Schäubles Kleingeld ist nicht genug

für jungle world 3/2008

von Lothar Galow-Bergemann

Was die Lokomotivführer hinter sich haben, könnte den Beschäftigten im öffentlichen Dienst noch bevorstehen: Streik. Ob Verdi eine kämpferische Strategie beibehält und die sozialpartnerschaftlichen Illusionen aufgibt, ist aber offen.
Früher hörte man häufig den Satz: »Man müsste es so machen wie die Franzosen. « In letzter Zeit wird er häufig ergänzt: »Oder wie die Lokführer. « Die Stimmung unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes hat sich geändert. Dazu hat nicht nur ihre schlechte finanzielle Lage beigetragen, sondern auch das Beispiel der Lokomotivführer, die sich nicht mehr an die Spielregeln gehalten und gezeigt haben, dass es tatsächlich anders geht. So hört mancher Gewerkschafter immer häufiger Bemerkungen wie: »Es reicht! « Oder: »Jetzt sind wir auch mal dran! «

Um acht Prozent sollen die Löhne erhöht werden, um monatlich mindestens 200 Euro für jeden Beschäftigten, 120 Euro mehr solle es für die Auszubildenden geben, fordern zur Überraschung vieler Verdi und der Beamtenbund. Insbesondere die Forderung nach einem relativ hohen Festbetrag für die unteren Lohngruppen ist in der jüngeren Gewerkschaftsgeschichte eine Neuheit, denn diejenigen, die am wenigsten verdienen, würden so immerhin 15,5 Prozent mehr erhalten. Die Forderungen, die die Basis gestellt hat, sind teilweise noch höher.

Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bezeichnete sie in der vergangenen Woche denn auch sogleich als »nicht verhandlungsfähig«. Aber auch er weiß, dass es diesmal nicht leicht für ihn wird, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen, Nieder­sachsen und Hamburg. Selbst sein Parteifreund Chris­tian Wulff tritt zurzeit ebenso wie die so­zial­demokra­tische Konkurrenz in Niedersachsen für »kräftige Lohnerhöhungen« ein. Schließlich halten nach Angaben der ARD 55 Prozent der Befragten die Gewerkschaftsforderungen für »angemessen«, vier Prozent gar für »zu niedrig«.

Schäuble hingegen will den Beschäftigten einiges zumuten: Bestenfalls Kleingeld gesteht er ihnen zu, dafür soll die Arbeitszeit auf 40 Stunden verlängert werden. Immer mehr Teile des Lohns sollen »leistungsabhängig« werden. Die Klinikbeschäf­tigten müssten nach Schäubles Vorstellungen Verzicht üben und würden keinen Cent mehr bekommen. Hintergrund ist das derzeitige System der Krankenhausfinanzierung, das die Kliniken in den finanziellen Ruin treibt, sobald ihre Personalkosten steigen. Hier hat die Auseinandersetzung eine unmittelbare politische Dimension, denn es geht darum, ob an Kliniken endgültig nur noch Billiglöhne gezahlt werden – mit entsprechenden Folgen für die Qualität der Gesundheitsversorgung. In der ersten Verhandlungsrunde haben die Arbeitgeber vor allem den Mindestbetrag für die unteren Lohngruppen abgelehnt und mit umfangreichen Privatisierungen und Entlassungen in diesem Bereich gedroht. Eher unbeachtet bleibt in der öffentlichen Bericht­erstat­tung außerdem eine neue Entgeltordnung, die von entscheidender Bedeutung für die künftige Lohnstruktur im öffentlichen Dienst sein könnte. Die Arbeitgeber wollen erhebliche Lohn­senkun­gen für viele Berufsgruppen durchsetzen. So sollen z. B. Krankenschwestern zu Beginn des Arbeitsverhältnisses künftig 200 Euro weniger bekommen, Erzieherinnen gar bis 400 Euro weniger.

Verdi fordert hingegen, dass die alten Regelungen erst einmal weiter gelten. Auch was die Arbeitszeitverlängerung angeht, gibt sich Frank Bsirske, der Vorsitzende von Verdi, bislang unnachgiebig: »Längere Arbeitszeiten sind völlig kontraproduktiv. In einer Situation der Massenarbeitslosigkeit wollen wir dazu beitragen, dass es nicht noch mehr Arbeitslose gibt. « Diese Erkenntnis hätte Verdi allerdings schon früher haben können: Erst kürzlich unterschrieb die Gewerkschaft nach den Verhandlungen mit der Telekom Vereinbarungen über eine vierstündige Arbeitszeitverlängerung. Es wird also, nicht nur in diesem Punkt, darauf ankommen, dass die Mitglieder von Verdi keine faulen Kompromisse zulassen.

Die Gewerkschaft hat in den vergangenen Jahren die Unterstützung bei vielen Beschäftigten verloren. Das hat in erster Linie mit dem Manteltarifvertrag zu tun, den Verdi 2005 unterschrieben hat und der vielen Beschäftigten eher als Vertrag zur Lohnsenkung in Erinnerung geblieben ist. Anders als derzeit versuchte die Leitung der Gewerkschaft damals gar nicht erst, die Mitglieder in den Arbeitskampf zu führen.

Doch der 14 Wochen dauernde Streik gegen die 40-Stunden-Woche im Frühjahr 2006, nach 14 Jahren der erste flächendeckende Streik im öffentlichen Dienst, zeigte schon eine andere Tendenz. Viele streikten zum ersten Mal, ganze Berufsgruppen wie Erzieherinnen und Klinikbeschäftigte, die bisher in dieser Hinsicht wenig aufgefallen waren, beteiligten sich am Arbeitskampf. Auch wenn damals nur zwei Drittel der geplanten Arbeitszeitverlängerung verhindert wurden, war dieser Streik für die Gewerkschaft wichtig. Sie konnte zwar die 38,5-Stundenwoche nicht verteidigen. Aber die Zahl der Mitglieder ist deutlich gestiegen, die Erwartungen vieler Beschäftigter und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung sind gewachsen. Verdi kann die Verhandlungen dieses Mal unter besseren internen Voraussetzungen führen.

Diese können sich allerdings, das zeigt die Erfahrung, auch sehr schnell wieder zum Schlechteren verändern. Es geht nämlich nicht nur darum, ob es den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gelingt, wenigstens einen Teil der Reallohnverluste wieder wettzumachen. Es ist auch offen, ob Verdi die kämpferische Strategie des Jahres 2006 beibehält und sich noch stärker von sozialpartnerschaftlichen Illusionen befreit. Schließlich ist auch ganz anderes denkbar: Unzweifelhaft hat die Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) sehr Gutes geleistet, da sie die Groß­gewerkschaften unter Druck setzte. Ob allerdings deren Niedergang infolge der Abspaltung von immer mehr Klein- und Kleinstgewerkschaften wirklich ein Schritt nach vorne wäre? »Was eine Putzfrau verdient, ist mir scheißegal! « Dieser mit starkem Beifall bedachte Satz eines Mitglieds des Marburger Bunds auf einer Versammlung von Klinikärzten zeigt die negativen Auswirkungen.

Dabei nützt die derzeit noch einigermaßen gute Konjunktur den Gewerkschaften. Die IG Metall fordert ebenfalls acht Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten in der Stahlindustrie. Ein Arbeitskampf ist wahrscheinlich. Die Nachrichten zur Tarifrunde auf der Internetseite von Verdi heißen jedenfalls schon »Streik-TV«.

Die GDL wird hingegen nicht mehr streiken. Sie hat sich am Wochenende mit der Bahn auf einen Tarifvertrag geeinigt, der Ende Januar unterschrieben werden soll. Die Lokführer werden eine Einmalzahlung von 800 Euro erhalten, ab März werden die Löhne um acht Prozent erhöht, ab September um weitere drei Prozent. Zudem soll sich die Arbeitszeit ab Februar 2009 bei gleich bleibendem Lohn um eine Stunde in der Woche verringern. Ob man dieses Ergebnis als Erfolg betrach­ten mag oder nicht: Etwas Neues in der Gewerkschaftsbewegung der BRD war der Streik der Lokomotivführer in jedem Fall.

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