EIN STEIN kommt ins Rollen

Ein Hilferuf zum Einstein-Jahr

von Christa Höcker

Das Jahr 2005 wurde zum Einstein-Jahr erklärt. Von vielen Seiten – „Kulturzeit“ im Bildungssender „3-sat“ sei hier an erster Stelle genannt – wurde uns zunächst vermittelt, dass wir Albert Einsteins Relativitätstheorie und vor allem das, was sie für uns bedeuten sollte, in ihren Ausmaßen auch nach 100 Jahren nicht verstanden hätten – und womöglich niemals begreifen würden.

Wir verstanden nur eines sofort: So konnten wir unmöglich weiter leben. Wir mussten uns der Frage stellen: Was steckt hinter der Formel E = m x c2 ?

Dem einen oder anderen, der ihn genossen hatte, fiel der Physikunterricht in der Schule wieder ein. Einstein, das war doch der, der das Weltbild von Isaac Newton aus den Angeln gehoben hatte? Isaac Newton sagte uns, dass die Welt den Gesetzen der Mechanik gehorchte. Die Planeten umkreisten in festgelegten Bahnen, die berechenbar waren, die Sonne. Sie gehorchten den gleichen Gesetzen wie der Stein, der vom Felsen nach unten fällt oder der Ball, der vom Menschen nach oben geworfen wird. Gesetzen von der Masse und ihrer Trägheit, der Gravitation, d. h. der gegenseitigen Anziehung dieser trägen Massen, ihrer Geschwindigkeit und Beschleunigung. Die Energie als noch nicht verrichtete Arbeit war gleich dem Produkt aus der Masse und ihrer Geschwindigkeit zum Quadrat und kam bei Newton von außen, aus der Natur, als bewegte Luft, die die Flügel einer Windmühle antrieb, als strömender Wasserlauf; als Ochse, der den Pflug zog oder als oben liegender Felsbrocken, der nach unten fallen konnte. Viele voneinander unabhängige „Inertialsysteme“ waren hier in ständiger Bewegung. Doch der, der sie beobachtete und den Verlauf ihrer Bewegung verfolgte, war in Ruhe. Er hatte einen Standpunkt, von dem er die um ihn herum sich abspielenden Ereignisse verfolgte. Dieser war fest und zog eine bestimmte Sicht der Welt nach sich. Und ein bestimmtes Vorgehen in ihr. Wenn das Individuum handelte, so hatte dies Folgen. Eine Ursache hatte eine ganz bestimmte Wirkung. Die ganze Welt-, Erd- und Menschheitsgeschichte wurde als eine Folge von Ursachen und Wirkungen betrachtet. Das Individuum handelte als Subjekt. Ob es etwas tat oder dasselbe sein ließ, war keineswegs egal.

Mit all dem machte Einstein ein Ende. Doch ist das Bild der Welt, das er aus seinen Überlegungen konstruierte, ebenso wenig transhistorisch wie das des Isaac Newton. Als These sei hier gewagt, dass das mechanische Weltbild Newtons ein natürliches Vorbild für den gemächlichen Gang der bürgerlichen Gesellschaft darstellte, den Prozess der Industrialisierung, die in ihm entwickelten Maschinen und Produktionsverhältnisse als Folge einer durch Naturgesetze determinierten Ordnung erscheinen ließ. Unsere Spekulation über das, was er uns sagen wollte oder vielmehr, was uns als „Moral von der Geschicht'“ heute verkauft wird und vielleicht mit seiner Person nicht mehr viel zu tun hat, beginnt mit der Behauptung, Einsteins Überlegungen wären auf Naturgesetze gestoßen, die als Vorlage für die Organisation der postmodernen Gesellschaft bzw. die Verhältnisse nach der III. industriellen Revolution dienen können, dazu wie gerufen erscheinen. Die Gesetze Newtons und unser aus ihnen abgeleitetes Bild der Welt sind nach Einsteins Theorie bloße „Sonderfälle“ einer übergeordneten Gesetzmäßigkeit, die „nur“ für geringe Geschwindigkeiten gelten. Die Welt besteht nach Einstein aus unendlich vielen Systemen, die alle in Bewegung zueinander sind. Den ruhenden Beobachter gibt es nicht mehr und damit verschwindet auch gleichzeitig sein Standpunkt, ein ruhender Pol, von dem aus die Dinge zu betrachten sind. Wie der Mensch die Dinge wahrnimmt, hängt von seiner und der Geschwindigkeit der von ihm beobachteten Gegenstände ab. Er sieht sie daher immer anders und wird selbst von anderen auch immer verschieden gesehen. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung verliert seinen Sinn, weil jede Veränderung, die wahrgenommen wird, als eine mögliche Perspektive in den stets variierenden Bewegungszuständen aufgefasst werden kann. Die Relativität von Raum und Zeit setzt sich fort in der von Masse und Energie. In jedem Quäntchen Masse steckt ein ungeheures Vielfaches an Energie, das deren alte Formen, die uns einst in Gestalt eines Felsbrockens, in strömendem Wasser oder stürmendem Wind gegenüber traten, in den Schatten stellt. Es lässt selbst den elektrischen Strom unbedeutend erscheinen. Man musste sie nur noch heraus holen! Dafür haben dann andere als Einstein gesorgt. Sein Verdienst war, dass er ein Bewusstsein dafür weckte, wie viel verborgene Energie doch noch zu gewinnen sei: nicht nur aus den direkt spürbaren Kräften der Natur, sondern auch aus ihrem Innern. Zwar war dies kein ganz neuer Gedanke. Kohle und Erdöl, die in Millionen Jahren der Erdgeschichte Sonnenenergie in sich aufgehoben hatten, wurden schon lange als Energiequellen genutzt. Einsteins Forschungen machten den Weg frei, der Energie auf die Spur zu kommen und sie letztlich frei zu setzen, die seit Beginn der Geschichte des Universums, gleichsam vom Urknall an, „die Welt im Innersten zusammen hält. “

Ist dies alles etwa der Anfang vom Ende des bürgerlichen Subjekts? Viele Anzeichen sprechen dafür. Einsteins Vorstellungen wurden später ergänzt durch die Vorstellungen Max Plancks, der das uralte Prinzip „Die Natur macht keine Sprünge“ widerlegte, und de Broglies, der behauptete, ein Elektron könne sowohl als (Materie-)Teilchen als auch als (Energie-)Welle in Erscheinung treten, sowie durch Heisenbergs „Unschärferelation“, die besagt, dass es unmöglich sei, die Geschwindigkeit und den Aufenthaltsort eines Elektrons gleichzeitig festzustellen, weil durch den Vorgang des Beobachtens eine der beiden Größen beeinflusst werde. Unsere Welt und natürlicher Weise auch wir als ein Teil von ihr sind also aufgebaut aus schwirrenden Systemen, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie sich gerade als Masse zeigen oder als Energie verheizt werden. Wir Menschen als somit völlig haltlose Ordnungserscheinungen dieser ständig ineinander übergehenden rotierenden Teilchen haben auch noch Gesellschaften hervorgebracht und Geschichte gemacht. Und an dieser Stelle versteht man sofort, warum nur ein Staat mit der ihm eigenen Gewalt in diesem Chaos eine Ordnung schaffen konnte. In Einsteins Theorie erscheint der Bereich der menschlichen Erfahrung, die innerhalb der „geringen“ Geschwindigkeiten bis zu 75000 km/h gemacht werden, als Sonderfall. Als Regel, als Gesetz des Universums erscheint alles, was den Bereich menschlicher Anschauung und Vorstellungskraft sprengt, Vorgänge, die sich ab 99,9999% der Lichtgeschwindigkeit abspielen. Als kleines Mädchen besaß ich einen Bleistiftanspitzer, der die Form eines Globus hatte. Ich stellte mir oft vor, dass auf diesem sich gleichsam als Abbild unserer Erde Städte, Dörfer, Landschaften, Menschen und Tiere befänden, die in verkleinerter Form denen auf unserer Erde glichen. Wir konnten sie natürlich nicht sehen, weil sie viel zu klein waren, als dass unser Auge sie wahrnehmen könnte. Merkten diese kleinen Menschen, dass ich ihren Planeten als Anspitzer benutzte? Berührte und interessierte es sie überhaupt? Oder anders gefragt: Wäre es für uns persönlich interessant, wenn der Planet, auf dem wir leben oder gar unser ganzes Weltall so etwas wäre wie ein Anspitzer für die Bleistifte außerirdischer Lebewesen? Der Verdacht drängt sich auf, dass die Beschäftigung mit kosmischen Fragen ablenken soll von den näher liegenden, die sich vor uns auf tun. Dass sie die Widersprüche vergessen lassen möchte, die sich vor unseren Augen eröffnen. Dass sie über den Kapitalismus schweigen und über den Kommunismus nicht reden will. Denn alles, was wir bisher für substantiell gehalten haben, die Erfahrungen, die uns unser Körper mit seiner trägen Ruhemasse vermittelt hat, sollen von eben dieser getrennt werden, sollen ihre spezifische Form aufgeben und sich in Energie umwandeln, zu „noch nicht verrichteter Arbeit“, die darauf wartet, ausgeführt zu werden, und endlich die Werte zu schaffen, deren Form uns nicht mehr tangiert, wenn in ihr nur die (schwarzen) Zahlen stimmen. Denn die Masse, so träge sie auch immer gewesen sein mag, ist ohne Form nicht denkbar. Sie ist in eben dieser Trägheit konkret, leibhaftig, wenn man das hier so sagen kann, und steht uns damit im Weg. Wir spüren ihre Anwesenheit mit allen Sinnen und müssen uns ihr noch sinnlich nähern. Mit unserer Masse. Mit unserem zum Körper umdefinierten Leib, der doch noch nicht bis zur Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurde. Die Masse auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen und sie damit in ungeheure Energie umzuwandeln, bedeutet das Ende aller Formen. Alle Schönheit, die wir wahrnehmen, in welcher Beziehung auch immer, ob die von der Sonne beschienene Schneelandschaft, in der wir wandern, das Essen, das uns gut schmeckt, die Frau oder der Mann, die/den wir lieben, das Gespräch, das uns anregt, kann nur in ihrer spezifischen Form schön sein. In allen Arten von Energie lösen sich die Form und damit auch die Schönheit auf. Was bleibt, ist der Wert: in einer potenzierten Form und gigantischer als je zuvor herrscht er über die Trägheit der Masse und ihre vielen möglichen hässlichen wie auch schönen Erscheinungsformen. Die Forderung, die doch immer noch so träge Masse in Energie umzuformen, wird heute wie nie zuvor auf den verschiedensten Ebenen an uns herangetragen. Wahre „global player“ werden wir eben nur, wenn wir die besondere Geschichte unseres Werdens hinter uns lassen, vergessen und endlich die in uns schlummernden Ressourcen aktivieren, um sie dem Verwertungsprozess zuzuführen, ob in Gestalt der „global community“ oder des „world wide web“. Auf der anderen Seite sollen wir auch endlich von der Vorstellung Abschied nehmen, wir seien selbständig Denkende und aufgrund dessen auch Handelnde. Glauben wir den neuesten Ergebnissen der Hirnforschung, ist all dieses nur die Folge chemischer und physikalischer Prozesse, die in unserem Gehirn ablaufen. Im einen oder im anderen Fall hat sich das Individuum, das einen subjektiven Standpunkt hat, aufgelöst, ist eingegangen in einen sich selbst regulierenden Fließprozess, hat die träge Masse überwunden und sorgt für das Heißlaufen der Netze.

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