Peak Protest? Zur Perspektive der Bewegungen an den Unis

von Andreas Exner

Verflogen ist die Euphorie. Ernüchterung macht sich breit. Wer bis dato die überzogene Erwartung kurzfristiger Erfolge hatte – nun ist es nicht mehr zu übersehen: Die Leute in den Hörsälen werden weniger – auch wenn die Facebook-Gruppe “Audimax” weiter angewachsen ist; die Politik reagiert in keiner Weise konstruktiv – auch wenn die Proteste dem Thema “Bildung” enormes Gehör verschaffen konnten; die Probleme an den Unis werden auf absehbare Zeit bestehen bleiben – selbst wenn es mehr Geld vom Ministerium gibt (ja vielleicht gerade dann); die Welle der Solidarisierung blieb vielfach im Paradigma des Kapitals, in Slogans wie “Ausbildung für mehr Wettbewerbsfähigkeit” und “Bildung ist unsere wichtigste Investition in die Zukunft” befangen – wenngleich ihre Breite in der Tat erstaunlich ist.

Zeit, um ein Resümee zu ziehen.

Wer die aktuellen Bewegungen an den österreichischen Unis mit jenen von 1996 und 1987 vergleicht, erkennt viele Gemeinsamkeiten. Die traditionellen Elemente der Proteste sind tatsächlich nur ein schwacher Abklatsch früherer Bewegungen, etwa im Vergleich mit den Bildungsstreiks des Jahres 1987, wo es tatsächlich einen “Schulterschluss” mit den von der Krise der Verstaatlichten gebeutelten ArbeiterInnen gab und nicht nur das Audimax besetzt worden ist, sondern sich ein Streik entwickelte, der sogar über die Unis hinausgriff. Auch die Selbstorganisation und die spontane Aktionsform der Protestierenden ist keinesfalls historisch neu. Die Breitenmeinung, Facebook, Twitter & Co. hätten in dieser Hinsicht eine neue Qualität gebracht, ist falsch. Blickt man in die Geschichte sozialer Bewegungen, so sieht man immer wieder Phasen ausufernder Selbstorganisation, und die ist nicht auf das Internet angewiesen, Stichwort 1968.

Dennoch haben die aktuellen Proteste eine neue Qualität; eine, die ermutigt. Drei Punkte unterscheiden sie von früheren Bewegungen in Österreich und stellen sie in eine entfernte Reihe mit den Ereignissen von 1968.

Erstens. Die spontane Selbstorganisation ist eine im wahrsten Sinn uralte Fähigkeit der Menschen. Der Kapitalismus kann sie nicht beseitigen, macht sie sich vielmehr zum Teil zunutze. In Phasen gesellschaftlichen Aufbruchs und in Krisen treten diese Fähigkeiten daher relativ rasch zutage. Unter günstigen Bedingungen können sie sich selbst strukturieren und eine basisdemokratische, konsensorientierte Form annehmen, die sich auf Dauer stellt. In der Emphase des “Individuums”, die man in den Kreisen der Beteiligten in diesem Zusammenhang immer wieder hört, ist weniger das bürgerliche Subjekt zivilgesellschaftlicher Träume, sondern vielmehr ein “anarchistischer”, auf Selbstbestimmung bedachter Zug sehr vieler Engagierter zu erkennen.

Das Neue in der gegenwärtigen Dynamik ist also nicht in der Selbstorganisation zu sehen. Es liegt vielmehr im Umstand, dass Parteistrukturen keine Rolle in den Protesten spielen. Bis jetzt ist auch keinerlei parteiliche Vereinnahmung gelungen. Die Interessensvertretung der Studierenden, die Österreichische Hochschüler_innenschaft hält sich im Hintergrund. Sie begleitet die Proteste und unterstützt sie im besten Sinne, ohne dass sie bisher einen Führungsanspruch oder ein Verhandlungsmandat geltend macht.

Zweitens. Anders als frühere Proteste ordnen sich die aktuellen Bewegungen in eine internationale Dynamik ein. Nicht nur wurden sie über feine aber entscheidende Informations- und Wahrnehmungskanäle von anderen sozialen Kämpfen im Bildungssektor inspiriert. Sie üben auch selbst Inspiration auf andere Studierende aus. Der Anstoß, den die Wiener Besetzungen für Deutschland gaben, ist bekannt.

Drittens. Die Proteste von 1987 und 1996 waren rein defensiv. Die Position dieser Bewegungen war deshalb äußerst schwach. Ab dem Zeitpunkt, als die Luft des ersten Unmuts draußen war, fielen die Bewegungen daher wie Schaum in sich zusammen. Dies gilt übrigens auch für die Demonstrationen gegen die FPÖ-ÖVP-Regierung im Jahr 2000. Das ist inzwischen anders. Die Arbeitsgruppen, die Studierende gleich nach Beginn der Besetzungen bildeten, sind nicht zu Unrecht bis in die mediale Wahrnehmung vorgedrungen. Neben organisatorischen Belangen entwickeln manche von ihnen eine radikale Kritik von “System und Bildung”, greifen Forderungen wie die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen auf und beginnen ganz allgemein so etwas wie ein Denken in Perspektiven zu entfalten.

Das schützt nicht zuletzt vor naiven Hoffnungen auf raschen Erfolg.

Am Wochenende standen sowohl in Graz als auch in Wien Tage der Reflexion am Programm. Die Stimmung der Debatten war über weite Strecken nüchtern, mitunter etwas pessimistisch. Vereinzelt und im Widerspruch dazu wurde auf die Verbreiterung der Uni-Proteste durch Bewegungen in Deutschland, der Schweiz, den USA etc. verwiesen. In manch einem Moment kam sogar so etwas wie erneute Euphorie darob auf. Im Großen und Ganzen aber scheinen sich die Engagierten keine übertriebenen Erwartungen zu machen. So meinte eine ÖH-Aktivistin in Graz auf die Frage nach der Perspektive sinngemäß: viele Leute haben sich in den Protesten politisiert, es sind interessante Erfahrungen gemacht worden; nun gälte es, die Universität in Kleinarbeit und vielen Schritten in Richtung von mehr Freiraum zu verändern.

Die Einschätzung, dass der Weg auch für kleine Verbesserungen lang sein wird, ist zweifelsohne richtig. Allerdings wird zumeist kurzschlüssig davon ausgegangen, dass damit auch eine Absage an radikale Kritik verbunden sei. Die Frage “Reform oder Revolution” steht schnell im Raum, und die Antwort ist von vorneherein klar: was man hier mache, sei Reformismus – und meint implizit: kein Ansatzpunkt für eine andere Gesellschaft.

Das stimmt jedoch nur mit Vorbehalt. Es ist bezeichnend für die Notwendigkeit, die Reflexion über die eigenen Bewegungen zu vertiefen, dass etwa die erstaunlichen, überwiegend von Respekt und Achtsamkeit geprägten Umgangsweisen der Beteiligten miteinander, die Strukturen der Organisation und Reproduktion (Volxküche etc.) nicht als das bewusst erkannt werden, was sie sind: ein Komplex von Beziehungsweisen, welcher der herrschenden Struktur des Zusammenlebens sichtbar entgegensteht. Die Beteiligten thematisieren die ungewöhnliche (und ungewöhnlich angenehme) Beziehungsweise, die sich über alle – oft bedeutenden inhaltlichen Unterschiede hinweg – etabliert hat, selbst bei vielen Gelegenheiten. Dass sie ihr Potenzial dennoch nicht im selben Maß erkennen wie es ihnen für ihr Engagement charakteristisch erscheint oder dieses Potenzial jedenfals nicht als ein solches auch diskutieren, ist ein Defizit. Die ÖH-Aktivistin in der Grazer Reflexionsdebatte “Wie weiter?” beschrieb es in etwa so: dass man aufeinander aufpasst, zum Beispiel jemandem, der zuviel getrunken hat oder einer, die sich schlecht fühlt, rät, sich auszuruhen, heimzugehen; das könne man schon – sie stockte bei diesem Wort, als führte sie es zum ersten Mal im Mund oder als schiene es ihr in diesem Fall zu pathetisch – “solidarisch” nennen.

In der Tat.

Der Erfolg der Proteste liegt also kaum in “realpolitischen” Optionen. Vielmehr zeigt sich in ihnen eine neue Radikalität, die entwicklungsfähig ist. Sie bieten Ansatzpunkte für eine Reflexion darüber, was menschliche Beziehung im Kapitalismus ist, wie sich die Erfahrungen der Protestierenden davon in einigen Momenten unterscheiden, und wie man diese Momente erweitern und tragfähiger machen kann.

Die Proteste fielen keineswegs vom Himmel. Ihnen voraus ging die weitverzweigte Arbeit kleiner Gruppen und dem öffentlichen Auge verborgener Zusammenhänge. Sie übten Kritik am Bildungssystem und stellten es in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext. Allein dieser Umstand zeigt bereits, dass die Hoffnung, durch Minimalismus und eine Engführung der Inhalte der Proteste größeren Erfolg zu erzielen, nicht nur eitel ist, sondern eine Illusion.

Die Bewegungen in Österreich nahmen bekanntlich von der Akademie der Bildenden Künste ihren Ausgang. Gerade dort aber ist eine radikale Kritik zuhaus, die vielen anderen Zusammenhängen bis dato fehlt. Die Besetzungsaktion der Aktivist_innen der Akademie, welche die Protestlawine lostrat, stand also in einem weiten Kontext. Sie griff auf eine Vielfalt an kritischen Debatten und Erfahrungen zurück, wie es in einem Statement der Aktiven auch explizit benannt worden ist. Sie ist das Ergebnis langfristigen Bemühens. Dass die Aktion der Akademie eine derartige Kettenreaktion auslösen würde, hat wohl kaum jemand der Beteiligten erwartet. Vielleicht war das Milieu dafür durch das stumme gesellschaftliche Krisengefühl bereitet, vielleicht noch verschärft durch spontanen Unmut über schlechte Studienbedingungen. Auf jeden Fall war es hoch entzündlich für den Funken, den die Akademie-Aktivist_innen schlugen.

Die Bewegungen sind also – und darin liegt vielleicht ein weiterer Unterschied zu früheren Protesten – bereits das Ergebnis längerfristiger Politisierung, einer unbeirrten Arbeit im kleinen Rahmen. Nicht zuletzt aus diesem Grund eröffnen sich mit ihnen auch interessantere Perspektiven als üblich.

Mit dem Abflauen der Dynamik stellt sich nun freilich jene Frage, die auch das Thema für die samstägliche Debatte in Graz abgab: “Wie weiter?”

Zwei Aspekte einer möglichen Antwort liegen auf der Hand: Einerseits wird die organisatorische und infrastrukturelle Frage virulent, wie man die Strukturen und Erfahrungen von Basisdemokratie und kollektiver Selbstentfaltung fortführen kann, ist die Besetzung der Hörsäle einmal beendet. Zum Anderen drängt die inhaltliche Radikalisierung der Proteste erneut in den Vordergrund – radikale Kritik stand am Anfang der Bewegungen, und radikale Kritik ist ihre Perspektive. Dort wo sich eine solche Kritik mit dem Bewusstsein organisch verbindet, dass die Aussichten für Studierende und Nicht-Studierende alles andere als rosig sind, solange eine Alternative zum Kapitalismus auf die lange Bank geschoben wird, kann sie die Protestdynamik vielleicht in anderer Form aufrecht erhalten. Als punktuellen Eingriff nämlich in verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Betriebs, der mit jedem Monat mehr in Richtung einer barbarischen Selbstzerstörung driftet. Auf jeden Fall wären die Bewegungen dann nicht umsonst gewesen, keine Eintagsfliege im Lauf des Kapitals, sondern hätten sich als der dringend nötige Aufbruch einer Menge erwiesen, die ein Neuland der Beziehung jenseits von Kapital und Staat aufsucht.

Während der erste, organisatorisch-infrastrukturelle Aspekt in die Frage nach permanenten Räumen mündet, erfordert der zweite, inhaltliche Aspekt zuvorderst einmal Vernetzung emanzipativ orientierter Initiativen, die es in erstaunlicher Anzahl gibt, voneinander aber bis dato noch kaum wussten. Mit dem Workshop “Vom Uniprotest zu einer Solidarischen Ökonomie der Bildung” ist ebenso wie mit anderen, vergleichbaren Treffen der letzten Tage ein erster Schritt dahin getan.

Ein konkretes Ergebnis ist die Plattform “Massenuni” mit dem Untertitel “Von der Kritik der Universität zur Solidarischen Ökonomie der Bildung”, auf der sich eine radikale Kritik des Bildungssystems vernetzt und damit besser sichtbar wird; ein anderes ist die Gruppe “Solidarische Ökonomie der Universität” im Social Network SOLCOM, das sich mit der Debatte um Solidarische Ökonomie und Gemeingüter befasst.

Die Proteste verschwinden vom Medienschirm. Die Hörsaalbesetzungen mögen in zwei Wochen enden oder in zwei Monaten oder dreien. Das Gespräch mit Minister Hahn wird kein Ergebnis bringen. Die Mehrheit der an den Protesten Beteiligten wird ihr Engagement niederlegen. Sie wird weiter dem Weg folgen, der ihr vorgezeichnet ist, konzentriert auf bedruckte Scheine und auf der Suche nach dem kapitalen Glück. Viele andere aber sind da mit neuen Ideen, sind auf den Geschmack gekommen, etwas ganz Anderes zu versuchen und das, was sie bereits dazu entwickelt haben, zu erweitern.

Es gilt die Proteste nach Möglichkeit in neuer Form, als eine Verbindung aus radikaler Kritik und alternativer Praxis gemeinsam zu vertiefen.

Ein Versuch ist gemacht.

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