Die Kontraktion kommt (wahrscheinlich) – wir müssen sie nützen (das ist sicher)

Von Andreas Exner

(sinet, 13.10.08)

Dass ein paar Wallstreet-Zündler die Weltwirtschaft in Flammen setzten, ist skurril. Wenigstens in ihrer groben Variante scheint nun die Phantasie vom Tisch, es handele sich um ein Strohfeuer, das rasch verlischt. Trotzdem gilt die Dynamik der Entwertung dem medialen Sprachgebrauch noch immer als eine Krise der Finanz. Bald wird man sie eine Wirtschaftskrise nennen.

Schon hat der Entwertungsschub den Produktionsbereich erfasst. Viele Autokonzerne, darunter Opel, BMW und Daimler, haben ihren Warenausstoß reduziert. Lufthansa, die zweitgrößte Fluglinie Europas, klagt über einen deutlichen Rückgang bei Geschäftsreisen. Auch Software-Anbietern, allen voran SAP, droht der Abschwung. Ob Zeitarbeitsfirmen, Versicherungen oder Schifffahrtsgesellschaften, ob hessische Apfelweinproduzenten oder chinesische Stahlkocher – eine Branche nach der anderen gerät in den Krisensog. Sogar die Luxusgüterindustrie, bis jetzt als sicher eingestuft, vermeldet, dass der Umsatz schrumpft. Mit Island blickt nun auch der erste Staat in den Abgrund des Bankrotts. Osteuropa nähert sich dieser Aussicht.

Offenbar verschonte die Druckwelle des Weltmarktbebens bis jetzt vor allem Unternehmen, die nahe an der Endnachfrage liegen. So kann Baumarktinhaber Albrecht Hornbacher prahlen: „Die Frage ist nicht, welche Bank uns Kredit gibt, sondern welcher Bank wir unser Geld anvertrauen können“ (FAZ, 8.10. , S. 14). Auch der Handelskonzern Metro macht sich angeblich keine Sorgen, ebenso wenig wie der Heizungsbauer Viessmann oder das Familienunternehmen Electronic-Partner, das zu den größten Verbundgruppen für selbständige Elektronikfachhändler in Europa zählt.

Die Entwicklungsrichtung des Flächenbrands ist freilich klar. Legen die ersten Produktionsbetriebe ihre Fertigungen still, sinkt die Investitionsnachfrage radikal. Noch setzt man vor allem Zeitarbeiter auf die Straße, die billige Arbeitskraftreserve, die für rasches Wachstum Habtacht stehen und als erste wieder auf die Arbeitsämter muss, wenn sich die Aussichten verdüstern. Bald wird man von Kurzarbeit zügig zur Entlassung breiter Angestelltenkontingente schreiten. Dann steht der Einbruch der Endnachfrage an, und zwar weltweit.

Das ist nur die Einstiegsphase der Entwertung. Schon jetzt wird deutlich, wie realitätsfern die Rezepte sind, mit denen man Abhilfe schaffen will. So plädiert WIFO-Chef Karl Aiginger dafür, in Österreich durch Steuererleichterungen und Defizitausweitung den Konsum zu stützen. Stephan Schulmeister wiederum empfiehlt, den Derivatehandel zu unterbinden.

Angesichts des kapitalistischen Flächenbrands ringt einem das ein müdes Lächeln ab. Die Binnenmärkte sind viel zu schwach, um der Druckwelle auf eigenen Beinen standzuhalten. Kürzt der Staat seine Einnahmen drastisch – darauf läuft Aigingers Vorschlag hinaus – so unterspült er seine Steuerbasis, die auch ohne solche Maßnahmen deutlich schrumpfen wird. Damit schießt er sich spätestens dann ins Knie, wenn die Arbeitslosigkeit steil ansteigt. Während sich die Staaten der Entwertung überakkumulierten Kapitals entgegenstemmen, indem sie dem Finanzmarkt Sicherheiten bieten, argumentiert Schulmeister gerade entgegengesetzt dafür, die „Wettmärkte“, wie er sagt, „zu schließen“. Warum das weiterhelfen soll, ist schwer zu sehen. Denn die Krise tritt ja bereits in der Produktion zutage und eine Sperre der Aktienmärkte würde den Kollaps des Weltfinanzmarkts eher noch beschleunigen.

Es ist der unzureichenden Krisenanalyse zu verdanken, dass man nicht nur auf derart schiefe Einzelbetrachtungen verfällt, sondern auch den übergreifenden weltwirtschaftlichen Zusammenhang aus dem Blick verliert. Tatsächlich ist diese Krise nicht nur die erste kapitalistische Krise seit dem Beginn der 1970er Jahre, als die Profitraten weltweit deutlich sanken. Sie markiert vielmehr den Zusammenbruch der US-Hegemonie, die noch das goldene Zeitalter des Neoliberalismus in den 1980er und 1990er Jahren überschirmte. Damit muss auch der US-Dollar seine Weltgeldstellung verlieren.

So prognostiziert Elmar Altvater inzwischen, dass die USA den Dollar abwerten werden. Bedenkt man die wahnwitzige Schuldenlast des US-Haushalts, die das 700 Milliarden Dollar-Rettungspaket noch um 10 % auf rund 10 Billionen Dollar vergrößert, so dürfte das der einzig denkbare Ausweg sein. Dollarguthaben in aller Welt würden dadurch entwertet, der Gläubiger China bleibt auf seinen Dollars sitzen. Wenn der Dollar abwertet, verliert er seinen Weltgeldstatus. Dann müssen die USA Erdöl, das sie bis jetzt mit eigener Währung eintauschten, teuer bezahlen, ja, alle Warenimporte werden teurer. Ein Teil der Mittelklasse wird also das Obdachlosenheer vergrößern. Es ist klar, dass so ein Schritt erst nach der Wahl zu erwarten ist.

Die staatlichen Aktionen, durch Sicherheiten, Nationalisierungen und Liquiditätsspritzen das Kreditsystem vor dem Kollaps zu bewahren, sind in jedem Fall äußerst zwiespältig. Zwar besteht, kapitalistisch gedacht, darin der einzige Weg, der Entwertungsdynamik zu kontern. Allerdings belastet sich der Staat damit nicht nur mit höllenschweren Verpflichtungen für die Zukunft, sondern verlängert unweigerlich das Leben des überakkumulierten Kapitals – und damit der eigentlichen Krisenursache. Diesem Dilemma entgeht auch nicht der IWF, der gerade beginnt, sich für einen derartigen Einsatz anzubiedern. Denn auch der IWF kann seine finanziellen Mittel nicht aus anderen Quellen als die Staaten selbst beziehen.

Die Folgen sind demnach klar: Gelingen die Rettungsaktionen der Staatenwelt, was nicht wahrscheinlich ist, so wird sie sich ungeheuren Schuldenbergen gegenübersehen, die mit Zinsen weiterwachsen. Die notwendigen Einnahmen können, bei einer dann im besten Fall stagnierenden Weltwirtschaft, nicht mehr auf normalen Wege eingetrieben werden. Der Staat hat in einem solchen Fall zwei Optionen. Erstens kann er die Schulden durch Bankrott annullieren, was die akute Krisengefahr erneut auf die Tagesordnung setzt. Zweitens hat er die prinzipielle Möglichkeit, sein Sozialetat über alle aus der goldenen Zeit des Neoliberalismus bekannten Maße hinaus abzutöten und sich Ressourcen aus dem globalen Süden ohne Gegenleistung anzueignen. Dass diese Varianten theoretisch bleiben, dürfte sich freilich an sozialen Unruhen, die er damit auf den Plan ruft, recht rasch zeigen.

Wenn der Rettungsversuch versagt, dann steht der Kollaps des Weltfinanzsystems auf dem Plan, mit einer scharfen Kontraktion des Welthandels im Gefolge. Das ist aber nicht mit der Großen Depression der Zwischenkriegszeit zu vergleichen. Denn erstens ist die Gesellschaft heute viel mehr Teil des Kapitalverhältnisses als damals und selbst die Landwirtschaft – auch die biologische – hängt ab von Ressourcenflüssen aus aller Welt und in alle Welt. Zweitens aber reichen die natürlichen Ressourcen des globalen Nordens schon lange nicht mehr aus, um sein gegenwärtiges Konsum- und Investitionsniveau aufrechtzuerhalten. Eine Kontraktion des Weltmarkts kann also nicht mehr in einer regionalisierten Autarkie alten Stils enden. Dazu müssten die globalen Ressourcenzuflüsse aufrecht erhalten werden, und das ist ohne das „automatische Kommando“ des verselbständigten Weltmarkts praktisch kaum denkbar.

Was dieser Tage am empfindlichsten berührt, ist allerdings nicht der Teufelskreis von Krise und Krisenreaktion, sondern die völlige Paralyse der sozialen Bewegungen. Man scheint auf eine kurze Dauer der Malaise zu setzen, halluziniert sich ein „Zeitfenster“ zurecht, das akkurat auf die eigene Ideologie der „Regulierung“ zugeschnitten sei. Das Spektrum der Vorschläge ist dabei eng. Während manche eine internationale Währungskonferenz erwarten, bei der man die eigenen Weltverbesserungsideen deponieren will, gehen anderen davon aus, dass man dem Staat Vorschriften machen kann, unter welchen Bedingungen er Banken nationalisiert. Allgemein wird das Ende des Neoliberalismus begrüßt und die Hoffnung ventiliert, dass nun endlich die Idee eines „gezähmten Kapitalismus“ die Runde macht, nachdem doch alle sehen, dass der Laden so nicht läuft. Als hätte die Welt dafür Attac gebraucht.

Falscher könnte diese Perspektive kaum noch sein. Zuerst einmal geht die Annahme, die Krise sei von kurzer Dauer, mit Sicherheit an der Realität vorbei. Vielmehr ist im besten Fall eine lange Stagnation nach japanischem Vorbild zu erwarten. Allerdings muss man dabei die Ressourcenverknappung im Blick behalten. Sie verschwindet ja nicht aus der Welt, solange der Verbrauch nicht völlig eingeht. Nur sind bei einer Stagnation kapitalistisch kaum Reaktionsmöglichkeiten gegeben. Und steigende Rohstoffpreise werden die Profitraten, sollten sie sich durch eine massive Kapitalentwertung verbessern, wieder in den Keller treiben. Peak Oil ist in jedem Fall ein „holpriges Plateau“, mit hoher Volatitilität der Preise und äußerst begrenzten, von Krisen unterbrochenen Wachstumsoptionen; wenn man den Abfall des Peak-Plateaus erreicht, tritt die Geldwirtschaft schließlich in eine Schrumpfungsphase ein.

Zudem wird nicht in Rechnung gestellt, was es bedeutet, dass das kapitalistische Weltsystem seinen Hegemon, die USA, verliert. Wenn der US-Konsum das Zeitliche segnet, was spätestens bei einer Dollarabwertung der Fall sein wird, so geht die Produktion in der EU und in China, die zu großen Teilen auf den Binnenmarkt der USA angewiesen ist, erst recht in die Knie. Zwar scheint grundsätzlich denkbar, dass sich das hegemoniale Zentrum nach China oder allgemein in den südostasiatischen Raum verschiebt. Doch ist sehr zu hinterfragen, ob in China genügend Binnenkaufkraft vorhanden ist, um sich als „Werkbank der Welt“ auf solcherart reduzierter Basis in Betrieb zu halten. Noch schwerer wiegt, dass China aus Ressourcengründen nicht mehr den Weltmachtkonsum der USA imitieren und schließlich übergipfeln kann. Wie dann aber ein neuer Akkumulationsschub an Fahrt gewinnen soll, ist unklar.

Alle Vorstellungen, die sich, wie verkappt auch immer, an die Fata Morgana eines „Wohlstandskapitalismus“ klammern, den Ideologen der 1960er Jahre diagnostizieren wollten, werden fortschreitend irreal. Das hindert eine Ideologie aber leider nicht auch daran, wirksam zu werden. Im Fall der Wohlstandsregulierer bremst sie notwendige Neuorientierungen ab und diskreditiert letztlich soziale Bewegung überhaupt. Falsche Hoffnungen sind der beste Garant der Resignation.

Realistisch dagegen ist, die Krise in ihrer vollen Dimension zu erkennen. Man muss nun Farbe zeigen. Es war schon vor der Krise falsch, auf ein Wachstum zu setzen, das ökologisch längst katastrophal und sozial sinnlos geworden ist. Nun aber wird essenziell, den wirtschaftlichen Schrumpfungsprozess offensiv zu wenden. Wenn heute Autobauer ihre Linien aus der Produktion nehmen, so müssen wir das als einen Erfolg im Kampf gegen den Klimawandel feiern. Viele Ziele des Klimaschutzes, die Makulatur bleiben müssen, solange die Wirtschaft weiter wächst, werden nun ganz von selbst erreicht. Dass dieser Prozess äußerst schmerzhaft ist, solange kapitalistische Produktionsweise besteht, bleibt jetzt auch den euphorischsten Ökoträumern nicht mehr verborgen – und so ist zugleich erklärt, warum für eine effektive Klimapolitik bis dato niemand ernsthaft eintrat. Nun aber nimmt uns der Realprozess der Entwertung diese Aufgabe ab. Wir müssen „nur“ noch verhindern, dass der kapitalistische Koloss versucht, seinen Betrieb in den stillgelegten Sparten wieder aufzunehmen – ein Problem freilich, das sich so schnell wahrscheinlich gar nicht stellen wird.

Damit ist auch schon klar, was unmittelbar erfordert ist:

Erstens muss man damit beginnen, eine Organisierung vorzubereiten, die lebenswichtige Betriebe, die aufgrund der Profitkrise schließen werden, übernimmt. Die gesellschaftliche Kontrolle der Produktion durch die Arbeiterinnen und Angestellten, nicht aber durch den Staat, muss als Forderung im Diskurs verankert und im Ernstfall Praxis werden. Dafür sind die Gewerkschaften ein Ansprechpartner und die Solidarökonomie ein Ausgangspunkt. Eine möglichst autonome Organisierung, wie etwa das Hans-Jürgen-Krahl-Institut sie in einer jüngst publizierten Broschüre entworfen hat, ist wichtig.

Zweitens ist nun die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ohne Zaudern zur Forderung nach einem unbedingten Grundauskommen zu radikalisieren. In der Krise ist ja nichts weniger als die unmittelbare Versorgung mit dem Lebensnotwendigen bedroht. Einem Verarmungsschub ist mit unbedingter Solidarität zu kontern. Und die kann gar nicht anders, als sich vom Geldmedium, das von einer gelingenden Verwertung abhängt, die auf absehbare Zeit zum Nischenphänomen verkommen dürfte, kompromisslos abzukoppeln.

Diese Krise ist eine historische Chance der Emanzipation nicht deshalb, weil man nun eine Spielwiese für jeden Unsinn bekommt, der in den letzten zwanzig Jahren in den sozialen Bewegungen gedacht worden ist. Der Angelpunkt der Chance liegt vielmehr in einem präzisen Punkt, nämlich der Schwäche des Kapitals, die sich zweifach äußert: in rückläufigen Profiten und in steigender Arbeitslosigkeit – und einer Schwäche des Staates, der seine Geld- und Legimitiäts-Ressourcen letztlich aus der Verwertung zieht.

Beide Momente ergeben nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit der grundlegenden Alternative. Diese Chance müssen wir nutzen, bevor sich die Herrschaftsstrukturen neu organisiert haben.

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