Alles außer Krieg ist schwer zu machen

Nicht nur im Nahen Osten, aber vor allem dort. Einige Behauptungen zum Streiten

Streifzüge 39/2007

von Lorenz Glatz

Misere der Wert-Ordnung

Krieg ist der Vater aller Dinge. Staat muss sein. Ohne ihn herrscht blanke Gewalt. Mit ihm auch. Aber ordentlich. Seit Thomas Hobbes ist das der Weisheit letzter Schluss, wenn eins über das Leben räsoniert. Und für die moderne Gesellschaft, zu deren Propheten Hobbes zählt, macht das durchaus Sinn. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, und gerade das Wort für die wohl grundlegendste Tätigkeit der Warengesellschaft – „kaufen“ – ist eng mit dem Verb „kapern“ verwandt. Mehr, als dass der Kampf im Normalfall nach Regeln geht und nicht gleich mit Brachialgewalt beginnt, ist da nicht drin. Selbst das zu erreichen ist schwer genug geworden. An den Peripherien – jenen des Weltsystems, aber auch an den breit gewordenen gesellschaftlichen Rändern vieler Staaten des Zentrums – braucht es dazu mehr Polizei und Justizpersonal, mehr Peacekeeper und Friedenspanzer, als man finanzieren kann. Staatsgewalt in Recht und Ordnung ist oft vom Ausnahmezustand nicht mehr recht zu unterscheiden, die Gewalt tritt aus ihren Schranken, Ordnungskräfte und Todesschwadronen gehen in einander über. Ja, die Staaten scheinen Chaos und Misere, die sie auf ihrem Gebiet und international bekämpfen, just dadurch noch auszuweiten.

Und doch hat das Ziel einer Gesellschaft jenseits dieser sozialen Zwangsform bei den meisten Gesellschaftskritikern keine Priorität. Traditionsmarxisten und Antiimperialisten auf der einen und Antideutsche auf der anderen Seite sind einander spinnefeind, was allerdings wie meist in solchen Fällen daher kommt, dass sie um denselben schwankenden Boden kämpfen: Die Letzteren erklären die Überwindung des Kapitalismus für aktuell unmöglich und die westliche Weltgendarmerie für das Bollwerk der Zivilisation gegen die anbrandende antisemitische Barbarei des Islams. Die Ersteren aber reden, unbeeindruckt von der Geschichte der letzten hundert Jahre, von der „nationalen Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus“. Beide klammern sich also an die Wert-Ordnung von Arbeit, Markt, Geld und Staat und wollen so die Misere ausgerechnet mit den Mitteln bekämpfen, die jene verursachen.

Format der Nation

Die modernen Nationalstaaten sind das Ergebnis von wirtschaftlicher, politischer, sprachlicher, kultureller, religiöser Gleichschaltung, von Expansion und Vertreibung, von Rassismus und Massenmord, kurz, von unterschiedlichsten Formen von Gewalt. Begleitet und stabilisiert wird ihre Durchsetzung von Mythen und Geschichtsklitterung, mit denen territoriale Ansprüche und kulturelle, soziale, oft auch biologische Identitäten konstruiert und begründet werden. Massenpsychologisch gehört Nationalbewusstsein zur Ausstattung des Waren- und Konkurrenzsubjekts, zugleich gehört es zu den Drogen, die die Entbehrungen und die Kälte des bürgerlichen (Kampf-)Hundedaseins aushalten lassen. Im zunehmend normalen Extremfall wird nationale Zugehörigkeit nicht bloß zu einem Kriterium dafür, ob eins zu den Gewinnern oder Verlierern gehört, diskriminiert oder gefördert wird, sondern auch ob eins schießen muss oder zu erschießen ist.

Nation ist eine Formatierung von Menschen, die zum Leben Geld brauchen und über Geld miteinander verkehren, sie ist eine Rüstung, um ein Leben in der Warenform herzustellen und die nationalen Rechte und Ansprüche mit Staatsgewalt, notfalls mit Mord und Totschlag, zu verteidigen oder durchzusetzen. Was immer sonst wer in der Nation sehen, in sie hineinlegen und mit ihr verbinden will – wenn’s drauf ankommt, gilt das alles nur, soweit es das gültige Format hat von Geld, Leistung, Konkurrenz und Kampfmoral.

Die Entwicklung seit dem Ende des Nach-Weltkriegsbooms hat dieses Grundformat auch in den längst konstituierten Nationalstaaten des Westens wieder bloßgelegt. Der Nationalstaat mit seinen Hymnen, Märschen, Märchen und Schwülstigkeiten, mit seiner Strenge und Fürsorge und aller Hoffnung auf Befreiung, die in der Geschichte auf ihn gesetzt wurde, mutiert zum kalten, ausgesetzten Standort von Schuldendienst und Kapitalverwertung. Die Nischen des Menschlichen werden rar und flach. Was unlängst noch der Logik von Markt und Staatsräson entzogen schien, wird schneller, als eins nachkommt, nach Verwertbarkeit, Markttauglichkeit, Durchsetzungsfähigkeit bemessen, sortiert, verwurstet oder als unbrauchbar und nicht zu finanzieren ausgeschieden. Sinnleere, Stress, Fadesse, Aggressivität und Depression grassieren in Luxusgettos, Family-Homes, Banlieus und Slums, bei den Gewinnern kaum weniger als bei denen, die deren Glück nur aus der Werbung kennen.

Die Blütenträume von „Entwicklung“, „Gerechtigkeit“ und allgemeinem Wohlstand verblassen, die Hoffnungen der „Dritten Welt“ und des „Realsozialismus“ sind zuschanden geworden und auch in den Festungen der Metropolen – immer noch das Traumziel z. B. von der Hälfte der arabischen Jugend – dehnen sich die sozialen Klüfte, wächst die Zahl der selbst von der Statistik Ignorierten. Viele Menschen weltweit sind ernüchtert, und doch sind die meisten gleich wieder auf der Suche nach neuen Sedativa und Halluzinogenen. Solange sich die Lebensweise nicht ändert, werden fadenscheinig gewordene Aussichten und Sinngebungen recht schnell durch andere, genauso brüchige und zunehmend destruktive und gewalttätige ergänzt oder ersetzt.

Trübe Perspektiven

So verschieden diese Hoffnungen von außen auch aussehen, worauf sie im Kern setzen, ist stets dasselbe: Gewalt, Menschen verachtende, andere und auch sich selbst. Die rationalen Checker versuchen es mit der Steigerung der „alten Werte“ – mit noch mehr vom Selben. Privat mit mehr Leistung, mehr Hingabe, mehr Schläue, mehr Biss und Brutalität. Auf der Ebene der Staaten mit verschärftem Ein- und Ausschluss der verschiedenen Menschensorten auf ihrem Territorium und nach außen mit gesteigertem, schon inflationiertem politischen Druck, mit Drohung und Erpressung, Aufrüstung und militärischen Repressalien, Einmarsch und Besetzung, und alles mit der jeweils zugehörigen Propaganda und Hetze.

Soweit solche diesseitigen Methoden jedoch versagen oder schlicht nicht mehr leist- und darstellbar sind, findet sich als Ergänzung und Ersatz eine Fülle von jenseitigen aus Religion, Esoterik, Aberglauben. Damit kann eins durchhalten und weitermachen, ob mit Klostersuppe oder Kaviar, jedenfalls aber mit Selbstverleugnung, Selbsthingabe an die Sachzwänge und mit viel Moral. Weltweit wuchern solche Früchte der Desillusionierung, und ein ob seiner Sinnleere schwer erträgliches Leben treibt die Suche nach Besserung weiter in die Richtung, in die man schließlich Amok läuft. Heilige Bücher boomen, Gurus werden reich, Prediger finden ein Millionenpublikum, heimelige Rituale und rassistische und antisemitische Verschwörungstheorien breiten sich aus, und wenn es um Weltverbesserung geht, werden Überfall und Zerstörung, Terror und Vertreibung mit Weissagungen, mit Bibel und Koran begründet.

Wo die Enttäuschung am schlimmsten ist, also nicht zuletzt im islamischen Raum und unter den jungen Moslems in den westlichen Metropolen, hat ein Gebräu aus nationaler bzw. religiöser Solidarität und antisemitischer Welterklärung, religiöser Moral und moralischer Wut politische Gestalt angenommen, und neue Führer gerieren sich als Leuchtturm in der Finsternis der Depravierung und Demütigung. Mit der Hamas hat eine solche Kraft unter den Palästinensern die Wahlen gewonnen, im Iran sitzt diese Art gottgläubiger Sittenwächter im göttlichen Auftrag an den Hebeln der Staatsmacht. Die reinsten, poststaatlichen Formen, die keine irdische Perspektive mehr kennen, hat diese Strömung in Anschlägen wie denen der Aiun-Sekte in Japan, der Oklahoma-Bomber in den USA und in vom Islamismus inspirierten (Selbst-)Mördern angenommen, die ohne irdisch-politische Zielsetzung für „islamischen Zorn“ und Rache sich selbst zum Sprengkörper machen.

Fiasko der „arabischen Nation“

Die besondere Brisanz all dieser Erscheinungen in der Nahostregion hängt stark mit zwei Dingen zusammen. Einerseits liegen in diesem Gebiet die wichtigsten und reichsten Erdölreserven und damit ein Brennpunkt weltwirtschaftlicher und weltpolitischer Interessen und Interventionen. Mit allen Mitteln soll die Entwicklung in den vorgesehenen Bahnen von Kapital und Staat gehalten werden, weil jeder lokale Konflikt sich zu einer Bedrohung des Weltsystems auswachsen kann und globale finanzielle Auswirkungen hat, die in der herrschenden Ordnung nun einmal absolute Priorität haben.

Andererseits wird diese Konstellation durch eine historische Besonderheit verschärft, mit welcher in dieser Region der Anlauf zu einer Modernisierung à la Européenne verlief. Die Versuche der Formierung des arabischsprachigen Teils der Menschheit zur Nation kamen über die Zersplitterung in zuletzt fast zwei Dutzend, zum Teil heftig rivalisierender Staaten nicht hinaus. Zugleich hatte im levantinischen Zentrum der arabischen Welt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch ein anderer, ein atypischer, den arabischen konterkarierender Nationalismus Fuß gefasst – das zionistische Projekt einer jüdischen „nationalen Heimstätte in Palästina“, ein kolonialistischer Nationalismus, der durch den großdeutschen, industriellen Massenmord an den europäischen Juden Züge eines verzweifelt entschlossenen Selbstschutzprogramms bekam.

Die nationalistischen arabischen Eliten des Nahen Ostens verbanden von Anfang an ihren säkular-panarabischen bzw. religiös-islamischen Führungsanspruch mit dem Eifer für das Ziel der „Befreiung Palästinas“. Das Scheitern der arabischen Einigung und der „nachholenden Modernisierung“ der arabischen Länder, selbst der großen Ölstaaten, auf dem Weltmarkt wurde durch die militärischen und politischen Niederlagen gegen Israel empfindlich verschärft. Es hat die Eliten tiefer als anderswo in Unglaubwürdigkeit und Krise gestürzt und für die apokalyptischen, schon nicht mehr staatlich organisierbaren und auch nicht mehr arabisch-nationalen, sondern panislamistischen Zorn- und Rachebewegungen Platz geschaffen.

Diese sind ein Ausdruck einer äußerst gefährlichen Situation: Einerseits gelingt es nicht, die Grundlage nationaler Entwicklung herzustellen, nämlich den Einschluss wesentlicher Teile der Bevölkerung in einen kapitalistischen Verwertungskreislauf und deren Selbstidentifikation damit – das imperiale Versprechen der USA, dieses Kunststück in einem „befreiten“ Nationalstaat Irak mittels „Freedom and Democrazy“ zu vollbringen, löst sich eben in Rauch und Blut auf. Weil aber andererseits eine konstruktive Alternative jenseits von Markt und Staat nicht am Werk ist, mausern sich die Konkurrenz- und Gewaltpotentiale, die der Vergesellschaftung über den Wert weltweit zugrunde liegen, weitgehend ungehindert zum destruktiven Selbstzweck.

Scheitern des Zionismus

Der Zionismus entstand als Projekt, die europäischen Juden vor antisemitischer Verfolgung zu schützen und durch die Gründung eines modernen, europäischen Nationalstaats „im Zeichen der Arbeit“ zu einem „normalen Volk“ zu machen. Das sollte in der Form einer „Heimkehr“ in das aus europäisch-zionistischer Sicht rückständige und gerade deshalb zur Kolonisierung geeignete, osmanische Palästina geschehen.

Dieses Vorhaben geriet im Lauf des letzten Jahrhunderts zweifach in eine Sackgasse. Einerseits war das Projekt ohne Krieg und Vertreibung bzw. dauerhafte Diskriminierung der verbliebenen Palästinenser nicht umsetzbar und ist der Konflikt mit dem arabischen Nationalismus und den Hegemonieansprüchen des Islamismus seit Jahrzehnten permanent und unentschieden virulent. Hier ergeht es dem Zionismus ähnlich wie dem Kolonialismus der europäischen Großmächte, ohne dass jenem aber – als einer Bewegung von Siedlern ohne Heimatnation, die sich als Kolonisten erst als Staatsnation konstituieren wollen – die Lösung Entkolonisierung, Abzug oder Integration ohne Selbstaufgabe offen stand.

Es macht auf dieser Ebene wenig Sinn, die gegensätzlichen Rechtstitel der beiden Seiten gegeneinander abzuwägen, um dann den einen Anspruch vor dem anderen zu rechtfertigen. National-völkisch-religiöse Kollektivsubjekte stützen sich auf Konstruktionen und Ausblendungen wie die Geschichte der Völker, historischen Fortschritt, Autochthonie, den Primat der Arbeit, heilige Bücher und Offenbarungen etc. Sie sind auf Ausschaltung und Sieg aus, sie haben nicht Recht, sie schaffen welches, wenn sie sich durchsetzen. Der herrschende Rahmen der Arbeit, des Gelds, der Konkurrenz und des Leviathans Staat erscheint ihnen als natürlich oder gottgewollt, und die eigene blutige Gewalt als gerecht, wenn sie nur zum Sieg führt. Gerade dass dieser aber seit Jahrzehnten für beide Seiten unerreichbar ist, macht die Hohlheit und Brüchigkeit ihrer Argumente so recht sichtbar und die Lage so verzweifelt.

Tragischer noch ist Israels zweite Sackgasse, nämlich einen Staat als Beseitigung des Antisemitismus durch „Normalisierung“ der Juden bzw. – nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah – wenigstens als sicheren Hafen aller verfolgten Juden aufzubauen. Der moderne antisemitische Wahn entspringt der Etablierung der Staats- und Geldwirtschaft und interpretiert die Krisen und Leiden der modernen Lebensweise als Ergebnis einer transnationalen jüdischen Weltverschwörung, ein Erklärungsmuster, das in der Shoah sein massenmörderisches Potenzial bereits einmal umgesetzt hat und dieses in den Krisen des Lebens unter Kapital und Arbeit so lange neu aufladen wird, bis diese Lebensweise überwunden ist.

Die antikoloniale arabische Gegnerschaft zum, wie sich zeigte, überlegenen „Judenstaat“ war von Anfang an für antisemitische Vorstellungen empfänglich. Die Gedankenwelt dieses Amalgams hat sich durch die Niederlagen und die Diskreditierung der arabischen Führer, durch wirtschaftlichen Niedergang und in Palästina selbst vor allem durch die Erfahrung des israelischen Besatzungsregimes radikalisiert und verallgemeinert. Dies hat die Aufweichung der antiisraelischen Front durch die Friedensschlüsse mit Ägypten und Jordanien konterkariert und ist in den poststaatlichen Fanatismus der islamistischen Zorneskrieger gemündet. Israel ist so zu jenem Ort in der Welt worden, an dem Menschen am ehesten Gefahr laufen, ermordet oder verstümmelt zu werden, weil sie Juden sind. Dass als Sicherheitsmaßnahme Israel abgemauert, ein Mehrfaches an Verdächtigen und Kollateralmenschen umgebracht, Infrastruktur zerstört, die Bevölkerung der besetzen Gebiete gedemütigt und Libanon von Zeit zu Zeit mit Krieg überzogen wird, hat sich auf Dauer noch immer als wenig effektiv erwiesen.

Staatlichkeit prekär und virtuell

Im Konflikt um Israel/Palästina destabilisiert die Krise des Nationalstaats im globalisierten Kapitalismus ein seit Anbeginn instabiles Konstrukt. Weder hat sich der Staat Israel seit seiner Gründung je auf eigene Rechnung ohne Unterstützung der jüdischen Diaspora und westlicher Mächte behaupten können, noch haben die Palästinenser seit bald sechzig Jahren ohne internationale Hilfe auch nur das nackte Überleben sichern können. Weder könnten, wie propagiert, alle Juden in Israel leben noch alle Palästinenser auf der Westbank und im Gazastreifen oder auch zusammen mit der jüdischen Bevölkerung im heute israelischen Machtbereich ohne millionenfache erneute Vertreibung. Fiktion und Realität in den Ideologien und Ansprüchen klaffen also ungewöhnlich weit auseinander, und wenn Israels Staatlichkeit eher prekäre Fundamente hat, so ist die geplante Palästinas überhaupt weitestgehend virtuell. Der Standort Israel kann nur profitabel sein, wenn seine militärischen Unterhaltskosten zu einem guten Teil andere tragen und ein Staat Palästina ist auf unabsehbare Zeit finanziell überhaupt nur simulierbar, wenn fast vollständig von außen finanziert.

Überhaupt ist der ganze Nahe Osten eine Weltgegend, in der die Ordnung des Werts und seiner Abkömmlinge die Form von Stagnation und Krise, stellenweise von (Banden-)Krieg und Massenschlächterei annimmt. Die mangelnde „Ortung der Ordnung“ führt dazu, dass die ihr zugrundeliegende Gewaltlogik am Stand durchdreht und Konflikte vielerorts auch nicht einmal mehr oberflächlich ruhiggestellt, geschweige denn gelöst werden können. Dabei ist anzumerken, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise in dieser Region auch ökologisch, in der Wasserfrage, unmittelbar katastrophale Folgen zu zeitigen beginnt.

Friede der Zerstörung

Der Ölhunger der Weltwirtschaft und die Migration sind die wesentlichen Schnittstellen, an denen sich die Konflikte dieser Weltgegend internationalisieren. Die westliche Theorie des „Clash of Civilizations“ und die nach innen repressive und nach außen kriegerische Praxis des „War on Terror“ sind das paranoide Gegenstück zum Fanatismus des sogenannten islamischen Fundamentalismus und des von ihm gespeisten Terrorismus, in dem lebende Bomben zur Hauptwaffengattung geworden sind. Krieg ist für beide Seiten nicht mehr die zeitweise erscheinende Latenz hinter dem Frieden, sondern dehnt sich zur herrschenden Verkehrsform.

9/11 ist für beide Seiten zum Fanal geworden. Dem entstaatlichten, weitgehend dezentralen und transnationalen Zorn- und Racheterrorismus kann der „War on Terror“ der westlichen Kriegsmaschine nicht beikommen, eben weil jener keine staatlichen Ziele mehr verfolgt und weil Selbstmörder mit Todesdrohungen nicht abgeschreckt, schwer vor ihrer Tat ausfindig gemacht und auch nur mit großem und diffusem Aufwand an Überwachung und Kontrolle in ihrem Tun behindert werden können. Aber selbst die gespenstische Aussicht, jene könnten einmal an biologische oder nukleare Waffen gelangen, würde sie dem Ziel einer neuen Ordnung, das sie nicht haben, nicht näher bringen können.

Sowohl für die westlichen Menschenrechtskrieger gegen die Barbarei als auch für die islamistischen Rächer der Enterbten am großen und kleinen Satan ist der Nahe Osten zentraler Frontabschnitt, an dem sie mit Terror und Vergeltung die Menschen ihres Machtbereichs hinter den jeweiligen Fahnen auf Angst und Abscheu, Hass und Kampfmoral vergattern. Der kriegerische Misserfolg der USA und ihrer Willigen im Irak ist durch friedliche Mittel kaum zu reparieren, weil schlicht auch die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für eine friedliche Variante der kapitalistischen Destruktivität schwinden. Und es waren ironischerweise die USA selber, die mit dem Sturz Saddam Husseins den Deckel von der Büchse der Pandora genommen haben (ohne dass man sagen könnte, diese Entwicklung wäre nicht auch anders früher oder später eingetreten).

Bevor noch die genuinen Suizidbomber an Bakteriengranaten und Atombomben herangekommen sind, zeigt sich ihre Märtyrermentalität schon auf staatlicher Ebene in der Gestalt, zumindest aber in der Rhetorik des iranischen Präsidenten, dem die inneren Zerfallserscheinungen der iranischen Gesellschaft bei seinen übernatürlichen Anwandlungen Resonanz verschaffen. Zwar hat der Zersetzungsgrad des persischen Staats noch keineswegs irakische Ausmaße, aber das Regime insgesamt hat nicht mehr allzu viel zur Hand, um anders als mit Sprüchen von nationaler Größe und apokalyptischer Aggressivität die Bevölkerung hinter sich und sich selbst für gottgefällig zu halten. Auf der anderen Seite liegt es nicht gerade in der Machtlogik der israelischen Politik oder des Weißen Hauses, nach Indien und Pakistan nun auch noch den befürchteten Aufstieg des Mullah-Regimes zur Atommacht abzuwarten, statt notfalls erstmals seit Hiroshima auch atomare Präventivschläge zu riskieren.

Wenn nicht nur die Ideologien, sondern schon die ganz alltäglichen Einstellungen alle Wahrnehmungen an Wert und Macht ausrichten, verengt sich der Horizont des Handelns und der Motive leicht zur Tunnelröhre, auch wenn die Folge eine unabsehbare Kettenreaktion von Krieg und Terror auf der ganzen Welt wäre. Die Perspektiven des Wirkens der glorreich clashenden Civilizations könnte man mit Tacitus formulieren: Sie schaffen eine Wüste und nennen es dann Frieden. Wobei sie auf unabsehbare Zeit noch sehr mit Verwüsten beschäftigt sind.

Chancen, klein aber mein

Das Bild der Entwicklung in solcher Schwärze nachzuzeichnen, ist einem wohl nur möglich, wenn eins noch Hoffnung hat, dass auch anderes am Werk ist als das Viva la muerte der Krieger der verschiedenen Schattierungen von Bin Laden bis George Bush und der zugehörigen Hochrufer auf die „Solidarität“, von links bis rechts, von antideutsch bis antiimp. Gegen diese Leute, gegen das Töten Stellung zu nehmen ist mehr oder weniger riskant, abhängig auch davon, wie nah oder weit vom Schuss eins gerade lebt. Wer gegen den Tod auftritt, steht vielerorts leicht in seiner Nähe, aber auch in konsolidierten kriegführenden Rechtsstaaten erwirbt man sich als Kriegsgegner nicht gerade die Sympathie der Staatsmacht. Vor allem aber folgen dem Krieg und Terror ab dem ersten Toten bei vielen Menschen der Schrei nach Schutz und Rache oder die Lähmung dumpfer Verzweiflung.

Nur wer das Leben von Mitmenschen bedingungslos über dessen Opferung für Nation, Religion, Klasse und all die anderen Emanationen der Diktatur des Werts stellt, kann kritische Distanz gewinnen zu den brutalen Selbstverständlichkeiten, die Freund und Feind im Namen jener angetan werden. Nur solche Menschen werden auch den gegensätzlichen Erzählungen vom Leben und Unglück, die hinter allen Feindschaften auch stehen, wirklich zuhören und an einem neuen Text der Versöhnung und Gemeinsamkeit mitweben können.

Es ist diese Haltung bei GegnerInnen der grassierenden Menschenfeindlichkeit im Kernkonflikt Israel/Palästina, die eine Entwicklung jenseits des Zusammenstoßes der Frontkämpfer vielleicht noch offen hält. Zwar verlassen auch die Vorstellungen jener Leute, soweit ich sehe, kaum die tief eingegrabenen Spurrinnen von Staat und Markt, von Recht und Geld, wenn es um „Ordnung“ geht, Spuren, auf denen man das Anliegen des Friedens zu formieren hofft, die aber regelmäßig mit ihm konfligieren, wenn nicht Menschen zu ihm drängen und ihn tragen, die über die die Fronten durchbrechen und gemeinsame Sache machen, als normierte Feinde miteinander gegen ihre Feindschaft reden, zerstörte Häuser reparieren, Bäume pflanzen, Wunden heilen. Wohl nur die Verbundenheit von Menschen, die als Feinde vorgesehen sind, kann für Überlegungen und Praktiken empfänglich machen, die über die allgemeine Zurichtung hinausgehen, wohl nur sie kann damit fertig werden, dass der Strand viel tiefer unter dem Pflaster liegt, als man erwartet hat. Kluge Gedanken ändern die Welt nicht, wenn sie nicht auch das Alltagsverhältnis der Denkenden ergreifen, und dieses ändert sich nicht, wenn wir nicht auch die Welt anders denken.

Fast zum Verzweifeln klein sind diese Initiativen und Gruppen angesichts der Walze des Misstrauens, das sich überall bestätigt sieht, doch sie sind, denke ich, das, was wir haben. Glanz und Elend derer, die da unterwegs sind gegen Krieg und Terror in Israel/Palästina, kann eins aufsuchen z. B. über
www. ijv. org. uk
www.salaamshalom.org.uk
www. onevoicemovement.org/wps/portal.
www.ariga.com
Man kann dort einiges lernen, was eins weitergeben mag, man kann sich in verschiedenster Weise nützlich machen für sich und seinesgleichen.

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