Das neue Prekariat

Kann es leisten, was das Proletariat nicht leistete?

von Franz Schandl

Matthias Horx sieht es so: „Verdienen Sie Ihr Geld überwiegend mit Leistungen, die einen Unterschied erzeugen, anstatt immer das Gleiche zu produzieren? Wissen Sie nur in etwa, wie Ihre Tätigkeit in einem, in zwei oder fünf Jahren aussehen wird? Haben Sie in Ihrem Leben schon mehrere Berufe ausgeübt? Beträgt der zeitliche Aufwand, den Sie zum Üben, Trainieren und Weiterentwickeln Ihrer Fähigkeiten aufwenden, mehr als 50 Prozent der Zeit, in der Sie aktiv Geld verdienen? Variiert Ihr Einkommen mehr als 30 Prozent im Jahr – bzw. kann es in den nächsten Jahren um diese Schwankungsbreite variieren? Wenn Sie nur eine dieser Fragen mit einem JA beantworten können, dann gehören Sie mit großer Wahrscheinlichkeit dazu. Sie sind Gründungsmitglied der herrschenden Klasse des Wissens-Zeitalter. Gehen Sie verantwortlich damit um. Es ist Frühling. Gründen Sie! Schöpfen Sie wohl! “ (Matthias Horx, Zukunft passiert: Die kreative Klasse, Die Presse, 2. April 2005, S. 29)

Was andere bedroht, ist für Horx Grund zu Freude und Jubel. Wenn die Durchflexibilisierten es anders empfinden, dann ist das ihr Problem. Wenn sie sich als deklassierte Elemente und nicht als herrschende Klasse begreifen, ebenso. Und wenn die Schöpfer als Geschöpfe eher den Abgeschöpften und Erschöpften gleichen – selber schuld! Indes, die neue Selbständigkeit ist nicht freiwillig, auch wenn die neuen Selbständigen willig sind. Die Einkommen mögen wild variieren, die Ausgaben tun dies jedoch nicht; im Gegenteil, die fixen und unhintergehbaren Lebenshaltungskosten steigen stetig an. Das Kalkulieren wird schwieriger, und immer mehr Lebenszeit verliert sich in dieser absolut sinnlosen, lediglich dem Markt geschuldeten Tätigkeit.

Was sich abzeichnet, ist vielmehr Deklassierung in großem Maßstab. Die Befreiung, die heute stattfindet, ist die Befreiung von den Sicherheitsnetzen. Menschen werden atomisiert. Als „vereinzelte Einzelne“ (Marx) sollen sie gleich schutzlosen Warenmonaden ihren Geschäften nachgehen und ihr Dasein fristen. Die Verkäufer ihrer selbst müssen agieren wie kleine Konkurrenzmonster: berechnend, entsichert, rücksichtslos. Deregulierung propagiert den „Kampf jeder gegen jeden“.

Ein Jenseits der Prekarität ist aber nicht mehr in ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen zu suchen. Das ist allerdings kein Grund, sich der desaströsen Entwicklung schicksalshaft zu ergeben. Das Durchbrechen der Vereinzelung ist zweifellos eine vorrangige Aufgabe. Vor allem die Gewerkschaften müssen aufhören die Bastion der Arbeitsplatzbesitzer zu sein. Gelingt es der Linken nicht Alternativen zu entwickeln, dann sind die Deregulierten den regressiven Vergemeinschaftungen (von der „corporate identity“ über die Partei bis zur Nation) und ihren Ideologien (Liberalismus, Keynesianismus, Rassismus, Antisemitismus) ausgeliefert. Nicht wehrlos, aber auch nicht allzu wehrhaft.

Emanzipation vereint Kritik und Perspektive. Sie meint nicht die Erfüllung von Interessen einer bestimmten sozialen Rolle. Auch das sogenannte Prekariat wird nicht halten, was man sich schon fälschlicherweise vom Proletariat versprochen hat. Hier wächst keine neue Klasse heran, weder eine herrschende noch eine revolutionäre. Es geht also nicht um die „Anrufung eines kollektiven politischen Subjekts“ (wie es in einigen Mayday-Proklamationen heißt), sondern um die Kritik aller vom Kapitalismus hergestellten Subjekte. Nicht nur für das Subjekt wird es prekär, das Subjekt selbst ist prekär. Entscheidend wird nicht sein, welche Position den Menschen in der Gesellschaft zugewiesen wird, sondern was sie wollen. Gefragt wie gefordert ist „enormes Bewusstsein“ (Marx): Nieder mit dem bürgerlichen Modus!

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