Zynismus und Gesellschaft – von den Alten zu den Zeitgenossen

Ein paar Bemerkungen gegen die „Moral“

Streifzüge 44/2008

von Paolo Lago (übersetzt von Lorenz Glatz)

„… wirf Rosen in den Abgrund und sprich:

Hier mein Dank dem Unthiere, dafür daß es mich nicht zu verschlingen wußte! “

(Friedrich Nietzsche, Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885, Band 4)

Von der Verhöhnung der Reichen und Mächtigen…

Vor allem in den „Totengesprächen“ Lukians von Samosata (2. Jh. ) lebt der Geist des antiken Kynismus weiter, Fleisch geworden in der spröden und vorurteilslosen Persönlichkeit des Philosophen Menippos von Gadara. Im Hades, dem Totenreich, setzt Menippos den Klagen derer, die auf Erden reich und mächtig waren, als sie noch lebten, sein zynisches, schneidendes Gelächter entgegen. Im ersten Dialog z. B. , dem zwischen Diogenes und Polydeukes, wendet sich der eine folgendermaßen an den anderen: „O Polydeukes, wenn du jetzt bald wieder in die Oberwelt hinaufsteigst – und morgen, denke ich, trifft dich die Reihe wieder, lebendig zu werden – so hätte ich dir einen Auftrag an Menippos den Hund (= Kyniker) mitzugeben, den du entweder im Kraneion zu Korinth oder zu Athen im Lykeion finden wirst, wo er sich über die Zänkereien der Philosophen lustig macht. Sag ihm: , Diogenes befiehlt dir, o Menippos, wenn du die Torheiten, die auf der Erde vorgehen, genug belacht hast, hierher zu kommen, wo du noch viel mehr zu lachen finden wirst. Denn dort bist du doch öfters unentschlossen, ob du lachen oder weinen sollst, und gar oft kommt dir doch der Gedanke: Wer weiß, wie es nach diesem Leben geht? Hier aber wirst du gar nicht mehr aufhören, ganz unbedenklich zu lachen, so wie ich jetzt, sonderlich wenn du siehst, was für eine armselige Figur die Reichen, die Satrapen und die Tyrannen hier machen, wie man sie nur noch an ihrem Geheul unterscheiden kann, und wie wehmütig und niederträchtig sie sich gebärden, wenn sie sich ihres Zustandes da oben erinnern… ‚“ (Totengespräche I, 1).

Menippos muss dabei als die Verkörperung jenes Kynismus aufgefasst werden, der unter Gelächter und Hohn ein ernstes und trübes Herz verbirgt, das von Fatalismus und Nihilismus beherrscht wird: Im Totenreich gibt es keinen Unterschied zwischen einem Philosophen (bzw. einem angeblichen solchen) und einem Ignoranten, zwischen einem König und einem Bauern, einem Reichen und einem Armen, sondern alle sind unerbittlich gleich. Denken wir auch an das 10. Gespräch, in dem Lukian zusammen mit Menippos eine Reihe von Toten auftreten lässt, die in das Boot Charons steigen müssen. Damit dieses nicht untergeht, muss sich jeder seines überflüssigen Gewichts entledigen: So muss Lampichos, der Tyrann von Gela außer seinem Reichtum auch seine Aufgeblasenheit und seine Hoffart ablegen; der Athlet Damasias muss seine Muskeln ablegen, die er sich mit viel Mühe in der Palästra antrainiert hat, der siegreiche General muss Waffen und Siegestrophäe wegwerfen; der Philosoph neben Mantel und Bart (der damals zur Mode gehörte) auch sein Gold – und die Meinung, besser zu sein als andere, Prahlerei, Gehässigkeit, Eigenliebe und noch einiges mehr. Menippos hingegen hat bloß seine Tasche, den Stock und den schmutzigen Mantel abgeworfen, er kann ins Charonsboot steigen, wo er den Ehrenplatz bekommt. Lukian spart nicht mit Angriffen und Hohn, auch nicht gegen Aristoteles, den großen Philosophen, den er im Gespräch zwischen Diogenes und Alexander als „den raffiniertesten Schmeichler“ und als „Blender“ apostrophiert (XIII, 5).

… zur Ideologiekritik in Anzug und Krawatte

Peter Sloterdijk nimmt in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (Suhrkamp 1983) die Traditionslinie wieder auf und unterscheidet dabei zwischen dem modernen und dem antiken Zynismus, den er, wie im Deutschen weithin üblich, Kynismus nennt. Während Letzterer als eine Praxis der Subversion und Verhöhnung der Mächtigen (so wie wir das eben anhand der Dialoge Lukians gesehen haben) eine grundlegend positive Bedeutung hatte, hat der moderne Zynismus einen negativen Sinn angenommen. Dieser hat sich – schreibt Sloterdijk – „verhängnisvoll losgelöst von den mächtigen Lachtraditionen des satirischen Wissens, die philosophisch im antiken Kynismus wurzeln. Die neuere Ideologiekritik erscheint schon in der seriösen Perücke und hat sogar im Marxismus und erst recht in der Psychoanalyse Anzug und Krawatte angelegt, um es in bürgerlicher Respektabilität an nichts fehlen zu lassen“ (a. a. O, S. 55).

Der neue Zyniker ist nach Sloterdijk derjenige, der eine Machtposition innehat: „Dem diffusen Zynismus gehören längst die Schlüsselstellungen der Gesellschaft in Vorständen, Parlamenten, Aufsichtsräten, Betriebsführungen, Lektoraten, Praxen, Fakultäten, Kanzleien und Redaktionen.“ (S. 37). Er erinnert daran, wie Gottfried Benn, „selber einer der profilierten Sprecher der modernen zynischen Struktur“ in dieser formuliert hat: „Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück.“ Was in der Umkehrung eben heißt: „Intelligent sein und dennoch seine Arbeit verrichten – das ist unglückliches Bewusstsein in der modernen, aufklärungskranken Form“ (S. 40). Dabei steht einem Zynismus der Mittel ein Moralismus der Zwecke gegenüber: Um moralisch hohe Ziele zu erreichen, kann man jedes, auch das tückischste Mittel einsetzen. Und genau so hat ja seit jeher die Macht, um ihre moralisch und demokratisch maskierten Zwecke zu erreichen, nie gezögert, unschuldige Opfer niederzumachen.

Privat und konformistisch

Dieser Neozynismus – zunächst Merkmal derer, die Macht haben – scheint jedoch durch die ganze Gesellschaft zu diffundieren, auch zu denen, die keine Macht haben, aber ständig nach ihr streben. Nehmen wir z. B. die Frage des „Anderen“ und des „Ausländers“. Die jüngsten Pogrome, die in Italien gegen Roma ausgebrochen sind, quollen aus einem neuen zeitgenössischen Zynismus, der im Namen moralischer Ideale (wie der Verteidigung des Privateigentums oder des Schutzes der eigenen Kinder, weil ja die Zigeuner angeblich sowohl materielle Güter als auch Kinder stehlen) vor keiner Art von Gewalt gegen diejenigen zurückschreckt, von denen man meint, dass sie sich nicht an diese Moral halten. Der neue Zynismus ist finster und ernst geworden und stellt, wie Sloterdijk bemerkt, die eigene privacy ganz und gar in den Mittelpunkt. Aus diesem Grund ist ein Fremder wie der Rom, der traditionell ein Leben führt, das sich im „öffentlichen Raum“ (ein wenig wie bei den Kynikern des Altertums) und nicht an festen Wohnsitzen nach dem Muster des westlichen Konformismus abspielt, abzulehnen und als ein unbegreifliches, widerliches Monstrum anzusehen. Heute sind die Sprecher und Lakaien dieses Neozynismus die Massenmedien, die Zeitungen und Fernsehsender: Sie sind es, durch welche die zynischen „Moralisten“ an der Macht ihre verseuchenden Botschaften in allen sozialen Schichten verbreiten. Vor allem bei den Arbeitern scheint diese Botschaft breite Akzeptanz zu finden. Es ist kein Zufall, dass, um in Italien zu bleiben, bei den letzten Wahlen eine außerordentlich große Mehrheit von Arbeitern die Lega Nord gewählt hat, eine neozynische Partei par excellence. Es werden so nicht nur Roma, sondern auch Marokkaner, Albaner, Polen auf dem TV-Schirm und in den Spalten der Zeitungen als neue kriminelle Attentäter auf die Moral dargestellt. Es gibt eine offensichtliche Vorliebe in der zeitgenössischen Presse, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ein Diebstahl, eine Vergewaltigung oder ein Mord von einem „Ausländer“ begangen wurden (vielfach auch unter Angabe seiner Nationalität), während ein betrunkener Italiener, der (als vermutlich zahlungskräftiger Mensch, als einer von diesen finsteren und trübsinnigen Neozynikern) am Steuer eines PS-starken Geländewagens Fußgänger oder Radfahrer niederfährt und tötet, mit Sicherheit keine besonders hervorgehobene Meldung wert ist.

Lebens- und menschheitsfeindlich

Aber der Neozynismus realisiert auch lebens- und, wenn man so sagen kann, menschheitsfeindliche Optionen. Im Namen neuer Arbeitsplätze und im Namen eines blinden Wachstums zögert man nicht wie in Livorno Wiederverdampfungsanlagen für flüssiges Erdgas ins Meer zu bauen, mit Hochgeschwindigkeitsbahnen die Berge auszuweiden und Landschaften zu entstellen, Raffinerien und AKWs zu errichten und surreale Brücken wie die über die Straße von Messina zu planen. Ganz zu schweigen von den endlosen Kriegen, die man führt, einschließlich der mit moralischen Zwecken gerechtfertigten wie des „war on terror“, gegen Terroristen, die natürlich hauptsächlich von Völkern kommen, die sehr „anders“ und von den westlichen Traditionen weit entfernt sind – alles Demonstrationen der Macht und der „heilbringenden“ Demokratie und ihrer Strukturen.

Derartiger Neozynismus der heutigen Epoche ist kulturelle Tatsache geworden, d. h. Teil der Kultur eines Volks, einer Nation, ja man kann ohne Gefahr einer falschen Generalisierung sagen: aller Nationen, die zum entwickelten postneokapitalistischen Westen gehören. Er verbreitet sich unter ihnen wie an einem Sommertag die Musik des aktuellen Hits auf den überfüllten Stränden oder wie der Lärm und Smog der zahllosen vorbeifahrenden Autos und Mopeds in der allgemeinen Gleichgültigkeit und Gewöhnung.

Gegen die Moral und den Moralismus der Zwecke!

Gibt es aber ein Gegenmittel? Eigentlich ja, und Sloterdijk selbst lässt es uns erahnen: „In dem Augenblick, in dem unser Bewusstsein reif wird, die Idee des Guten als eines Zieles fallen zu lassen und sich dem, was schon da ist, hinzugeben, wird eine Entspannung möglich, in der das Auftürmen von Mitteln zugunsten imaginärer, immer ferner Ziele sich von selbst erübrigt. Nur vom Kynismus her lässt sich der Zynismus eindämmen, nicht von der Moral her. Nur ein heiterer Kynismus der Zwecke ist nie in Versuchung zu vergessen, dass das Leben nichts zu verlieren hat außer sich selbst (S. 367).

Die „Heilsbotschaft“ kommt gemäß dem deutschen Philosophen von den Alten, von jenem antiken Kynismus, der die Mächtigen verspottete und die Macht verlachte. Die antiken Kyniker sind gegen die Moral und gegen den Moralismus der Zwecke zu wenden: Diese sollten wir mit jenen verlachen und neue Bedingungen der conviviality zu schaffen – um sich auf das Werk Ivan Illichs, des großen Wissenschaftlers und Kritikers der heutigen Gesellschaft, zu berufen, der sich damit eines Ausdrucks bedient, der ebenfalls an die Antike anknüpft (Tools for Conviviality, Harper & Row 1973; dt. : Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, C. H. Beck 1998). Die heutigen Instrumente der Moral und der Macht sind zu kritisieren und zu überwinden: der industrielle Wildwuchs, ein verheerendes Schul- und Erziehungssystem, ein Wirtschaftswachstum, das eben an seine Grenzen stößt. Frei, autonom und kreativ sein, sagt Illich; ein Netz der Zuneigung, Freundschaft und Schönheit schaffen, könnte man hinzufügen, gegen die Tristesse und Selbstbezogenheit des Neozynismus. Kurzum, es in etwa so zu machen wie Protesilaos, der es im 23. Totengespräch des Lukian schafft, wenn auch nur für einen Tag, der Unterwelt zu entkommen, um zu seiner Laodamia zurückzukehren, die er noch am Hochzeitstag verlassen musste, um in den trojanischen Krieg zu ziehen, wo er dann als erster den Tod finden sollte. Dieser antike Kynismus, vermittelt durch einen großen Schriftsteller wie Lukian, war imstande, diese Liebe aus dem Mythos wieder aufzunehmen, eine Liebe, so stark, dass sie imstande war, die Mauer der Dunkelheit einzureißen und zum geliebten Menschen zurückzukehren, von dem sie für immer durch Krieg und Tod getrennt schien.

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