„Für eine bessere Ordnung“

Streifzüge 35/2005

von Lorenz Glatz

Was ein Mensch schreibt, sagt anderen nicht selten mehr und anderes, als er selbst zu schreiben meint. Als Reinhard Federmanns Roman „Chronik einer Nacht“ 1950 als Fortsetzungsgeschichte im mittlerweile längst verblichenen Zentralorgan der SPÖ, in der Arbeiterzeitung, erschien, sagte er nur wenigen etwas. Jedenfalls dauerte es bis zum „Gedenkjahr“ 1988, zwölf Jahre nach des Autors Tod, bis der Picus Verlag den Text erstmals in Buchform herausbrachte. Im heurigen „Gedankenjahr“ erschien im selben Haus eine Neuausgabe. Die Verlagspolitik präsentiert das Buch demnach als mittlerweile historischen Beitrag zur „Vergangenheitsbewältigung“, als literarischen „Zeitzeugen“, und die Rezensionen entsprechen dem auch meistens. Mir sagt Federmanns Werk allerdings mehr und anderes auch. Es ist der Blickwinkel, aus dem die „Chronik einer Nacht“ in leicht lesbarem, trockenem Reportagestil auf das Geschehen schaut, auf den Versuch des 1938 durch den deutschen Einmarsch getrennten jungen Wiener Ehepaars Martin und Ruth Ellend, zehn Jahre später wieder zu einander zu finden. So wie hier Federmann auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse schaut, lässt er uns über ein halbes Jahrhundert nach der Niederschrift des Romans das Leben in (Post-)Nazismus und (Nach-)Krieg als Spezialfall eines Allgemeineren deutlich werden, in dem auch wir noch voll gefangen sind.

Das Gespräch der beiden Menschen schleppt sich dahin, ihre Erinnerungen und Gefühle werden zu inneren Monologen und kommen ihnen nur zögernd und bruchstückhaft über die Lippen. Sozusagen in Zwischenräumen erfahren wir – oft in einer Art Interview-Form -, was aus den Personen geworden ist, denen Martin und Ruth begegnet sind, ab und zu auch schlaglichtartig, was sich in ihrer Nähe zuträgt und zugetragen hat. Hier findet sich das Urbild des legendären Herrn Karl, das Helmut Qualtinger im Text seines Freundes Federmann in der Gestalt des „winzigen SA-Führers“ gefunden hat, der nunmehr mit seiner arisierten Fahrradhandlung ein „ehrlicher Geschäftsmann“ ist. Allerdings glaubt inzwischen (fünfzig Seiten weiter) auch der von Ruth aus Liebe gerettete Resistanceheld René als ziviler Ingenieur nicht an Politik und Gerechtigkeit, sondern an die Konkurrenzfähigkeit seiner Autos. Der Gymnasiallehrer und Wehrmachtshauptmann Fischer fühlt sich als alter Waffenbruder, wenn High-School-Teacher Captain Meier auf Besuch ist, und der sowjetische Leutnant Jewgenj Schwarz wird als „verrückt“ arretiert, als er vor lauter Aufregung einen Obersten beiseite stößt, weil er vom Zug aus auf dem Bahnsteig den Mörder seines Vaters erkennt und (vergeblich) dingfest machen will.

Martin Ellend war „ein junger Kämpfer“ gegen die Nazis – „ich wollte an einen Platz kommen, wo ich ihnen am meisten schaden konnte“. Dass er als Air Force Pilot über Wien auch seine Frau und viele Freunde hätte treffen können, hat er „in Kauf genommen.“ – „Heute würde ich es nicht mehr tun. Wir haben nur ein Phantom erschlagen. Der Feind lebt lustig weiter. Er zündelt an allen Ecken. Ich glaube nicht mehr an die Ideale von vorgestern. Jeder steht für sich allein.“ Martin fühlt sich als „ein alter müder Renegat. Nichts für Ruth“. Einem französischen Landpfarrer hatte er noch entgegengehalten, dass er „für eine bessere Ordnung“ kämpft, und dieser hat ihm darauf geantwortet: „Mit Ordnungen werden Sie nichts ändern. Es kommt auf den Geist an, der die Herzen bewegt“. Von einem Geist der Liebe ist am ehesten noch Ruth bewegt, was ihr Überleben in dieser Welt zu einem Glücksspiel macht und sie nicht vor einem Leben bewahrt, von dem sie sich eingestehen muss: „Wir waren ihre blinden Werkzeuge, jeder da, wo man ihn hingestoßen hat…“

Was suchen zwei so desillusionierte Menschen ohne viel Hoffnung auf die Zukunft nach dem gewaltsamen Ende ihrer Romantik noch beieinander, was könnte sie wieder zusammenführen? – „, Ich will ehrlich zu dir sein‘, sagte sie still.“ und „Wir verstehen einander oft nicht. Aber das ist doch auch nichts Außergewöhnliches. Dass wir uns oft verstehen – ich glaube: Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen…“. Ob sich aus dieser Empathie noch Aufbauendes machen ließe, bleibt ungeschrieben. Der Roman endet: „Es schien ihm, als lächle sie. Es war ein unruhiges Lächeln. Wenn man es aus seiner Entfernung sah, konnte man behaupten, es sei glücklich.“ Heutzutage wäre das wohl schon blanker Optimismus.

Reinhard Federmann, Chronik einer Nacht, 176 Seiten, Picus Verlag, Wien 2005, 18,90 Euro.

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