Leserbrief zu Harry Potter

Peter Klein

„Was ist aus dem Aufbruch geworden, aus der Neugier – und aus dem Verlangen nach Freiheit? “ Diese offenbar kritisch gemeinte Frage fällt Herrn Steinfeld ein angesichts des dem Genre des Märchens angemessenen Bildes von der „ewig heilen Familie“, mit dem Frau Rowling die Potter-Serie ausklingen lässt.

Herr Steinfeld provoziert mich zu der Gegenfrage: Ob er sich mit diesen Schlagworten aus dem Arsenal des (Neo-) Liberalismus nicht selbst als Märchenonkel betätigt? Das liberale Fortschritts- und new frontier-Paradigma, das hier wie das Fähnlein der letzten Aufrechten hochgehalten wird, hat seinen unwiderruflichen Knacks doch eigentlich schon durch Auschwitz und die Atombombe erhalten. Ernsthaft daran glauben konnte das Bürgertum vielleicht noch bis zum Ersten Weltkrieg. Aber schon lange vorher hatte Marx im Kommunistischen Manifest geschrieben, dass die „Bourgoisie … dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen (hat).“ „Kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch“ sei übrig geblieben „als das nackte Interesse, als die gefühllose `bare Zahlung´. “

Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist im Jahre 1848 bekanntlich nicht stehen geblieben. Meine Frau arbeitet in einem Kinderhort. Über fünfzig Prozent der dort untergebrachten Kinder sind Einzelkinder, nahezu alle kommen aus Teilfamilien (meist allein erziehende Mütter) oder sogenannten Patchwork-Familien, der Anteil der Kinder mit „Migrations-Hintergrund“ liegt bei (mindestens) siebzig Prozent. Was diesen mit persönlicher Zuwendung oft spärlich, mit Computer-Spielsachen dagegen reichlich versorgten Kindern fehlt, sind stabile und verlässliche Beziehungen, Ruhe, Geborgenheit, Kontinuität und Kohärenz der Erfahrung – lauter Dinge, die so etwas wie Entwicklung und charakterliche Reifung möglich machen würden. All dies liefert Frau Rowling mit den Charakteren von Harry, Ron und Hermine, die von Band zu Band mehr über ihre Umwelt und über die „politische Konstellation“, in der sie leben, erfahren. Auch die Zweifel an Snapes Charakter, die sich durch alle Bände ziehen, die mehr oder weniger liebenswerten Macken des Lehrkörpers sowie die verlässliche Widerlichkeit ihrer Feinde (Malfoy) tragen dazu bei, dass hier – wie sonst fast nirgends in der „globalisierten Welt“ – ein Ort mit hohem Wiedererkennungswert entstanden ist, an dem sich der Leser, trotz aller Voldemort-Schrecken, vertraut und heimisch fühlen kann.

Und darum geht es doch: Um ein Gegenbild gegen die in allen Lebensbereichen herrschende Kontingenz. Die „Familie“ ist dafür bloß eine Metapher. Wer alle zwei Jahre von einer neuen „Restrukturierungs“-Welle erfasst wird, wer sich nach dem Wegfall oder der Verlagerung seines Arbeitsplatzes alle paar Jahre eine „neue Wirkungsstätte“ und eine „neue Herausforderung“ suchen darf, die ihm – endlich mal wieder – Gelegenheit gibt, sich in Sachen „Kreativität“ und „Flexibilität“ zwecks Steigerung der „Effektivität“ zu bewähren, dem dürfte, mit Verlaub, das Gequatsche vom „Aufbruch“, von der „Neugier“ und vom „Abenteuer der Freiheit“ zum Hals heraus hängen. Das sind doch Vokabeln, die in tausend Motivations- und Management-Kursen längst totgetrampelt worden sind. Die Pottermania ist in meinen Augen eine Reaktion auf genau diese Entwicklung. Und ich wage es zu bezweifeln, dass diese Reaktion mit dem gleichen Recht und der gleichen Sicherheit als reaktionär abgestempelt werden kann wie diejenige des 19. Jahrhunderts, die zunächst im Adel und in der Kirche ihren Rückhalt hatte.

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