Virtualisierung der Ware Arbeitskraft

Kleine Politische Ökonomie des Praktikumsbooms

Streifzüge 36/2006

KOLUMNE Dead Men Working

von Ernst Lohoff

Die Angehörigen meiner Generation lernten das Praktikum noch als Ergänzung und Abschluss einer schulischen oder universitären Ausbildung kennen. Für die Nachgeborenen wird das mehr und mehr zur Propagandalüge. Das Etikett ist geblieben, der Inhalt aber hat sich verändert. Aus einem Teil der Berufsvorbereitung ist eine neue, prekäre Form der Berufsausübung geworden. Während der deutsche Arbeitsmarkt stagniert, vermehren sich die Praktikantenstellen explosionsartig. Französische Zeitungen berichten, in ihrem Land würden Jungakademiker mittlerweile im Schnitt 5 Jahre ohne Salär arbeiten, bevor sie ihre erste Festanstellung finden.

Die Aufhebung der Lohnarbeit in der Form der Aufhebung des Lohns stellt die Betroffenen vor immense lebenspraktische Probleme, den Kritiker der Politischen Ökonomie vor ein theoretisches. Bei Apologeten wie Gegnern galt die freie Lohnarbeit bis dato als die der kapitalistischen Produktionsweise adäquate Form abhängiger Beschäftigung. Angesichts der Krise der Arbeit zeigt sich das Kapital aber plötzlich undogmatisch. Wie lässt sich die neue Arbeitsform analytisch einordnen?

Die reguläre Arbeitskraft wird als Ware gehandelt. Wie bereits Marx im „Kapital“ entwickelt hat, funktioniert ihr Tausch nach der gleichen Logik nach der auch der Austausch anderer Waren funktioniert. Dem Verkäufer geht es um die Realisation des Wertes der Ware, dem Käufer dagegen um deren Gebrauchswert. Die Ware Arbeitskraft zeichnet sich durch einen spezifischen Gebrauchswert aus. Ihr ist die wundersame Potenz eigen, Wert schaffen zu können, der über ihren eigenen Wert hinausgeht. Aufgrund dieser besonderen Eigenschaft hat die Ware Arbeitskraft für den Verkäufer einen grundsätzlich anderen kategorialen Charakter als für seinen Tauschpartner. Der ursprüngliche Besitzer hat an ihr nichts als eine Ware. Indem der Käufer den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft nutzt, mutiert sie für ihn dagegen von einer simplen Ware zu (variablem) Kapital.

Verliert die Arbeitskraft für den Kapitalisten ihren besonderen Gebrauchswert, Wert in mehr Wert zu verwandeln, dann fallen sowohl die Verwandlung von Arbeitskraft in Kapital aus als auch der Tauschakt. Der Arbeiter bleibt auf seiner Ware sitzen, sie ist entwertet. Für den Kapitalisten ist die nicht gekaufte Arbeitskraft kein Kapital und für den Arbeiter eine nicht realisierbare Ware.

Entwertete Arbeitskaft war bis dato außer Kurs gesetzte Arbeitskraft. Als unverkäufliche Ware blieb sie ungenutzt am Wegesrand liegen, bis sie endgültig verrottet war oder doch noch einen Anwender fand. Die Entstehung von Arbeitskraft-Umsonstläden bricht mit dieser Regel und führt entwertete Arbeitskraft der einzelbetrieblichen Vernutzung zu.

Was ändert sich damit kategorial gegenüber dem von Marx analysierten Verhältnis? Was die Kapitalistenseite betrifft, so vermindert der Einsatz kostenloser Arbeitskraft den Kapitaleinsatz durch die Aneignung eines von dritter Seite unterhaltenen Gutes. Was das fixe Kapital angeht, ist das Prinzip der Kostenexternalisierung wohlvertraut. Betriebswirtschaftlich war es schon immer vernünftiger, die Luft als Müllhalde zu benutzen, als in teure Filteranlagen zu investieren. Im Zeitalter der Just-in-time-Produktion lagern Unternehmen im großen Stil ihre Lagerhaltung auf die öffentlichen Straßen aus. Die Krise der Arbeit bietet die einmalige Chance auch die Reproduktionskosten von angewandter Arbeitskraft anderen aufzuhalsen.

Wie verändert der Übergang zur Umsonstarbeit aber das Verhältnis des Arbeiters zu seiner nicht realisierten Ware? Die Marktwirtschaftspropaganda liefert eine originelle Antwort. Sie entschädigt Praktikant & Co. für den Lohnverzicht, indem sie ihn zum Kapitalisten und Investor adelt. Wer arbeitet, ohne sich dafür bezahlen zu lassen, investiert in sein „Humankapital“.

Politökonomiekritisch ist das natürlich Unfug. Als Kapital fungiert die Ware Arbeitskraft immer nur für den Käufer und Anwender, nie für ihren Träger. Spart sich das Kapital die Bezahlung, sinkt für den Umsonstarbeiter seine Arbeitskraft zur bloß virtuellen Ware herab statt zu seinem Kapital aufzusteigen. Praktikant & Co. wird die Anwendung ihrer Arbeitskraft nicht mit deren Wert vergolten, sondern mit einem Versprechen: Wenn sie heute ihre Arbeitskraft gratis vernutzen lassen, bringt diese es vielleicht später einmal bis zu einer richtigen Ware.

Neben der Medienbranche sowie dem Sozial- und Kulturbereich nahm der Praktikumsboom in den Avantgardesektoren der New Economy seinen Ausgang und trieb dort seine buntesten Blüten. Das ist kein Zufall. Was die Kapitalbeschaffung angeht, ist das Gebäude der IT-Branche auf meist ungedeckten Zukunftserwartungen errichtet worden. Warum auf diese bewährte Methode nicht auch beim Arbeitskrafteinsatz zurückgreifen? Das ist aber nicht der einzige Grund für die Vorreiterrolle. In keinem anderen Bereich unterliegt die Arbeitskraft einem vergleichbar rasanten „moralischen Verschleiß“: Arbeitskraft, die keinen Anwender findet, ist im Handumdrehen nicht nur vorübergehend, sondern ein für allemal entwertet.

In der Welt der Finanzspekulation lassen sich Gewinnerwartungen in aktuell vorhandenes Geld verwandeln. Mit der vagen Aussicht auf künftige reguläre Arbeitskraftveräußerung funktioniert das nicht, allem „Humankapital“-Geschwätz zum Trotz. Auch wenn Menschen sich nicht mehr über ihre Arbeit reproduzieren können, müssen sie sich reproduzieren, um arbeiten zu können. Wer seine Arbeitskraft als bloß virtuelle im Umsonstladen des Kapitals abliefert, dem treten alle anderen Güter ärgerlicherweise immer noch als reale Waren gegenüber – sie wollen bezahlt sein. Auch er braucht also tatsächliche Geldeinkünfte. Neben den leiblichen Eltern springt Papa Staat, dem Gedanken der Employability verpflichtet, mit seinen Transferleistungen in die Bresche. „Lieber Beschäftigung finanzieren als Arbeitslosigkeit“, lautet sein Motto.

Den Unternehmen, die entwertete Arbeit nutzen, tut er damit selbstredend einen Gefallen. Für die staatliche Finanzlage ist diese Art der Lohnsubstituierung genauso ruinös wie andere Varianten. Auch wer kein gelernter Ökonomiekritiker ist, kann sich an zwei Fingern abzählen, dass für jeden aus den Sozialkassen unterhaltenen Umsonstarbeiter ein Steuer- und Beitragszahler auf der Straße landet.

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