Was zu haben ist, ist zu haben

Reichtum jenseits der Ware

Streifzüge 31/2004

von Franz Schandl

Von besonderer Wichtigkeit sind uns zwei Dinge: erstens, dass Reichtum und Ware nicht als Synonyme gesehen werden, und zweitens, dass es gerade deswegen gilt einen positiven Begriff von „Reichtum“ zu entwickeln. Dazu einige Notizen.

Vorab ist einiges festzuhalten, was nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann: „Der Wert unterscheidet sich also grundsätzlich vom Reichtum, denn der Wert hängt nicht vom Überfluss, sondern von der Schwierigkeit oder Leichtigkeit der Produktion ab. „1 David Ricardo weiter: „Durch die beständige Erhöhung der Leichtigkeit der Produktion wird der Wert verschiedener bereits früher produzierter Waren fortgesetzt vermindert, obwohl wir auf diesem Wege nicht nur den nationalen Reichtum, sondern auch die Kraft der zukünftigen Produktion erhöhen. „2 „Reichtum kann also nicht an dem Quantum Arbeit, das er zu kaufen vermag, gemessen werden“, 3 (… ) „denn der Reichtum hängt immer von der Menge der produzierten Güter ab, ohne Rücksicht auf die Leichtigkeit, mit der die für die Produktion verwendeten Mittel vielleicht beschafft worden sind. „4 „Reichtum ist nicht vom Wert abhängig. Jemand ist reich oder arm je nach der Fülle an notwendigen und angenehmen Dingen, über die er verfügen kann. „5

Marx stimmt dem zu, korrigiert aber den letzten Punkt: „In anderen Worten sagt Ricardo hier: Reichtum besteht nur aus Gebrauchswerten. Er verwandelt die bürgerliche Produktion in bloße Produktion für den Gebrauchswert, was eine sehr schöne Ansicht einer durch den Tauschwert beherrschten Produktionsweise ist. Die spezifische Form des bürgerlichen Reichtums betrachtet er als etwas nur Formelles, ihren Inhalt nicht Ergreifendes. „6 Tritt der Reichtum als Warensammlung auf, dann ist klar, dass die stoffliche Materialisierung der Produkte nicht um ihrer selbst willen erfolgte, sondern zum Zweck der Realisierung des Werts. Marx folgt Ricardo zwar in der Nichtidentifizierung von Wert mit Reichtum, streitet aber gleichzeitig ab, dass der bürgerliche Reichtum unabhängig vom Tauschwert begriffen werden kann. Der bürgerliche Reichtum ist durch den Wert dimensioniert, ohne mit ihm gleich zu sein.

Reichtum meint nicht nur nicht die Ansammlung von Tauschwerten (=Werten), sondern meint auch nicht die Häufung von Gebrauchswerten. Der Begriff Gebrauchswert macht nur als kapitalistischer, also in der Totalität der Warengesellschaft einen Sinn, nur für diese charakterisiert er dessen stoffliche Seite. Im Kommunismus geht es schlicht und einfach um den Gebrauch von Gütern, nicht um Gebrauchswerte. 7

Gebrauchswert ist wie Wert bzw. Tauschwert eine Kategorie, die dem Universum der Warenform angehört, und nur in diesem einen entsprechenden Sinn ergibt. Nur die Ware hat Tauschwert UND Gebrauchswert. Verschwindet der Tauschwert, bleibt der Gebrauchswert nicht übrig, sondern geht mit jenem unter. Der Gebrauchswert ist ohne Wert nicht zu denken. In einer Gesellschaft der freien Individuen und der sozialisierten Produktion hätten die Güter weder Gebrauchs- noch Tauschwert. Produkte stünden als Produkte in Gebrauch, nicht als irgendein spezifischer Gebrauchswert. Die abstrakte Vergleichung entfiele auch auf dieser Ebene zugunsten einer konkreten Nutzung.

Eine begriffliche Scheidung von Gebrauchswert und Gut erscheint uns also unbedingt notwendig, um hier Unterschiedliches auch auseinander halten zu können. Anders als in den kruden Bemerkungen zum Gebrauchwert im „Kapital“ schreibt Karl Marx in seinem letzten ökonomischen Werk, dass „der Gebrauchswert der Ware selbst einen historisch-spezifischen Charakter“8 besitzt. Roman Rosdolsky war hier übrigens wohl der erste, der einer dementsprechenden Interpretation nahegekommen ist. 9

Niveau und Entsorgung

Die Dimensionierung der Gebrauchswerte unter dem Diktat des Werts geht auch nicht folgenlos an deren Qualität vorbei. Im Kapitalismus gestalten sich viele Produkte und Dienstleistungen unter ihrem technisch machbaren Niveau. Die Lebensdauer der Waren wird systematisch untergraben. Waren tendieren zur Serie und Serien tendieren so schnell es geht ersetzt zu werden. Nicht umbringbare Traktoren oder Glühbirnen, die fast ewig leuchten, dürfen nicht toleriert werden. Haltbarkeit ist ein Anschlag auf Verwertbarkeit. 10 Guy Debord spricht diesbezüglich in § 47 von „Die Gesellschaft des Spektakels“ vom „tendenziellen Fall des Gebrauchswertes“. „Der wirkliche Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen. Die Ware ist diese wirkliche Illusion und das Spektakel ihre allgemeine Äußerung. „11

Im Gebrauchwert und seinen Folgen (Krankheit, Müll, schlechte Qualität etc. ) offenbart sich die Destruktivität des Kapitals als allseitige Bedrohung. Es gilt nicht nur die Wertform (=Tauschwert) zu überwinden, sondern auch viele Gebrauchswerte loszuwerden: die Wegwerfprodukte, die Butterberge, die Nuklearwaffen, die Atomkraftwerke. Die ökologische Frage ist ja alles andere als erledigt.

Viele, rein marktbedingte Funktionen sind überflüssig. Die große Freisetzung meint auch Freisetzung diverser Arbeiten ins Nichts: Verkäuferinnen, Versicherungs- und Bankangestellte, Buchhaltungs- und Verrechnungswesen, Mahnabteilungen, Gerichtsvollzieher, Finanzbehörden, Steuerberatungen, Kalkulationsbüros, Geldtransporteure etc. Alles weg? Alles weg! Wahrscheinlich sind vier Fünftel der heutigen Arbeiten auf das monetäre Rechnungswesen bezogen und somit ersatzlos zu streichen.

Emanzipation ist ein Arbeitsentsorgungsprogramm ungeheuren Ausmaßes. Erst damit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass bestimmten Tätigkeiten mehr Raum und mehr Zeit gegeben werden kann, z. B. das sich Kümmern und Sorgen um andere, die Kindererziehung, die Altenbetreuung, Freundschaften, Sozialdienste, vor allem aber auch die Liebesbeziehungen und Körperertüchtigungen. Und nicht zu vergessen, das Nichtstun.

Entfaltung und Genuss

Der einfachste Imperativ des Kommunismus ist wohl dieser: Niemand soll unter die Räder kommen! Was wegfallen soll, das ist die soziale Bedrohung. Die Angst vor der sozialen Degradation sollte der Vergangenheit angehören. Womit aus dem Imperativ freilich ein Indikativ geworden wäre. Etwas, das keiner besonderen Maßnahmen bedürfte, weil es ganz selbstverständlich ist.

„Der Reichtum besteht, stofflich betrachtet, nur in der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse“, 12 schreibt Marx. Nur, das Bedürfnis ist ja nicht etwas, das sich quasinatürlich ergibt, das Bedürfnis folgt einer gesellschaftlichen Konstellation, die nicht immer so bestehen muss. Mannigfaltigkeit heißt Entfaltungsmöglichkeit und Genussmöglichkeit. Deren Voraussetzungen sind vorhanden, deren Bedingungen allerdings nicht. Und das ist nicht nur materiell zu verstehen. Reichtum meint mehr als Güterfülle, ist aber ohne diese nicht denkbar. Wobei Güterfülle schon etwas anderes vorstellt als volle Geschäfte, die ihre Waren feilbieten. Güterfülle bedeutet auch Zugänglichkeit der Produkte und Leistungen, nicht bloß deren Vorhandensein. Ersteres ist ohne Letzteres zu haben, Letzteres ohne Ersteres nicht.

Was bedeutet Reisefreiheit, wenn eins es sich nicht leisten kann, was Gedankenfreiheit, wenn eins nicht denken kann? Es ist ja heute geradezu charakteristisch und unhinterfragt, dass aus dem Vorhandenheit nicht unbedingt auf Gebrauch oder Konsum geschlossen werden kann. Dasein unter den Kriterien des Werts meint nicht Verfügbarsein, sondern Kaufbarsein. Das bürgerliche Universum stellt also eine Bedingung an die gesellschaftlichen Mitglieder, die eigentlich nicht selbstverständlich ist, auch wenn sie so erscheint. Heute gilt: Was zu haben ist, ist zu kaufen. Gelten aber soll: Was zu haben ist, ist zu haben.

Lebensmittel müssen da sein, produziert werden, konsumiert werden, kurzum wirken. Aber müssen sie gehandelt werden? Während die ersten Bestimmungen als Daseinsbestimmungen definiert werden können, ist letztere Bestimmung lediglich eine Formbestimmung, eine, die aber heute wichtiger ist als die Erstgenannten, ja diese völlig unter ihre Fittiche genommen hat und sich als unumstößlich verkündet.

Unser derzeitiges Leben ist ein von unseren Machenschaften besetztes Terrain. Die zentrale Frage ist die (letztlich individuelle) nach dem guten Leben, nicht die nach dem nackten Leben, wo es nur darum geht, den existenziellen Bestand zu sichern, um zu überleben. Das gute Leben ist jenseits materieller Absicherung nicht machbar, aber es ist auch nicht mit dieser (oder gar einem normierten Lebensstandard) zu verwechseln. Wir haben gut zu essen, wir haben gut zu trinken, wir haben gut zu lesen, wir können verreisen, wir sind von jeder Arbeit befreit und doch eifrig, stehen nicht unter Stress, weil wir uns die Anstrengungen, die wir wollen, selber aussuchen. Man könnte und sollte das weiterspinnen. In etwa: Es gibt erstmals Autos für alle, aber viel weniger Autos und vor allem keinen Automobilismus mehr. Der Individualverkehr läuft besser und zügiger (keine Staus), weil es viel weniger Straßenverkehr gibt. Die Bedingungen des guten Lebens wollen diskutiert sein.

Im Reich der Sinne

Geistige Armut hat nicht vorrangig mit Wissen zu tun, sie bedeutet vor allem Indifferenz und Ignoranz. Reich sein hieße, differenzieren zu können. Auch und gerade die Sinne besser auszuprägen und einzusetzen, was Gehör, Blick, Geschmack, Gefühl betrifft. Genauer, feinsinniger, kenntnisreicher, reflektierter. Denn auch unsere Sinne sind nicht natürlich gegeben, sondern sozial geformt. Ihre biologische Beschaffenheit ist nicht ihre Bestimmung. Was als sinnliche Gewissheit daherkommt, ist meistens nichts als die programmierte Übereinstimmung mit der vorgefundenen Welt.

Wir müssen etwa lernen, gutes Bier vom schlechten Gesöff zu unterscheiden, gutes Essen vom gemeinen Fraß, ein Kunstwerk vom üblen Plagiat, ein niveauvolles Musikstück von einer obligaten Vertonung. Um etwa bestimmte Texte bewältigen zu können, ist mehr notwendig als lesen zu können, dies ist aber erreichbar, weil erlernbar. Und wer es nicht kann, dem entgeht gar einiges. Reichtum heißt aber, dass einem a priori wenig entgehen soll. Dass man nicht ausgeschlossen ist, sondern Möglichkeiten hat. Dazu brauchen wir alles andere als eine Entsinnlichung, sondern vielmehr eine Ausdifferenzierung unserer Sinne. Ja, eine Emanzipation der Sinne, einen transvolutionären Schub gegen die Abstumpfung. Mehr im Sinn zu haben, entsorgt auch die sinnstörende Frage nach einem bestimmten Sinn des Lebens. Es kann erstmals einfach es selber sein.

Es gilt eben nicht aufzugehen in der sinnlichen Gewissheit, sondern wahrzunehmen, was läuft, und es auch begreifen und benennen zu können. Reichtum bedeutet die Gewissheit nicht als Selbstverständlichkeit durchgehen zu lassen, sondern quer zu bürsten. Vor allem heißt das auch, mehr an Sozialtechniken erlernen zu dürfen. Ich habe es immer als großen Mangel empfunden, keine Partituren lesen und auch kein Musikinstrument ordentlich spielen zu können. In Musikstücken nicht erkennen zu können, was erkennbar wäre, wurmt mich. Ähnliches gilt für meine Bildbetrachtung.

Hören meint mehr als zuhören, sehen meint mehr als zusehen. Wichtig ist die allgegenwärtige Zurückdrängung von Ignoranz, Indifferenz und vor allem Affirmation oder wie ihre Ideologen sie nennen: positivem Denken. Erkenntnis- und Kritikfähigkeit meint Reichtum, das sind die Produktivkräfte sondergleichen.

Unsere geistige Potenz ist nur zu einem Bruchteil entwickelt und dieser Teil ist wiederum in vieler Hinsicht vom Geld Beschaffen, vom In-Wert-Setzen geprägt. Wir sind geschult im Fetischdienst, unser Leben besteht im Ministrieren, unser Alltag ist der allmächtige Meister unserer Selbstknechtung. Kapitalismus bedeutet eine Zurichtung und Verstümmelung menschlicher Möglichkeiten. Verkaufen, kaufen, Rechtsgeschäfte eingehen, kalkulieren, spekulieren etc. ; dazu sind wir abgerichtet. Unsere Sinne werden missbraucht zum Götzendienst an Ware und Geld. Wirklicher Reichtum hingegen bedeutet, vielem auf die Spur zu kommen, was wir, die Geldspurer, heute gar nicht spüren können.

Frei nach Brecht: Reichtum ist eine einfache Sache, die einfach zu machen wäre, wäre heute nicht alles so kompliziert. Das Herstellen, Weiterreichen und Bekommen von Gütern (materiellen wie ideellen) ist in formloser Form zu bewerkstelligen. Das heißt, das Hin und Her hat keine äußeren Zweckbestimmungen, schon gar nicht welche in Wert und Tausch. „Wir machen keine Waren, wir machen Geschenke“, sagte derselbe Dichter. Das Geben und Nehmen ist von jeder fetischistischen Halluzination von Äquivalenten von Arbeitsquanta zu befreien. Vielmehr geht es um ein gemeinsames Schöpfen, ein Begriff der beides, geben und nehmen, in einem zusammenfasst. Bruch mit dem Fetischismus als bestimmender Größe des Lebens bedeutet, dass die Selbstschöpfer die Götzendiener als menschlichen Grundtypus ablösen.


Anmerkungen

1 David Ricardo, Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (1821), Marburg 1994, S. 231.

2 Ebenda, S. 232.

3 Ebenda, S. 235.

4 Ebenda, S. 236.

5 Ebenda, S. 233.

6 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. Dritter Teil, MEW, Bd. 26.3, S. 49.

7 Ausführlich dazu: Franz Schandl, Vom Fortschritt in der Geschichte über den Wert zum Gut, Weg und Ziel 1/1997, S. 61-63.

8 Karl Marx, [Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie] (1879/1880), MEW, Bd. 19, S. 370.

9 Vgl. Roman Rosdolsky, Der Gebrauchswert bei Karl Marx. Eine Kritik der bisherigen Marx-Interpretation, KYKLOS. Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaften, Vol. XII 1959, Basel, S. 27-56. Eine Kopie dieser Schrift kann übrigens gegen Vorauskassa bei uns um 6 Euro bestellt werden.

10 Vgl. Franz Schandl, Dimensionen des Mülls, Krisis 18 (1996), S. 152.

11 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967), Berlin 1996, S. 38.

12 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58), MEW, Bd. 42, S. 433.

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