Vernunft statt Populismus?

von Walther Schütz

Der letzte Wahlkampf hat – wieder einmal – einen tiefen Einblick in unser System und die Geisteswelt seines politischen und ideologischen Personals geliefert. Ich möchte dies am Beispiel der Kleinen Zeitung zeigen, eines im präzisesten Sinne des Begriffes „bürgerlichen“ Mediums, wie aus den folgenden Ausführungen hervorgehen soll. Indirekt vielleicht auch EINE Erklärung für den Rechtsruck in Österreich.

Eine Linie durchzieht die verschiedenen Beiträge der letzten Wochen in der Kleinen Zeitung, am ausgeprägtesten wohl die Leitartikel ihres Chefredakteurs Hubert Patterer: Der Kampf gegen den Populismus, wie er nach Patterer von der Kronenzeitung für die Sozialdemokratie und namentlich deren Parteivorsitzenden Faymann betrieben worden sei.

Vernunft versus Populismus – das Urteil scheint „aufgelegt“: Was wäre gegen Vernunft zu sagen? Was für den Populismus? Angesichts des Themas verlieren die Verantwortlichen für die Blattlinie der Kleinen vollkommen die Contenance und werfen sich für Vernunft und Verantwortung in die Bresche. Doch die Scheidelinie ist nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint.

Böser, böser SOZIAL-Populismus

Zunächst ist auffällig: Nicht jeder Populismus wird in der Kleinen Zeitung so massiv verdammt wie andere Varianten. Während kaum einmal gegen die Ausländerhetze Stellung bezogen wird (eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen ist da Werner Wintersteiner, aber der ist ja auch in der Kleinen nur mit Gastkommentaren vertreten), bringt der sogenannte SOZIAL-Populismus Chefredakteur Patterer vollkommen in Rage. Im Zusammenhang mit der von der SPÖ bereits im letzten Wahlkampf versprochenen Abschaffung der Studiengebühren schreibt Patterer von einer „karitativen Panikattacke„, von „Zügellosigkeit“ und „kopflosem Sozialpopulismus“ (Kleine Zeitung, 26.9.08, S. 10).

Welche „Vernunft“ liegt also dem Eintreten Patterers für die Beibehaltung der Studiengebühren zugrunde? Patterer sieht ein Studium als „Investition“ in die eigene Zukunft, aus dem sich dann später die „Rendite“ eines besseren Einkommens und einer gesellschaftlich höheren Stellung ergebe. So könnte man Patterer mit seinem Plädoyer schon folgen. Nur hat aber Patterer da schon was reingeschummelt: Nämlich ein liberales Bild von Gesellschaft, wie es ja tatsächlich der Mainstream ist. Insofern argumentiert Patterer folgerichtig.

Es gäbe aber auch eine andere Vernunft: Bildung als gesellschaftliche Grundleistung, bei der die Bildung der einzelnen zur Verbesserung der Lage aller beitragen soll, in der es um eine gemeinsame, bessere Zukunft, ein Abwerfen von Fesseln etc. geht und in der Bildung einfach ein Grundrecht ist. Eine solche Vernunft ist nicht Patterers Sache.

Beispiel Pensionen: Nicht ganz zu Unrecht kritisiert Patterer die Verlängerung der Hacklerregelung als Populismus. Aber aus welcher Vernunft heraus, was ist sein Maßstab? Ist es das steigende Produktivitätsniveau der gesellschaftlichen Produktion, das tatsächlich eine Rücknahme der gesamten Pensionsverschlechterungen erlauben würde? Nein, ganz im Gegenteil, er meint in Anlehnung an den sozialliberalen Ex-Finanzminister Androsch: „Der Versorgungsstaat alter Prägung aber habe ausgedient. Vollkasko sei unfinanzierbar und mit den Erfordernissen der Wissensgesellschaft, die auf Individualität und Mobilität setze, unvereinbar. “ (Kleine Zeitung, 28.9.08, S. 12) Der Mensch als des Menschen Wolf, der eine des anderen Feind, das ist das Leitbild, dem auch die entsprechende „Vernunft“ folgt.

Zwischenresümee:

Die Vernunft, die sich da durch Patterer durchsetzt, ist nicht die einer Kritik der Verhältnisse, sondern ganz im Gegenteil: Es ist die Vernunft eines Systems, dessen oberstes Prinzip die Akkumulation von Kapital ist und das mittlerweile weltweit nicht nur an seine äußeren, ökologischen Grenzen stößt, sondern das an seinem eigenen angehäuften Kapital zu ersticken droht: Um die Profitraten für die ungeheuren Kapitalmassen zu gewährleisten, sind Umverteilungsmaßnahmen nicht mehr leistbar (mit dem Nebeneffekt, dass dafür mit dem Hintenbleiben der Masseneinkommen die Konsumnachfrage einbricht. Hinausgezögert wird das offene Ausbrechen dieser systemimmanenten Krise durch immer neue Kredit- und Finanzkonstruktionen, siehe platzende Finanzblase! ). Diese Vernunft (nach der vorletzten Nationalratswahl sprach Patterer von „Einsicht in die Notwendigkeit“ – Okt. 2006) ist eine Vernunft der „Folgerichtigkeit“: Indem sie ihre eigenen Voraussetzungen nicht kritisiert, sondern nur in ihren Bahnen weiter folgert, wird Vernunft zur gefährlichen Drohung!

Das direkte Engagement für die Logik des Systems

Wie sich die Systemzwänge durchsetzen, ist selten ganz einfach nachzuweisen. Und es läuft ja auch meist indirekt: Es ist halt einfach mitten in einem Meer von Geld keines mehr da, die Wettbewerbsfähigkeit müsse in der Konkurrenz der Standorte erhalten bleiben … Wo allerdings gut ausgebaute Bastionen, Rechte, festgeschriebene Ansprüche bestehen, da kann es schon sein, dass aus dem sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzenden Systemerfordernis die soziologisch greifbare Intervention wird. Die Kleine Zeitung selbst hat aus der jüngeren Vergangenheit einen interessanten Fall dokumentiert, bei dem sie die proklamierte Objektivität verlassen hat und in einem vorgezogenen Fall von „embedded journalism“ (der Begriff stammt aus dem 2. Irakkrieg 2003) selbst zum Kombattanten wurde:

Ende 1999 / Anfang 2000 liefen bereits seit Jahren die Anpassungen an die verschärften Konkurrenzverhältnisse, allerdings immer noch in sozialpartnerschaftlicher Manier unter Zustimmung der Gewerkschaften, Kammern etc.. Das ging den Vertreter/innen der Vernunft aber immer noch zu langsam, nach einem jahrelangen journalistischen Trommelfeuer gegen angebliche Blockaden von „Reformen“ (und damit sind immer Verschlechterungen gemeint! ) wurde im Jahr 2000 die ÖVP-FPÖ-Koalition gebildet. Ganz vorne mit dabei der ehemalige Journalist der Kleinen Zeitung, Hans Winkler. Er beschreibt die Situation und seine Rolle ganz offen:

Die Kleine Zeitung hat die Wende des Jahres 2000 unterstützt. Nicht, weil wir große Sympathien für Haider oder die FPÖ gehabt hätten, sondern weil wir überzeugt davon waren und sind, dass es eine Alternative zur Großen Koalition geben müsse. Die Wende des Jahres 2000 brachte dann den überraschenden Beweis, dass in diesem Land noch Politik möglich ist. In einem Parforceritt wurden längst fällige Reformen durchgezogen, zu denen die große Koalition vorher nicht mehr fähig war und die das Land europareif machen und für die Herausforderungen der Globalisierung wappnen sollten: Anpassung des Pensionssystems, Universitätsreform, Privatisierungen und Sanierung der alten ÖIAG, die Schaffung der Abfertigung Neu, um nur einiges zu nennen. Vor allem aber ein Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik.“ (Hans Winkler, Von einer großen Koalition zur nächsten. In: Kleine Zeitung, 2.6.07)

Die so offen eingestandene Intervention für die Logik des Systems (daher auch die Bezeichnung „bürgerliche Medien“) ist die Ausnahme. Festzuhalten aber ist: Eine Gegenüberstellung Populismus versus Vernunft führt nicht weiter. Die Frage ist vielmehr, welche Vernunft wir denken: Die Vernunft der Folgerichtigkeit, der Anpassung, des Sich-Einfügens in die Verhältnisse oder eine Vernunft, die davon ausgeht, welches Potenzial an Wohlstand für alle Menschen prinzipiell da ist und die Verhältnisse, die dieser Realisierung des Wohlstands im Wege stehen, überwindet. Freilich: Wahlkämpfe sind für ein solches Innehalten und Reflektieren denkbar ungeeignet – siehe Wahlergebnis.

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