MTV – Life as a parade (TeleVISION ONE)

Zweifellos ist das Fernsehen das Leitmedium unserer Tage. Seine Trends sind die der Gesellschaft. Televisionen haben Visionen abgelöst.

DATUM 05/09 (Online-Special)

von Franz Schandl

Was einst Utopie gewesen sein mag, findet schon jetzt statt. Zwar nicht reell, aber immerhin virtuell. Das Paralleluniversum hat die andere Welt, die da vielleicht möglich sein könnte, beschlagnahmt. Und wir sind dabei, ob es einem gefällt oder nicht. Hier geht es nun darum, diverse Fernsehsender genauer zu beobachten und ihre Programmatik pointiert zu benennen. Einen Kanal nach dem anderen wollen wir uns vornehmen und zeigen, was sie an sich und an uns demonstrieren.

Beginnen wir mit Music Television. MTV, das als Sender von Musicclips begonnen hat – man denke nur an das grandiose wie paradigmatische „Video killed the Radio Star“ von The Buggles im August 1981 –, ist inzwischen durch seine auf Jugendliche proportionierten TV-Shows Erziehungslager und Lernprogramm geworden. Das Format formatiert Konsumenten im Wachstumsstadium. MTV ist Zuchtanstalt von und Unterhaltungsfabrik für Fans. Das Zielpublikum wird auf das festgenagelt, wohin es sowieso läuft. Es erhält ganz beiläufig seinen formellen Schliff.

Die Illusionsfabrikate sind Serienprodukte der kapitalistischen Kulturindustrie. Deren Zentrum sind die USA. Wer allerdings meint, solche Entwicklungen als Amerikanisierung zu fassen, erfasst nichts, übersetzt Unbehagen mittels eines unbegriffenen Minderwertigkeitskomplexes in nationale Aversion. Der transnationale Erfolg von MTV liegt gerade in der Abrichtung bestimmter Segmente der Youngsters, wo immer sie auch zu Hause sind. So gelingt dem Sender, woran bürgerliche Pädagogik und aufgeklärte Didaktik oft scheitern: scheinbar mühelos übersetzt er Pflicht in Willigkeit und diese in Freiwilligkeit. Für das schlechte Leben ist MTV keine schlechte Schule.

Für den unwilligen und unbedarften Rezensenten hingegen gleichen Genauschau und Vielschau einem Sprung in den Schmutzkübel. Ich gebe zu, ich habe gelitten. Es ist alles so offensichtlich, dass man meint, kein Wort drüber verlieren zu wollen. Sido Rassismus vorzuwerfen oder ihn der Frauenverachtung zu überführen – was beides stimmt –, lässt einen in diesem Zusammenhang lediglich als moralisierende Instanz auftreten. Als Gouvernante eines Anstands, der das Ideelle gegen das Reelle stellt und sich auf der richtigen Seite wieder findet.

Doch was ist damit gewonnen? Mit säuberlicher Distanz kommt man dem Gegenstand kaum bei. Die Betroffenen erreicht man nicht und die anderen braucht man nicht zu überzeugen. Bestenfalls ist es Selbstvergewisserung. Tatsächlich kann es dann schon vorkommen, dass man umso lächerlicher erscheint, je mehr man sich darüber lustig macht. Das Objekt der Kritik existiert in einer anderen Welt. There are no bridges.

It’s trash. Aber auch der Abfall ist ein Fall und nicht der Schwachsinn an sich ist das Problem, sondern die Reduzierung auf diesen und die Identifizierung mit diesem. Das massiv vorgetragene Gut-drauf-sein dechiffriert sich als Variante des positiven Denkens. Es geht um Ergebenheit vor dem Geschehen, Auslieferung an die Anforderung, keineswegs jedoch um Revolte. Das wäre uncool. Auflehnung erscheint als Renitenz. Zickig ist nicht, und Jammern überhaupt das Letzte. Die Formatierung ist rigoros. Mein zwanzigjähriger Sohn meinte, er kenne Leute, die MTV konsumieren, aber die nehmen das nicht so ernst. Das mag sein. Aber MTV muss nicht ernst genommen werden, solange es angenommen wird, der Vollzug automatisiert abläuft. Wichtig ist das Resultat.

Die Sprache selbst wirft sich in Fetzen von User zu User, funktioniert wie ein Striptease, wo nicht mehr als ein String abzulegen ist. Sprache zerfällt in flottierende Sprüche. Diese sind Code der Erkennung und Zugehörigkeit. Aber dieses hörige (also nicht mündige!) Vokabular ist nicht schlampig oder schmutzig, es ist, bemisst man es an seinen Zwecken, absolut zutreffend. Die Terminologie entspricht ihren Inhalten. Diese mögen traurig, dürftig oder irre sein, aber die Worte sind es nicht. So gespenstisch sie erscheinen, so „echt“ sind sie. Sie sind weder verlegen noch verlogen und sie kaschieren nichts.

Die Sprache ist eine große Verräterin, hört man ihr nur aufmerksam zu. Nehmen wir uns etwa des stark frequentierten Worts „cool“ an. Geradezu aufdringlich weist es darauf hin, dass es nicht um Wärme geht. Dass man emotional drüber steht (wohl auch weil man sonst die Sache nicht aushält), nichts so recht rankommen lassen darf. Es gilt sich und andere auf die richtige Betriebstemperatur zu bringen und auf dieser zu halten. Ansonsten läuft man heiß oder wird kalt gemacht. Es herrscht eine spezifische Berührungsangst, da sollten die ritualisierten Umarmungen und Bussis nicht ablenken, die konterkarieren nichts. Irgendwann in der Serie werden wir uns auch das Wort „geil“ vorknüpfen, dessen inflationäre Verwendung Konsequenz mangelnder Lusterfüllung ist.

In den Sendeformaten regiert ein zwanghafter Komparativ. Dieser ist Folge des steten „Ich muss besser sein als du“, ein Prinzip, das aus unserer Leistungsgesellschaft gar nicht wegzudenken ist. So entwickelt sich (und bei MTV wiederum sehr plastisch) ein konkurrenzversessener Jargon der Anpreisung und Abwertung. Gemeinheiten sind obligat, brechen aus einem raus, besonders nach einer misslungenen Anmache.

„Lebt euren Traum“, lautet eine frohe Botschaft der Traumfabrik. Es geht darum, Erwartungen zu erfüllen, nicht welche zu haben. Der objektive Anspruch übersetzt sich in einen subjektiven Drang. Dream and Success sollen eins werden. Der Erfolg, den sie haben sollen und wollen, der lässt die Youngsters zappeln und taumeln. „Ihr arbeitet hart“, sagt die Jurorin anerkennend bei einem der Tanzwettbewerbe. Zweifellos, das wird auch verlangt, in der Show wie im Leben. Traditionelle Werte werden griffig vermittelt: Arbeit. Leistung. Durchsetzung. Pflicht. Sekundäre Tugenden stehen hoch im Kurs. Zucht und Ordnung treten aber nicht primär als exterritoriale Kraft auf, sondern als innerer Impetus. Selbst wenn nachgeholfen, geprüft und vor allem gerankt wird, ist hier die eigene Motivation vorrangig. Das Autoritäre ist verinnerlicht.

Ranking. Immer wieder geht es darum. Von der Parade zur Hitparade, das ist nur ein kleiner Schritt. Was als freie Wahl erscheint, ist das Gebot zum Reihen und Aussortieren. Gefordert ist, dass man sich mit anderen misst, dass bewertet und selektiert wird. Das Leben veranstaltet sich als aktive Ausscheidung. Stets muss jemand gehen oder besser: hinausbefördert werden. Raus mit ihnen. Versager und Verlierer säumen den Weg. Die Leichen müssen weggeräumt werden, weil sie das Bild stören, aber sie sind notwendig, weil es ohne sie keine Sieger geben kann.

Das implizite Bekenntnis zu Sieg und Sieger ist selbstverständlich. Es tritt auf als Natur. Und doch ist es nur die Konkurrenz, die sich da äußerst aggressiv offenbart. Kein Pardon wird gegeben. Ziel der Konkurrenz ist der Erfolg am Markt, es geht um Kommerz und Business. „Eure Gesichter sind euer Kapital“ heißt es in „8th&Ocean“, einer Sendung über die Modellierung von Models. Personen werden nie um ihrer selbst Willen betrachtet, sondern als vergleichende Exponate zu anderen in Stellung gebracht. Die Kandidaten werden auf ihre Vermarktbarkeit hin einer strengen Prüfung unterzogen. Sanktion meint Ausschluss. Aus! Schluss!

In „Room Raiders“ durchsucht ein Mädl die Zimmer der für ein Date in Frage kommenden Jungs. Charakteristisch ist die Aufhebung der Intimität, der Griff ins Nachkästchen wird zur öffentlichen Angelegenheit. Zeig mir deine Sachen, und ich sage dir, was du bist. Nicht wer wohlgemerkt, sondern tatsächlich: was. Die Einschätzung erfolgt über Dinge, die sich in der Habe der Kandidaten befinden. Unterstellt wird, dass der Mensch das ist, wovon er umgeben ist. Indes, kann man sich das alles so aussuchen? Low budget oder crazy parents, das alles und vieles andere ist hier nicht berücksichtigt. Aus der Einrichtung eine Ausrichtung abzuleiten, taugt nur in wenigen Fällen. Es sagt mehr über die Struktur des Kaufens als über die Psychostruktur des Käufers.

Indiskretion fällt gar erst nicht auf. Jede und jeder hat ganz offen zu sein, bis er oder sie wund wird. Geheimnisse, das war gestern, alles gehört aufgedeckt. Schamlosigkeit tritt als kategorischer Imperativ auf, geht allerdings in der Multiplizierung der Beschämung wieder unter. Was freilich zur Konsequenz hat, dass auf dieser Ebene alles erlaubt ist. Findet sich eine Penispumpe, dann ist der Kerl unten durch oder vielleicht auch nicht. Das hängt vom Kurs der Penispumpen ab.

„Ich hab einige Pferdchen“, sagt einer der zurückgewiesenen Typen mehr trotzig als selbstbewusst. Was frech und frivol auftritt, ist nichts anders als präpotentes Getue, das da reflexartig abgespult wird. Er muss es sagen, eine andere Sprache hat er nicht. Anmache ist ein Anspruch, der an einen gestellt wird, und so bemisst sich der Wert eines Guys insbesondere an den Girls, die er hat, haben könnte oder vorgibt zu haben. Das alles ist nicht sexistischer als die Grundmuster dieser Gesellschaft. Wer meint, der Kerl habe keine Manieren, hat wenig kapiert. Obwohl es stimmt, ist es billig, weil es die Konstellation des Youngsters gar nicht berücksichtigt.

Auch Sammie, die immerhin in ihrer High School zur best gekleideten Schülerin gewählt wurde, muss recht viel Fleisch zeigen, um von irgendeinem Schwarzenegger-Verschnitt erhört zu werden. Denn sagt der „Next“, dann wartet bereits die nächste im Bus auf ihr Blind date. „Use somebody“, singt irgendeine Burli-Band. “Use everybody“ ist das Ziel dieses Geschäftstriebs, den die globalisierte „Metaphysik der Sitten“ hier ausdünstet. Immanuel Kant hätte es so formuliert: „Gemeinschaft (commercium) ist der wechselseitige Gebrauch (usus), den ein Mensch von einem anderen macht.“

Der Unerträglichsten Eine ist Paris Hilton. Auf MTV sucht sie nach ihrer neuen best friend forever (BFF). Junge Dinger (welch Unwort, eigentlich wollte ich mir diesen Begriff verbieten, doch er drängt sich auf, lässt sich nicht abweisen!) treten an, lassen sich begaffen, befragen, betatschen. Da wird geweint, geflucht, gelogen. „Ich bin nicht die einzige, die über dich redet“, schnippt eine der anderen zu. Sie verdingen sich, um genommen zu werden. Die Kandidatinnen dürfen schon mal im Privatjet von Vegas nach L.A. düsen, selbstverständlich sind sie „wirklich schon total aufgeregt.“ Eine ihrer Aufgaben besteht darin, ihre Aufrisskapazitäten unter Beweis zu stellen und Männer in die Villa mitzubringen, auf dass Paris via Guy-Beschau Rückschlüsse auf die Möchtegern-BFF ziehen kann.

Paris schaut streng, sie wirkt gelangweilt, aber stets überlegen. Sie ist um einiges intelligenter als ihr Spiel, was sie allerdings nicht sympathischer macht. „Sie muss immer die Fassung bewahren“, sagt Frau Hilton über die von ihr Auszuwählende. So werden die Frauen einer strengen Prozedur unterzogen, muss doch ihre Verfassung festgestellt werden. Verfassungsgebende Instanz, Gericht und Scharfrichterin in einem, das ist nur eine: Paris Hilton. Zum Schluss trifft sie die Entscheidung: „Auf Nimmerwiedersehen“, lautet das Todesurteil. „Ich bin geschockt, dass ich gehen muss“, die entsetzte Antwort. Mit „Paris in paradise“, das muss wohl die Hölle sein. Genau das verheißen aber auch die Einschaltziffern: „That’s hot“ . Diesen ihren Lieblingsspruch hat die Hotelerbin sich markenrechtlich schützen lassen.

„Don’t tell your secret“, titelt sich eine mehrstündige Sendung über eine gewisse Madonna Louise Ciccone. Im Gegensatz zu Paris Hilton hat sie künstlerisch einiges zu bieten. Indes, es ist nicht leicht, permanent öffentlich zu sein und dann noch die Aura des Rätselhaften verbreiten zu wollen. Madonnas PR tut gerade so, als sei ihr Trägerobjekt noch ein Geheimtipp, den es zu entdecken gilt. In Wahrheit ist alles schon entdeckt und es wird von Mal zu mal schwieriger, das zu verbergen.

Trotz Kohle und Quote, irgendetwas stockt. Den heiß ersehnten Oscar will man der Arbeitertochter aus Michigan nicht und nicht gönnen. Warum auch, könnte man fragen. Warum auch nicht, könnte man ebenfalls fragen. Der angepeilte Sprung zur Diva, der will und will nicht so recht gelingen. Was droht, ist ein weiblicher Mick Jagger, also Dino statt Diva. Das choreographische Einerlei wirkt von Mal zum Mal abgestandener, ähnlich abgetragen wie die Dessous, selbst wenn sie den teuersten Kollektionen entstammen. Man hat sich abgesehen am Material girl.

Dem versucht sie nun mit Reife zu begegnen. “I’ve learned my lesson well”, sang Madonna vor langer Zeit in einer ihrer besten Balladen “Live to tell” (True blue, 1986). Zweifellos, sie war immer fleißig und bemühte sich sehr, nun kokettiert sie gar mit Gesellschaftskritik. Sie bedankt sich bei dem im Publikum sitzenden Michael Moore, weil er es „dem Establishment zeigt“. Bush war böse, sagt sie sinngemäß und natürlich sagt ihr Obama zu. „Menschen, die wählen, übernehmen Verantwortung“, sagt Madonna. „Ich will die Menschen wachrütteln“, sagt sie auch. Dann sagt sie noch: „Man muss ihnen Lösungen anbieten, sonst halten sie es nicht aus“. Und zum Schluss sagt sie: „Jede Art von Frieden ist besser als ein gerechter Krieg.“ – Was sagt sie da? Im Prinzip sagt sie, was man sagt, auf dass sie auch etwas sagt. Wo es nicht daneben ist, ist es banal. Like a prayer.

Mehr als vom Sagen versteht sie vom Segen. Das hat sich nicht geändert. Es ist wie vor zwanzig Jahren. Die Angebetete betet selbst, im Kreis ihrer Mitmusiker beschwören sie als Glaubensgemeinschaft andächtig die Performance. Was folgt, ist noch immer Katholizismus vom Abgefeimtesten. Besser als die Kirche präsentiert Madonna Religion auf der Höhe der Zeit. Die esoterisch kanalisierte Lust der Messe wird umgeleitet und exoterisch aufgeladen, Madonna zelebriert ein Hochamt. Pop. Kult. Ornament. Sex. Beichtstuhlgeilheit wird aufgeschnürt wie ein Mieder. Auf dass die Engel singen…

Auch wenn Madonna eine Meisterin des affirmativen Turns ist, übertreibt sie gelegentlich den Fetischismus derart, dass selbst die Dümmsten seiner ansichtig werden können. Mit dieser Offenbarung oder auch dem spielerischen Umgang der Geschlechterrollen hat sie einiges bewerkstelligt. Der einstige Reiz hat zwar nachgelassen, aber seine Kraft ist noch zu spüren. Mehr ist aber nicht. Wenn Madonna „Imagine!“ von John Lennon zum Besten gibt, klingt das wie eine antikommunistische Persiflage eines durch und durch kommunistischen Stücks.

Positiver Schluss gefällig? Mach ich, vor allem auch, um anzudeuten, worin möglicherweise die seltsame Faszination liegt. Dadurch dass MTV Kritik und Reflexion gar nicht erst zulässt, belästigt der Sender uns auch nicht mit diesen seichten Einwänden, die heute zum guten Ton gehören, kommen sie nun von Rettern der medialer Vielfalt, Rittern der politischen Kultur oder gar Reitern des sexuell Korrekten. Da ist kein salbungsvolles Gelabere, das die MTV-Menschen vor sich hertragen. Davor schützt sie ihre Anspruchslosigkeit. Sie reden zur Sache und nicht um den heißen Brei. Verlogenheit ist ihnen fremd, ihr Metier ist die Lüge. Wäre das, was sie verbreiten nicht gefährlicher Unsinn und unerträglicher Mist, könnten wir Freunde werden. Vielleicht.

Der gebürtige Niederösterreicher Franz Schandl arbeitet als Historiker und Publizist in Wien und ist Redakteur beim Magazin Streifzüge. Für DATUM setzt er sich ab jetzt monatlich dem Programm eines in Österreich empfangbaren Fernsehsenders aus und schreibt darüber.

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