gericht ging er mit den Protagonisten der Kernenergie: „Und die Fürsprecher der Atomkraftwerke, vor allem aber der Wiederaufbereitungsanlagen, sind heute, nach Tschernobyl, da niemand mehr den Ignoranten spielen kann, zu bewussten potenziellen Verbrechern geworden. Da die Katastrophe durch einen zufälligen Riss im Metall oder durch ein zufälliges menschliches Versagen eintreten kann, also unvorhersehbar und unermesslich ist, darf es diese Verwendung nicht geben. Das Unvorhersehbare und das Unermessliche haben tabu zu bleiben. Denn es ist völlig gleich, ob wir durch Atomraketen oder durch so genannte friedliche Kraftwerke zugrunde gehen – beides ist gleich mörderisch.“ (GAA, S. 141) Dem Motto „Tschernobyl ist überall“ erteilte Anders ausdrücklich seine Zustimmung. (GAA, S. 137, 143f.)
Dass die Anti-Atom-Bewegung, aber auch die Ökologiebewegung keine mehr sei, die sich an Klassen orientieren könne, war für Günther Anders jedenfalls ausgemachte Sache. „Wenn Arbeiter mitmachen, machen sie nicht mit als Arbeiter, geschweige als Proletarier, sondern aus klassenunabhängiger Einsicht.“ (GAA, S. 94) Diese Einsicht ist demnach ein Schlüssel zukünftiger Emanzipation, nicht das Festhalten und Durchsetzen angestammter Interessen sozialer Charaktermasken. „Auch ich, der ich scharf links stehe, empfände es als dumm und unwahrhaftig, heute einfach mit den Schlagworten des vorigen Jahrhunderts [gemeint ist das neunzehnte, Anm. F.S.] zu antworten.“ (GAA, S. 93) In den Entwürfen zum dritten Band der „Antiquiertheit“ heißt es: „Aufs erfolgreichste ‚apokalypseblind‘ gemacht, hatten sie mehr Angst davor, ihren heutigen Arbeitsplatz einzubüßen, als davor, ihr morgiges Dasein und die übermorgige Welt zu verlieren. (…) Den Fundamentalproblemen von heute haben sich die Arbeiterschaften von heute nicht als ‚gewachsen‘ erwiesen.“ (AIII-III, S. 52)
Nicht nur Arbeitsbedingungen und Arbeitslöhne wären zu bestreiken, sondern vor allem die Produkte selbst. An vielen Stellen seines Werkes spricht er von der Notwendigkeit eines Produktstreiks (insb. D, S. 136-167). „Wahr ist vielmehr, dass die Produktion die Produkte als Ausschuss von morgen erzeugt, dass Produktion Erzeugung von Ausschuss ist. Von Ausschuss freilich, zu dessen Wesen es gehört, dass er sich vorübergehend im Status der Verwendbarkeit aufhalte.“ (AII, S. 40) Der so genannte Gebrauchswert der Ware rückt also ins Zentrum der Kritik.
Auch darüber hinaus machte er sich so seine Gedanken, und selbst wenn sie nur en passant geäußert wurden, gehören seine Überlegungen etwa zur Frage des Mülls resp. dessen Lagerung zu den erhellendsten, die wir kennen. „Die Hauptaufgaben sind (oder scheinen) vielmehr die negativen: Nämlich wie wir etwas abschaffen, und zwar endgültig. Nicht das Konstruieren von noch so enormen, sondern das Loswerden der schädlichen Abfälle der Produktion. (…) Wir verfügen über keinen abliegenden Ort mehr, in den wir die ‚Residuen‘ verbannen könnten, ohne diesen (und auch uns selbst) mit zu vergiften: keinen ‚Ab-ort‘, dem wahrhaft unphilosophischen Worte kommt hier ein universeller philosophischer Sinn zu. (…) Die vorhin aufgestellte These ‚Es gibt keinen »Abort« mehr‘, muss durch eine, dieser scheinbar entgegengesetzte und widersprechende ergänzt werden: nämlich durch die Antithese: ‚Nun ist alles »Abort« geworden‘ – was bedeutet: Da die Effekte unserer Tätigkeiten heute immens groß sind, ‚überborden‘ sie. (…) Unser ‚Fluch‘ besteht mithin nicht mehr, wie noch vor kurzem, darin oder nur darin, dass wir zur Endlichkeit des Daseins, also zur Sterblichkeit verdammt sind; sondern umgekehrt darin, oder auch darin, dass wir die Unbegrenztheit und die Unsterblichkeit (der Wirkungen unseres Tuns) nicht eindämmen oder abschneiden können. Wie widerspruchsvoll das auch klingen mag: Dasjenige, was uns begrenzt (…), ist die Unbegrenztheit der Effekte unseres Tuns. Omnipotenz ist unser fatalster Defekt.“ (G, S. 136-139)
Den entstehenden neuen sozialen Bewegungen stand Günther Anders positiv gegenüber. Er sagt: „Durch sie allein sind wir nicht zu retten. Ohne sie freilich auch nicht. Wenn wir Menschen überhaupt überleben sollen, halte ich es für absolut unerlässlich, die totale Einbetonierung unserer Welt mindestens zu dosieren, das Trinkwasser trinkbar und die Luft atembar zu erhalten.“ (GAA, S. 65) „Die Öko-Bewegung ist unverzichtbar. Aber mir widersteht es, eine ,Weltanschauung‘ aus ihr zu machen. Das erinnert mich zu sehr an Wandervogel und Fidus.“ (GAA, S. 65) Der Philosoph identifizierte sich mit den Anliegen auf inhaltlicher Ebene, ohne jedoch die ideologischen Prämissen oder die praktischen Beschränkungen zu teilen.

Das Enorme und die Gewalt

Insbesondere an den Formen des Widerstands entzündete sich eine scharfe Kritik, eben weil sie sich auf Happenings (AII, S. 356ff.) beschränken und so die Ernsthaftigkeit der Gefahr bagatellisieren. „Dann gibt es Würschtl, Tschernobyl mit Würschtl. Und dann kommen die Gitarren. Und wo die anfangen, da fängt auch der emotionale Schwachsinn an. Denn die meisten Gitarrenspieler bedienen sich nur dreier Akkorde, die jeden Hörenden oder Mitsingenden trivialisieren, dass sie nicht mehr fähig sind, das Ungeheuere, das sie zusammengetrieben hat, wirklich zu spüren.“ (G, S. 27-28)
In seinen letzten Lebensjahren sprach er eindringlich von einer neuen Qualität des Widerstands, in der auch Gewalt als zu befürwortendes Mittel genannt wurde: „Wir Atomgegner bekämpfen also wie gesagt, einen Verteidigungskampf gegen so enorme Bedroher, wie es deren nie zuvor gegeben hatte. Also haben wir das Recht, Gegengewalt auszuüben, obwohl hinter dieser keine ‚amtliche‘ und ‚rechtmäßige‘ Macht, also kein Staat, steht. Aber Notstand legitimiert Notwehr, Moral bricht Legalität.“ (G, S. 93) „Gewaltlosigkeit gegen Gewalt taugt nichts. Diejenigen, die die Vernichtung von Millionen Heutiger und Morgiger, also unsere endgültige Vernichtung vorbereiten oder mindestens in Kauf nehmen, die müssen verschwinden, die darf es nicht mehr geben.“ (G, S. 105) „Aber Frieden ist mir nicht Mittel, sondern Ziel. Und deshalb kein Mittel, weil Frieden das Ziel ist.“ (G, S. 108) „Macht diejenigen kaputt, die bereit sind, Euch kaputt zu machen.“ (G, S. 153) Ganz kategorisch wurde dieser Standpunkt vorgetragen, etwa in einem Artikel in der deutschen taz vom 9. Mai 1987: „Wir werden nicht davor zurückscheuen, diejenigen Menschen zu töten, die aus Beschränktheit der Phantasie oder aus Blödheit des Herzens vor der Gefährdung und Tötung der Menschheit nicht zurückscheuen.“
Was dazu sagen? Ich möchte das hier nicht beantworten. Nicht nur, weil dies das Referat sprengte, sondern auch weil mich das in diesem Zusammenhang überfordern würde. Ich will aber dezidiert festhalten, dass Gewalt nicht eskamotiert werden kann, die Frage nicht dadurch gelöst ist, dass der Staat sie einfach hat oder man sie sich einfach nimmt. Seriöserweise ist die Frage der Gewalt zu stellen, sie nicht zu stellen, hieße, sich taub oder gar dumm zu stellen. Wie staatliches Gewaltmonopol, gesellschaftliche Gewaltpole (z.B. mafiotische Banden) oder emanzipatorische Gegengewalten sich manifestieren, zueinander oder gegeneinander verhalten, darf nicht der Verdrängung anheimfallen. Sich vorbeizuschwindeln ist intellektuell unredlich, gerade auch bei denen, die Gewalt als letztes gesellschaftliches Regulativ (und das ist sie noch immer, die zivilgesellschaftliche Decke ist dünn) überwinden wollen. Günther Anders war hier jedenfalls mutig, alles andere als vorsichtig und leichtfertig. Leicht machte er es sich und uns ja nie.

Radikal und konservativ

Es ist schon frappant. Da spricht einer vom Töten, dem es eigentlich die ganze Zeit um das Leben geht. „Die Menschheit erhalten zu wollen, ist nicht nur keine Schande, umgekehrt die Pflicht. Neben der andere Ziele (…) einfach läppisch sind.“ (K, S. 299) Anders hätte sich sicher dagegen gewehrt, als Philosoph des Untergangs bezeichnet zu werden, im Gegenteil, er selbst sah sich als vehementen „Untergangsgegner“ (D, S. 70). Hier liegt die zentrale Motivation seiner Philosophie und aller Einmischungen. Das Überleben der Menschheit war die alles überbordende Frage, nicht eine unter vielen, sondern jene, der alles unterzuordnen ist. Er ging sogar so weit zu sagen: „Ich glaube, wir haben diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Verbesserung zu sistieren, weil wir uns in einer Situation befinden, in der wir nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Entfaltung zu suchen haben. Und obwohl ich ja als Radikaler gelte, nenne ich mich nicht grundlos einen ‚Konservativen‘, weil wir, wie ich finde, erst einmal dafür sorgen müssen, dass die Welt, die wir wirklich verändern könnten, überhaupt erst einmal gesichert werde. Alle bisherige Philosophie, bis hin zu Adorno, geht von der Selbstverständlichkeit des Weiterbestands der Welt aus. Zum ersten Mal wissen wir von der Welt, in der wir leben, nicht, ob sie weiterbleiben wird.“ (GAA, S. 77)
Allerdings muss der Einwand gestattet sein, ob eine Entscheidung nach einem Zuerst und einem Danach nicht in die Irre führt. Ob der Kampf zur Erhaltung der Welt von einem Kampf für die Veränderung derselben getrennt werden kann resp. soll. „Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt“, ließ Erich Fried in seinem Gedicht „Status quo“ (Gesammelte Werke, Gedichte 2, Berlin 1993, S. 523) einst wissen. Tatsächlich kann es nicht darum gehen, einen Status quo, also das Zwischenergebnis einer falschen Entwicklung gegen eine noch schlechtere Zukunft zu verteidigen, sondern Tendenz und Resultat wären gemeinsam in Frage zu stellen. Die Bremse allein reicht nicht. Man kann nicht die Folgen beseitigen, ohne sich der Ursachen zu entledigen. Veränderung ist also ein Gebot der Stunde und sollte daher nicht verschoben werden.
Um die Welt in Form zu halten, wird man um die Transformation nicht herumkommen. Und Transformation meint mehr als Reform, sprachlich wie substanziell. Möglicherweise hätte Anders dem auch zugestimmt. Ganz entschieden war er ein Feind (nicht bloß Gegner!) des Sozialdarwinismus, den er als „eine Übertragung des kommerziellen Konkurrenzprinzips auf das Ganze der lebenden Natur“ (BI, S. 25) bezeichnet. Klar ist für ihn: „Der Komparativ, das Prinzip des Fortschritts und der Konkurrenz, ist sinnlos geworden.“ (D, S. 99) „Das Zeitalter des Komparativs ist vorüber“ (GAA, S. 147), sagt Anders. An uns sollte es liegen, aus dieser normativen Aussage eine deskriptive zu machen, um von der quantitativen Eiferei des Wachstums und der gegenseitigen Missgunst, die ja wiederum nur eine Reaktion auf den Komparativ ist (vgl. AIII-V, S. 65), in eine Zeit qualitativer Selbstbestimmungen zu springen. Wir sollten nur noch anstellen, was wir uns vorstellen können und was wir uns vorgestellt haben. Die Konsequenzen sollten die Phantasie nicht desavouieren. (AII, S. 324)

Metaphysische Valenz

Dazu bedarf es allerdings eines Bruchs mit zentralen abendländischen Dogmen, einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt, um nicht den merkwürdigen Begriff Umwelt zu verwenden. „Ich finde, es ist eine furchtbare Anmaßung zu glauben, dass ausgerechnet wir, die wir nun einmal Menschen sind, eine andere metaphysische Valenz haben als die Millionen anderen creata, die anderen Geschöpfe und geschaffenen Dinge, die es in der Welt gibt.“ (GAA, S. 99) Die Menschen sind für Anders keineswegs die „Krone der Schöpfung“ (K, S. 346), „eine Schnapsidee ist es nicht nur, das wir der Mittelpunkt der Welt seien, sondern dass es so etwas wie deren Mittel- oder Zielpunkt überhaupt gebe“ (I, S. 54), schreibt er.
Und doch gibt es eine Diskrepanz, die nicht einfach weggezaubert werden kann. Gemeint ist die Selbstschöpfungsfähigkeit der Menschen, die sowohl konstruktiv wie destruktiv weit über die natürlichen Anlagen hinausgeht. Sobald wir denken und sobald wir handeln, greift ein impliziter Anthropozentrismus. Daher ist die Frage zu stellen, ob man sich diesen aussuchen, also frei wählen, kann, ob nicht die Menschen durch ihre Gesellschaftlichkeit zu einer Sonderstellung verurteilt sind. Anders schreibt selbst, dass es das „Machen ausschließlich als menschliche Aktionsweise gibt“. (K, S. 39) „Machen ist etwa im Unterschied zum Wachsen oder zum Konsumieren, eine Aktivität, die, soweit wir wissen, uns Menschen vorbehalten ist, also ein anthropologisches Monopol. (Oder vielleicht, da wir auf Machen pausenlos angewiesen sind, Symptom eines ‚Defektmonopols‘).“ (Ebenda)
Das zentrale Problem scheint mir nunmehr nicht zu sein, ob das der Fall ist, sondern was aus dieser Sonderstellung resultiert. Denn auch wenn diese Differenz von entscheidender Bedeutung wäre, ist dieses „anders“ als ein „höher“ einzustufen? – Wohl kaum. Es geht weniger um eine metaphysische Valenz als um eine praktische Differenz. Letztere begründet keine Erstere, sondern demonstriert nur, dass es hier Unterschiede gibt, die uns jedoch keinen wie immer gearteten Freibrief gegenüber unserer Mitwelt ausstellen. Im Gegenteil, was sie erhöhen, ist bloß die Verantwortung, da wir als einzige Spezies nicht auf das Natürliche reduzierbar sind.
Zweifellos, Menschen können etwas, das andere Wesen nicht können. Dieses Vermögen ist ein zufälliges Geschenk der Evolution und keine Legitimation zur Herrschaft. Die spezifische Potenz mag ein Faktum sein, aber es ist ein historisches Faktum, kein überhistorisches. Factum non fatum est! Daraus ist bestenfalls Sorgfalt oder Fürsorge zu folgern, keineswegs Unterwerfung, geschweige denn Arroganz oder Präpotenz gegenüber unserer Umwelt. Vergessen wir nicht: Auch andere Wesen können etwas, das Menschen nicht können. Hunde können besser hören, Katzen können besser sehen, Vögel können fliegen, Fische können unter Wasser leben, und die radioaktive Strahlung (um hier brachial aus dem Tierreich ins Reich der Atome zu wechseln), die kann sogar unsichtbar sein.
Wie Günther Anders gehe ich davon aus, dass hier kein besonderer Wert (Anders mochte dieses Wort sowieso nicht leiden, K, S. 131) konstituiert wird, sondern bloß ein merkwürdiges Faktum, eines aber, das es den Menschen ermöglicht, Überlegenheit eines vermeintlich Stärkeren zu demonstrieren, das Außer-uns-Seiende zu degradieren. Das entspricht auch dem alttestamentarischen „Macht Euch die Erde untertan“ (Genesis 28), das eine strikte Hierarchie der Wesen postuliert. „Die Art menschlicher Weltverwalterschaft ist unbedingte Überlegenheit“, schreibt etwa der vom Wiener Kardinal Schönborn gerne zitierte Hans Walter Wolff in seiner „Anthropologie des Alten Testaments“ (München 1974, S. 239). Rechenschaftspflicht richtet sich demnach in erster Linie gegen Gott, in zweiter gegen andere Menschen und erst in dritter gegenüber allem Anderen, das da unter dem fragwürdigen Sammelbegriff „Umwelt“ firmieren muss.
Resümieren wir noch einmal: Die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen sich geschaffen haben, sind jenseits der Natur. Selbst Wald und Wiese, Weg und Feld sind Kultur, nicht Natur. Menschliche Bestimmung geht über präformierte Beschaffenheit hinaus, Kultur reicht qualitativ über Natur hinweg. In einem späten Aufsatz schreibt Anders: „Denn Natur kennt keine Natur. Und zwar deshalb nicht, weil die nichtmenschlichen Lebewesen keine ‚animalia fabri‘ sind, weil es nicht zu ihrer ‚Natur‘ gehört, statt in der ‚vorhandenen‘ Welt in einer zweiten, von ihnen selbst hergestellten, also künstlichen Welt zu leben, mindestens nicht, diese täglich neu durch neue Produkte zu verändern. Weil sie also nicht in einer Welt leben, die sich von der ‚Natur‘ abhöbe oder von der sich die ‚Natur‘ abhöbe. Das Konzept ‚Natur‘ ist also ein Monopol des homo faber, der dieses Konzept allein deshalb prägen kann, weil er nicht nur ‚Natur‘ ist; und der nun in seinem Größenwahn alles dasjenige, was er nicht selbst hergestellt hat (so als wäre diese überwiegende Masse des ohne ihn Existierenden ein bloßer Rest) unter dem Titel ‚Natur‘ zusammenfasst – eine Kindischkeit, über die sich zu beschweren Mikroben ebenso wie Milchstraßen ein Recht hätten.“ (B, S. 26)

Notstände abschaffen

Was theoretisch nicht gelöst werden kann, muss praktisch angegangen werden. „Notstände sind nur abschaffbar, nicht widerlegbar“ (AI, S. 323), heißt es. Die theoretische Geringschätzung der Menschen kombinierte sich bei Anders mit einer warmherzigen wie sympathischen Menschenliebe. Fatalismus oder Resignation war seine Sache nicht. Aktivität war geboten. Gegen Martin Heidegger gewandt, sagt er: „Denn wir haben nicht darauf zu warten, was das Sein schickt – wer schickt, sind wir, die wir diese Welt mit ihren entsetzlichen Konsequenzen produziert haben; und dass wir, wir Menschen, dieses Schicksal des Nichtseins nicht erfahren, liegt hoffentlich in unserer Hand.“ (H, S. 364)
Diese Praxis, die er vorschlägt, darf aber kein blinder Aktivismus sein. „Was wir vor allem nötig haben, ist Interpretation, d.h. Theorie, weil allein sie wirkliche Praxis möglich macht.“ (V, S. 179) Und an derselben Stelle notiert er: „Praxis ohne Theorie ist nicht minder stur und nicht minder leer, vielleicht sogar sturer und leerer als Theorie ohne Praxis.“ Und doch propagiert er keine Einheit von Theorie und Praxis, im Gegenteil: Die Diskrepanz von Theorie und Praxis, ihre Zweiheit war immer Gegenstand der Reflexionen: „Als moralisch Aktive haben wir dümmer zu sein als wir sind.“ (GAA, S. 98) „Wissen müssen wir die Wahrheit. Aber obwohl wissend, haben wir so zu handeln, als wüssten wir sie nicht.“ (HI, Einleitung XXXII) Es war eine contrafaktische Setzung wider die eigene Prognose, damit diese ja nicht Wirklichkeit werden sollte. Es ging ihm nie darum, Recht zu behalten, im Gegenteil, er wollte sich durch Praxis widerlegen.
Alarmieren wollte er zweifellos. Die Diagnose sollte Aufruf, ja Aufstachelung sein. Um heute überhaupt wahrgenommen zu werden, muss eins übertreiben, doch eine Konsequenz daraus ist, dass stetige Erregung Indifferenz zeitigt. Unablässiger Lärm, also Skandalisierung führt dazu, den berechtigten Alarm zu überhören oder ihn gar nicht mehr ernst zu nehmen. Anders war sich dessen bewusst. Die Unfähigkeit, unterscheiden zu können, ist eine, wenn nicht die Basis der grassierenden Indifferenz. Günther Anders spricht in einem Interview mit Mathias Greffrath (1982) von einem „Zeitalter der Massenindifferenz“ (GAA, S. 63). Eins will nicht so recht wissen, was ist, wohl nach dem Alltagsspruch: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Es gilt sich jedoch der Angst bewusst zu werden, sie nicht zu verdrängen. „Die meisten Leute haben Angst vor der Angst“ (GAA, S. 148), sagt er. Die Angst zuzulassen, hieß für ihn nicht, sich permanent zu ängstigen, im Gegenteil. Eines seiner bekanntesten Zitate, niedergeschrieben in den 1959 veröffentlichten „Thesen zum Atomzeitalter“, lautet ja: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!“ (D, S. 105)


Zitierte Literatur von Günther Anders

AI: Die Antiquiertheit des Menschen, Band I, München 1956.
AII: Die Antiquiertheit des Menschen, Band II, München 1980.
AIII-III: „Sprache und Endzeit“ (III). Aus dem Manuskript zum dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“, FORVM Nummer 428/429, August/September 1989, S. 50-55.
AIII-V: „Sprache und Endzeit“ (V). Aus dem Manuskript zum dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“, FORVM Nummer 432, Dezember 1989, S. 62-67.
B: Blindschleiche und Parzival. Natur und Kultur in meiner Kindheit, FORVM, Nummer 444, Dezember 1990, S. 23-33.
D: Die atomare Drohung, München, 5. Aufl. 1986.
G: Gewalt – ja oder nein. Eine notwendige Diskussion, München 1987.
GAA: Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen, Berlin (West) 1987.
H: Über Heidegger, München 2002.
HI: Hiroshima ist überall. München 1982.
I: Die Irrelevanz des Menschen, FORVM, Nummer 415/416, Juli 1988, S. 54-64.
K: Ketzereien, München 1982.
KO: Die Konsequenzen der Konsequenzen der Konsequenzen. Jedes Kraftwerk ist eine Bombe; FORVM, Heft 280/281, April/Mai 1977, S. 35.
P: Philosophische Stenogramme, München 1965.
R: Reicht der gewaltlose Protest?, taz, 9. Mai 1987.
V: Visit beautiful Vietnam. ABC der Aggression heute, Köln 1968.

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