Umverteiler aller Flügel – Erteilt Euch!

von Andreas Exner

“Ob es uns passt oder nicht- das kapitalistische Wirtschaftssystem muss stabilisiert werden. Ein weitgehender Zusammenbruch würde jetzt zu großem Elend führen, denn eine praktische Alternative gibt es im Moment nicht”, meint die Initiative Umverteilung am 11. November.

Tatsächlich ist diese Position betagt. Die Debatte, worin sie sich verortet, ist sogar noch älter. Schadet die Krise der Revolution oder nützt sie ihr, lautet dabei die klassische Frage. Die übliche Antwort darauf ist, eine Krise schade der revolutionären Umgestaltung. Denn in der Krise werden die Leute rechtsextrem. Und das sei noch übler als der Kapitalismus schon üblicherweise ist. Auch der so genannte radikale Flügel teilt diese Einschätzung zumeist. Wir haben es offenbar mit einem hegemonialen Denkmuster zu tun. Will jemand ernst genommen werden, so hat er sich innerhalb dieses Musters zu bewegen. Was sich abseits davon äußert, wird ausgeblendet, weil es nicht in den Rahmen des Diskurses passt.

Die Meinung, wonach die Krise eigentlich die Möglichkeit der Befreiung vom Kapitalismus bedroht, kontrastiert mit dem, was vor langer Zeit Mainstream in der Arbeiterbewegung war. Damals galt die Krise noch als der Springpunkt der Veränderung. Dem ist heute nicht mehr so. Man habe das aus den fatalen Krisenhoffnungen der Zwischenkriegszeit gelernt. Wer das Üble begrüßt, weil es die Voraussetzung des Guten sei, werde noch Übleres ernten. Also freut Euch über das normale Übel. So ist man es gewohnt zu hören. Nicht zufällig erinnert das an das Credo der eingestandenen Vertreter des Sachzwangs. Ist zum Beispiel die soziale Lage hierzulande zu bemängeln? Nein, woher denn, man blicke nur nach Afrika.

Umverteiler aller Flügel, die eine praktische Alternative zu ihrem Ansatz zurecht vermissen, stimmen in diesen Chor harmonisch ein. Doch die Harmonie ist trügerisch. Das Stück kommt zwar ohne großen Misston aus. Nur, eigentlich liegt ein anderes Blatt vor uns. Das Blatt der Realität hat sich gewendet.

Genau genommen ist es ein Widersinn. Wie soll eine Befreiung vom Kapitalismus ohne Krise möglich sein? Die Antwort ist: Es kann sie ohne Krise gar nicht geben.

Zuerst einmal deshalb: Es ist eines der stärksten Argumente gegen den Kapitalismus, dass er aus sich heraus in Wiederkehr die Krise produziert. Er zerstört damit Leben, Perspektiven, Möglichkeiten. Nicht, weil die Gewerkschaften die Löhne in die Höhe treiben oder der Staat zuviel Geld ausgibt, wie die Neoliberalen behauptet haben; und auch nicht, weil die Neoliberalen die effektive Nachfrage untergraben, indem sie eine Vollbeschäftigung unmöglich machen, die Reallöhne kurz halten, das Wirtschaftswachstum drosseln und Spitzeneinkommen, Kapitalgewinne und Vermögen steuerlich begünstigen, wie die Umverteiler aller Flügel meinen. Sondern weil die Betriebe zwar für einen gesellschaftlichen Bedarf, aber in privater Form produzieren.

Was zusammengehört – Produktion und Konsum – ist im Kapitalismus voneinander getrennt und entwickelt sich immer wieder auseinander. Dieser Widerspruch ist der letzte Grund der Krise.

Produktion ist im Kapitalismus ein Resultat der Gesellschaft. Wir produzieren in Wahrheit füreinander. Dennoch sprechen wir uns nicht bewusst darüber ab. In der kapitalistischen Wirklichkeit produzieren wir gegeneinander. Heute ist, im Unterschied zu Produktionsweisen niedrigeren Vernetzungsgrades, jedes Produkt ein Produkt der Gesellschaft. Doch ist es als ein solches nicht von vornherein auch anerkannt. Es muss seine Anerkennung im Nachhinein suchen, findet sie erst am Markt. Dort hat es sich als gesellschaftliches Produkt indes noch zu bewähren. Es muss gekauft werden und seinem Verkäufer auch Profit einbringen. Dann erst war die Produktion erfolgreich, gilt als von der Gesellschaft anerkannt.

Jeder produziert also drauflos, ohne Rücksicht auf die anderen. Das Ergebnis ist, um eine längere Analyse abzukürzen, immer wieder ein- und dasselbe: die Überproduktion von Kapital. Gelegenheiten, das Kapital im Produktionsprozess zu verwerten werden knapp. Es gibt zuviel Kapital im Vergleich mit den beschränkten Möglichkeiten seiner Verwertung. Zeitweilig bieten die Finanzmärkte eine Ausweichmöglichkeit. Doch folgt früher oder später der Zusammenbruch.

Die Krise ist, so zynisch es klingt, notwendig Teil des Kapitalismus. Sie nämlich bereinigt den Überhang von Kapital. Sie auch resultiert darin, Rohstoffe, Arbeitskräfte und Maschinen zu verbilligen. Die Profitrate steigt dadurch und das kapitalistische Wachstum gerät wieder in Schwung.

Das jedenfalls ist das kapitalistische Krisenmuster idealen Typs. Seit den 1970er Jahren hat dieser Mechanismus indes nach zwei Seiten hin eine Abwandlung erfahren. Zum Einen wurde die tiefreichende Profitkrise, die sich seit dem Ende der 1960er Jahre entwickelte, politisch im Verlauf gestreckt. Das Reinigungsmoment der Krise kam aus Angst vor den Konsequenzen, munitioniert mit den historisch neuen Waffen der Wirtschaftsregulierung nur parziell zur Geltung.

Der Kapitalüberhang wurde zwar in Form regionaler Finanzkrisen in den Schwellenländern immer wieder reduziert. Doch wurde dabei nur das Ergebnis der liberalisierten Finanzmärkte selbst, auf denen der Kapitalüberschuss noch kräftig anwuchs, korrigiert. Und das in geringem Maß.

Wichtiger für eine zeitweilige Erholung der Profite war der Umstand, dass forcierte Privatisierungen seit den 1980er Jahren neue Anlagemöglichkeiten für Kapital aus dem Boden stampften. Zudem verbilligten sich durch die Schuldenkrise der Dritten Welt Rohstoffe und Energie. Im Gleichschritt machten Sozialabbau und eine Niederlage der Gewerkschaften weltweit die Arbeitskraft erneut erschwinglich. Möglicherweise spielten auch Produktivitätsgewinne durch die Mikroelektronik eine Rolle für den relativen Aufschwung des Profits. Die Reduktion von Steuern auf Profite und Vermögen spielten eine solche Rolle sicherlich.

Zum Anderen aber gilt im Zeichen der Ressourcenverknappung die alte Gleichung “Krise = Reinigung” in dieser Schlichtheit nicht mehr. Wie wir in “Die Grenzen des Kapitalismus” zeigen, stößt das kapitalistische Wachstum inzwischen vielmehr an harte Schranken. Das Ende dieses bestimmten Wachstumsmodells ist nicht mehr der Anfang eines neuen, sondern eine Etappe auf einem Weg andauernden Abstiegs. So jedenfalls sieht die kapitalistische Tendenz der Entwicklung bis auf Weiteres wohl aus.

Gäbe es einen krisenfreien Kapitalismus, so wäre das ein Argument weniger, ihn zu überwinden. Doch ist das nur ein Teil der Antwort, warum Befreiung ohne Krise schlicht nicht denkbar ist.

Der andere ist das: Befreiung vom Kapital muss zugleich seine Krise sein. Ja, mehr noch, Befreiung wird überhaupt erst als Möglichkeit reell, wenn eine repressive Lebensweise an objektive Grenzen stößt. Erst wenn die Menge nicht mehr weiter kann, will sie auch nicht mehr weiter. Und das wollen wir schon angesichts des Klimawandels doch begrüßen.

Dass dieser Punkt des Nicht-Mehr-Weiter-Könnens früher oder später erreicht werden musste, tut dabei nichts zur Sache. Man kann dies als eine Gelegenheit zum Wandel begrüßen oder nicht. Jedenfalls scheint es mir zum Grundbestand menschlicher Existenz zu gehören, dass große Veränderungen nicht nur eines guten Willens, sondern auch einer realen Ausweglosigkeit bedürfen. Soviel Anthropologismus, finde ich, darf sein. (Die Weltrevolution hat vielleicht noch eine Chance, mich vom Gegenteil zu überzeugen.)

Es ist richtig, dass aus der großen Krise des Kapitalismus noch lange nicht auch folgt, dass etwas Besseres nachfolgt. Ganz im Gegenteil, die unmittelbare Perspektive sieht so aus: Nehme die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts, addiere Ressourcenverknappungen und zunehmende Verwüstung und substrahiere bürgerliche Freiheit – heraus kommt der natürliche Erbe des Kapitals.

Ebenso richtig ist allerdings, dass niemals die Kraft zustande kommen könnte, den Kapitalismus wirklich zu überwinden, solange diese Produktionsweise und Art zu leben noch Perspektiven bietet oder diese glaubhaft vorspiegeln kann. Warum auch, muss man fragen. Wir kritisieren den Kapitalismus ja nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil er existenzielle Bedürfnisse aus unsinnigen Gründen ignoriert.

Viele Kämpfe sind gegen den Kapitalismus gefochten worden, Alternativen waren grundsätzlich möglich. Durchgesetzt haben sie sich jedoch nicht oder nur in verzerrter, durch Kapital und Staat deformierter Art. Je mehr aber das Fortkommen in den Bahnen des Kapitalismus gesucht und auch erleichtert worden ist, desto mehr haben wir uns auf diese Lebensweise festgelegt. So sehr, dass jeder Bruch mit ihr heute zur psychischen und sozialen Existenzkrise geworden ist. Die Zeiten der massenhaften Militanz waren vorbei, sobald die Arbeiterklasse nicht mehr vorrangig aus Neuzugängen enteigneter Produzenten bestand, sondern sich selbst auf dem Boden des Kapitals zu reproduzieren begann. Wer rebelliert schon gegen seinen Herrn? Doch nur jemand, der keinen Herrn mehr anerkennen und sich auch nicht selbst dazu aufschwingen will. Davon aber war die Arbeiterklasse weit entfernt. Und die Umverteiler folgen ihr darin bis heute.

Ob uns das passt oder nicht – ich darf die Initiative Umverteilung paraphrasieren – so ist das.

Was heißt das aber konkret? Muss man, um die Umverteiler aller Flügel zu zitieren, denn nicht schon eine fertige Lösung in der Tasche haben, wenn man die Überwindung des Kapitalismus in emanzipatorischer Absicht anstrebt? Muss man, um sich auf den Hausverstand zu stützen, nicht wenigstens wissen, wo man anders hin will, wenn man schon den Weg ablehnt, den unsere Gesellschaft gegenwärtig einzuschlagen droht?

Ja, es stimmt. Man kann keinen Masterplan für die befreite Gesellschaft oder besser: dem von der Gesellschaft befreiten Zusammenleben der zusammen belebten und miteinander eingelebten Einzelnen haben. Ihr Kern besteht in der allgemeinen Selbstbestimmung. Und es stimmt zugleich, dass wir die Richtung längst angeben können, in die wir gehen müssten. (“Was tun gegen die Krise” bietet einige Anknüpfungspunkte.)

Und doch. Ich denke, die Fragen, die ich oben nannte, sind falsch gestellt.

In einem interessanten Artikel hat Jens Kastner auf seine Weise diese Fragen diskutiert. Er meint, dass uns immer noch die so genannte Repressionshypothese in die Irre leite. Die besagt, dass uns eine äußerliche Macht, letztlich die physische Gewalt daran hindert, uns von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Dem sei nicht so, meint Jens Kastner. Er erinnert an Michel Foucault, der dazu aufforderte, “die Macht ohne den König zu denken”. Damit ist gemeint, dass Macht nicht nur Repression, offensichtliche Unterdrückung ist. Sie ist zugleich und vielleicht sogar viel mehr noch etwas, das wir selbst produzieren.

Man kann Foucault auch umdrehen. Es kann sein, dass wir nicht nur die Macht ohne den König, sondern die Befreiung ohne die soziale Bewegung denken müssen. Ja, vielleicht müssen wir sie sogar ohne die Alternative denken.

Lorenz Glatz hat im Text “Wir Teilzeitidioten”, der in den kommenden Streifzügen Nr. 44 erscheint, darauf hingewiesen; dass nämlich die soziale Bewegung in der Linken zumeist die Rolle eines Deus ex machina übernimmt. Oder die des Pfingstwunders, wie er an anderer Stelle schreibt. Der Mechanismus sei wie folgt: Man kann die Verhältnisse nicht ändern; die eigene Ohnmacht gebiert schließlich die Idee, dass, wie dereinst die revolutionäre Arbeiterklasse, plötzlich eine soziale Bewegung entstehe. Sie kremple alles um und wende die Geschichte zum Besseren. Die eigene Ohnmächtigmachung hat sich in eine Macht entäußert, die illusorisch bleiben muss.

Dabei macht es letztlich keinen Unterschied, ob man die soziale Bewegung nur als Verlängerung und Additiv der Arbeiterklasse versteht oder aber als eine Vielfalt von Differenzen und disparater Strömungen, wie heute üblich. Die Funktion, die den sozialen Bewegungen zugewiesen wird, bleibt gleich. Man fühlt sich an messianische Hoffnungen erinnert.

Wer fragt, wo denn das Rezept sei, den Kapitalismus zu verändern, verkennt, dass Kapitalismus nicht existiert, weil es keine besseren Rezepte gibt. Der Koch ist das Problem. Und der Koch sind wir. Wir produzieren unsere Unterwerfung selbst. Die Herrschaft sitzt in uns. Die Suppe versalzen wir uns selbst.

Noch einmal anders formuliert. Leute wie in der Initiative Umverteilung sagen nichts anderes als dass sie den Kapitalismus gut finden. Dass sie das nicht so sagen, sondern so, dass man meinen kann, sie sind mit ihm eigentlich gar nicht einverstanden, ändert de facto nichts. Saniert muss werden, stabilisiert soll sein. Also seid zufrieden. Das sagen sie.

Das kann nur jemand sagen, der nicht weiß, wovon er spricht. Oder aber das sagt jemand, der sehr wohl weiß, wovon er spricht. Ich plädiere für Letzteres. Wenn wir die Umverteiler aller Flügel ernst nehmen, so geht es ihnen nicht um eine Überwindung des Kapitalismus, sondern um seinen Erhalt. Der aber kann unsere Sache in der Tat nicht sein.

So erscheint aber auch die Feststellung, eine praktische Alternative gäbe es im Moment nicht, wie die Initiative Umverteilung denken will, in einem neuen Licht. Denn dass es sie nicht gibt, kann, wie ich meine, nicht damit erklärt werden, dass wenige Unterdrücker die zahllosen Aufbegehrenden an ihrer Befreiung hindern, wie viele Umverteiler behaupten. Viel naheliegender ist die Erklärung, dass es die zahllosen Aufbegehrenden nicht gibt.

Jedenfalls noch nicht.

Und noch naheliegender ist die Erkenntnis, dass wir nicht zuletzt, sondern zuerst gegen uns selbst aufbegehren müssten, und gegen den Widersinn, den wir alle, teils mehr, teils weniger mitverursachen. Was für eine Zumutung. Wir sind nämlich nicht einmal voll dafür verantwortlich. (Das teilen die Lohnabhängigen mit den verfemten Spekulanten.) Ein Leben in Rebellion ist im Kapitalismus schlicht nicht möglich. Ein Leben in unbedingter Anpassung freilich auch nicht. So formbar ist der Mensch ganz einfach nicht. Die Frage ist daher die, in welche Richtung wir die Balance verschieben und vor allem, wie das am Besten geht.

Ich würde vorschlagen, dass wir damit beginnen, die scheinbare Vernunft des Kapitalismus zu ignorieren. Wenn der monetäre Sachzwang dazu führt, dass die Lebensperspektiven Schritt für Schritt unter die Räder der Verwertung und ihrer Krise kommen, dann gilt es, diesem Sachzwang die Gefolgschaft zu verweigern.

Das heißt nicht, dass nicht auch Geld zu fordern ist. Im Gegenteil: Wo es noch eines gibt, da soll es her zu uns. Die Umverteiler aller Flügel werfen den Transformatorinnen und Transformatoren unseres Schlages häufig vor, “utopistisch” zu sein und “praktische Kämpfe” zu ignorieren. Dem ist nicht so. Norbert Trenkle bringt die Unterscheidung zwischen Anpassung an die Sachzwanglogik, die Umverteiler aller Flügel teilen und einer echten Opposition zu eben dieser Logik, die Geldforderungen einschließen kann, auf den Punkt: „Es mag paradox klingen, aber gerade wenn man sich nicht der „Realpolitik“ und ihrem Sachzwangcredo ausliefern will, ist es unerlässlich, die Grenzen der Politik in der gegenwärtigen krisenkapitalistischen Periode deutlich zu benennen. Nicht, um sie anzuerkennen, sondern als notwendige Orientierung für soziale Bewegungen und jene Teile der Gewerkschaften, die sich gegen den systematischen sozialen Raubbau, die fortschreitende Inwertsetzung aller Lebensbereiche, die zunehmende Prekarisierung sowie die damit verbundene staatliche Kontrolle und Repression zur Wehr setzen. Lassen sie sich auf illusorische politische Perspektiven festlegen und in die Parteipolitik einspannen, bedeutet das nichts anderes als ihre Neutralisierung.

Den Umverteilern aller Flügel rufe ich also zu: Erteilt euch einfach die Erlaubnis – denkt anders.

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