Populismus als Politik im Zeitalter der Simulation

von Franz Schandl

Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces propres“ (eigenen Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist menschliche Emanzipation vollbracht.“ (MEW 1: 370)

Thesen

1. Nicht nur weil Demos und Populus das Gleiche bezeichnen, ist die Behauptung, dass Demokratie und Populismus sich widersprechen, äußerst fragwürdig. Die Mobilisierung von Stimmungen und ihre Verwandlung in Stimmen ist doch die der Marktwirtschaft analoge Aufgabe der Politik. Der Erfolg des Populismus in der Politik läuft parallel zur Systematisierung der Public relations. Seriosität und Diskretion sind in der Arena einer rücksichtslos reklamierenden politischen Auseinandersetzung auf jeden Fall weniger geschäftstüchtig, das heißt Stimmen akkumulierend, als Anmache und Aufdringlichkeit. Es ist davon auszugehen, dass die populistische Zurichtung von Politik sich inzwischen verallgemeinert hat. Nicht nur Populisten agieren populistisch.

2. Dass sowohl der Liberalismus als auch der Populismus den Markt beschwören, wird nicht als gemeinsame Basis identifiziert. Doch gerade das verbindet sie: pro Arbeit, pro Leistung, pro Konkurrenz, pro Standort, pro Markt, pro Werbung, pro Kulturindustrie. Dumme Frage: Warum ist eigentlich die Forderung nach mehr Staat populistisch und die nach mehr Markt nicht?

3. Die abgefeimteste Variante des Populismus ist der Liberalismus selbst, eben weil er sich als einzige nichtpopulistische Variante zu verkaufen versteht und diesbezügliche Kritik erfolgreich unterläuft. Seine Demagogie ist eine, die die gängigsten Phrasen am deutlichsten ausdrückt, in etwa: „Gearbeitet werden muss“, „Menschen bedürfen der Konkurrenz“, „Der Markt entspricht der menschlichen Natur“ etc. –

4. Zweifellos gibt es ein populistisches Bedürfnis, Populismus ist auch mehr als ein politischer Stil. Der Modus der Kulturindustrie ist vielmehr zum Formzwang von Demokratie und Politik geworden. Seine Programmatik lässt sich eher an Fernsehprogrammen ablesen als in politischen Erklärungen nachlesen. Serienhelden dienen als Matrizen für die Parteiführer. Sie sind die zur Nachahmung empfohlenen Vorlagen. Aufgrund seiner Verankerung in den kulturellen Reproduktionen des Alltags darf die Analyse des Populismus nicht auf die Politik verengt, ja nicht einmal auf sie zentriert werden.

5. Der Populismus ist seinem Wesen nach nicht der Gegner der Demokratie, sondern ihre Fortsetzung mit entschiedeneren Mitteln. Die Demokratisierung der Demokratie führt geradewegs zum Populismus. Der Populismus ist die reinste Form der Demokratie. Und diese Kommerzialisierung der Politik ist in der politischen Konkurrenz selbst angelegt, sie kommt nicht von außen. Wo Populismus draufsteht, ist Demokratie drinnen.

6. Wenn herkömmliche Politik keine bewegenden Gefühle mehr zu erzeugen versteht und nur noch kapitalistische Rationalität in öffentliche Verwaltung übersetzt, tritt die Simulation, das Spektakel, die Inszenierung, an ihre Stelle. Diese sind nicht mehr bloßer Zusatz, sondern der mächtige Ersatz einer zerbröselnden Form, die nur noch die Hülle zur Verfügung stellt. Der heute grassierende Populismus kann als adäquates Zerfallsprodukt absterbender Politik gelten.

7. An die Regierung gekommen erweist der Populismus sich stets als unfähig und hilflos. Durchstarten kann er nicht, also muss er lavieren. Seine Präpotenz erscheint als lächerlich. Das fällt selbst den eigenen Wählern auf und daher auf jenen zurück. Und doch überlebt der Populismus stets den Absturz der Populisten. Auch wenn sich die Typen laufend blamieren, tut dies dem Typus keinen Abbruch.

8. Politik ist der Angriffspunkt, nicht der Populismus. Anti-Politik ist gefordert, nicht Antipopulismus, letzterer ist nur eine Facette. Es gilt also eine doppelte Front zu beziehen: gegen den Populismus und seine liberalen Gegner. Der obligate Antipopulismus ist hingegen eine Falle zum Zweck der Eingemeindung.

9. Das Subjekt muss gegen das Subjekt aufgestachelt werden. Es geht um die Entsubjektivierung der Menschen, um eine Ablösung von den Rollen und Charaktermasken. Nicht darum, bestimmte Subjekte oder gar Massen zu erreichen, sondern Menschen. Emanzipation ist nur als emotionale und sinnliche Erhebung des Selbst zum Ich denkbar, nicht jedoch als Organisierung von Masse und Macht, von Widerstand, Interesse und Bewegung. Das sind selbst Formen bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Nicht nur der Klassenkampf ist zu überwinden, sondern überhaupt jede Affirmation des Kampfes. Der Kampf ist selbst eine regressive Form gesellschaftlicher Beziehungen, sei’s als Konkurrenz oder Krieg.

10. Politik heißt auf die Interessen von Charaktermasken zu setzen und auf sie abzustellen, Anti-Politik heißt Menschen gegen ihre sozialen Zwangsrollen zu aktivieren. Das ist der Unterschied zwischen: „Ich nehme meine Interessen wahr“, also etwas mir durch Stellung im System Zugeordnetes, zu „Ich nehme mich wahr“, „Ich will mich verwirklichen“. Wenn man von Bedürfnissen spricht, an die anzuknüpfen wäre, gilt es sorgfältig zu unterscheiden und deren Beschaffenheit genau anzuschauen. Handelt es sich um Bedürfnisse von Rollenträgern =Interessen; oder um Bedürfnisse wider den Rollenzwang =Ansprüche.

image_print