Realitätsfremde Rechenkünste

Kommentar: Erfahrungen einer Langzeitarbeitslosen

Der Standard 27.9.06

von Maria Wölflingseder

In Vorwahlzeiten wird laut von Vollbeschäftigung halluziniert. In Vorwahlzeiten wird das Budget des AMS um ein Drittel erhöht, um die Arbeitslosen erfolgreicher aus der Statistik zu entfernen. Gemeinnützige Arbeitskräfteüberlasser sind die neuen Wundertäter. Arbeitslose sind in ihren Händen nicht mehr arbeitslos, auch wenn sie keinen Job haben. Weiblichen Arbeitslosen wird zuhauf der Billa-Einberufungsbefehl zugestellt.

Wer glaubt eigentlich, dass es je wieder Vollbeschäftigung geben wird? War es nicht ein uralter Menschheitstraum, weniger arbeiten zu müssen, um sich wichtigeren und angenehmeren Tätigkeiten zu widmen? Jetzt, wo die Reichtumsproduktion von der Arbeit weit gehend entkoppelt wurde, ist dieser Traum in erreichbare Nähe gerückt. Es wäre überhaupt kein Problem, genug Güter, genug Nahrung, gesunde Lebensbedingungen für alle bereitzustellen, es ist nur ein Problem, sie immerzu in Geld, in Ware, in Wert zu verwandeln.

Wer glaubt eigentlich, dass die staatlichen Rechenkünste etwas mit der Realität zu tun haben? In den Medien wird zwar auf die fehlenden Kursteilnehmer in der Statistik verwiesen, aber wie viele andere auch nicht mitgezählt werden, darüber verliert niemand ein Wort: All jene zum Beispiel, die noch gar keinen Anspruch auf AMS-Unterstützung hatten (eine solche gibt es erst nach einem Jahr Beitragszahlung), aber wie viele Berufsanfänger bekommen heute noch eine fixe Anstellung? All jene, die keine Notstandshilfe bekommen, weil der Partner zu viel verdient. Oder all jene, die sich den Schikanen seitens des AMS nicht aussetzen wollen und sich deshalb nicht arbeitslos melden. Oder all die Arbeitslosen, die in die Pension abgedrängt werden. Und schließlich all jene, denen die Unterstützung – oft mit fadenscheinigen Gründen – kurzerhand für sechs Wochen gestrichen wird.

Im Mai des Vorjahres haben Linzer Wirtschaftsprofessoren in einer Studie vorgerechnet, dass die tatsächliche Arbeitslosenzahl in Österreich mindestens 550.000 beträgt.

Warum lassen wir uns vom AMS gängeln? Warum lassen wir uns pädagogisieren und uns in unserer Bewegungsfreiheit einschränken? Warum nehmen wir all die verrückten Widersprüchlichkeiten der Arbeits(losen)welt wie die Lämmer hin? – Alle sind beseelt vom „positiven Denken“: Was früher als klinisches Symptom behandelt wurde, ist heute zum Sozialisationsziel aufgestiegen. Viele basteln fleißig mit an der Simulation der Simulation, an der Errichtung des potemkinschen Dorfes: Die Hälfte der Arbeitslosen „schult“ die andere Hälfte! Was für eine Verschwendung an menschlicher Energie und Kreativität!

Wo sind all die (arbeitslosen) Psychologen und anderen Akademiker/innen, die sich einst als kritische verstanden? Ich brauche nicht, wie Barbara Ehrenreich under cover zu recherchieren über die working poor und über die (über)qualifizierten Arbeitslosen. Ich habe mir dieses Forschungsgebiet nicht ausgesucht, es hat sich mich ausgesucht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.9.2006)

Zur Person

Maria Wölflingseder, Dr. phil. , seit sechs Jahren brotjoblos, schreibt für die „wertkritische“ Zeitschrift „Streifzüge“ und ist Mitherausgeberin des Buches „Dead men working“ (Unrast-Verlag).

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