Negative Sozialromantik

Manchen Linken ist die Kritik an der Bewegung wichtiger als die Kritik an Hartz IV.

von Ernst Lohoff

Auch in Deutschland lässt sich der Sozialstaat nicht völlig widerstandslos abwickeln. Auf diese Einsicht, die der großen Koalition von Regierung und Opposition von den Montagsdemonstrationen aufgezwungen wurde, reagiert sie mit der Diffamierung der Proteste. Vor allem zwei Varianten von Schmutzpropaganda kommen dabei zum Einsatz. Entweder sie beschwört die Gemeinschaft der Demokraten und denunziert den Widerstand gegen Hartz IV als aktive Wahlhilfe für die NPD, so wie der alte und neue saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) nach seinem Wahlsieg; oder sie warnt vor einer neuerlichen Ost-West-Spaltung. Glaubt man Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Michael Glos, dann riskieren die Montagsdemonstranten leichtfertig die „innere Einheit des Landes“.

Der Sache nach ist dieser Vorwurf ein schlechter Witz. Niemand geht in Leipzig auf die Straße, um den Arbeitslosen in Bochum die Butter vom Brot zu stehlen. Keine Montagsdemonstration in West- oder Süddeutschland bläst zum Verteilungskampf gegen die Ossis. Im Gegenteil: Die Forderung „Weg mit Hartz IV! “ vereint die Opfer der Sozialdemontage in Ost und West, statt sie zu trennen. Das hat auch die PDS begriffen. Statt auf Ostalgie und Separatismus zu setzen, sieht sie die Chance, angesichts des allgemeinen Unmuts gegen Hartz IV endlich auch außerhalb ihrer östlichen Stammländer als Protestpartei zu reüssieren.

Dennoch hat die Mahnung vor einer Spaltung ihren Sinn, und zwar einen perfiden. Die Politik warnt vor der Ost-West-Spaltung, um sie herbeizureden. Divide et impera, lautet das altbekannte Motto. Die von oben betriebene Ethnisierung des Sozialen soll mithelfen, die Proteste zu isolieren, zu desavouieren und im Keim zu ersticken.

Es ist eine Kampagne, die da seit Wochen zu beobachten ist. Zuerst malen die Politiker die Gefahr einer Ost-West-Spaltung an die Wand. Dann taucht „rein zufällig“ zur Bestätigung eine Emnid-Umfrage auf, nach der die Mehrheit der Westdeutschen die „Undankbarkeit“ der ostdeutschen Landsleute beklagt. Anschließend gibt der höchste Würdenträger des Landes, Bundespräsident Horst Köhler, die in seinem Amt ansonsten übliche vornehme Zurückhaltung auf und hetzt die Wessis gegen die umverteilungsgeilen Ossis auf. Schon hat man erreicht, was man erreichen wollte. Die Ost-West-Debatte verdrängt den Streit um Hartz IV aus den Schlagzeilen und wird zu einer entscheidenden Waffe in ihm: Die von ihnen selbst lancierte „Volksmeinung“ lässt den um die innere Einheit des Landes besorgten Politikern gar keine Wahl, sie müssen sozialpolitisch so weiter machen.

Unterstützung für ihr Vorgehen erhalten sie dabei mal wieder ausgerechnet von Leuten, die sich selbst als linksradikal verstehen. Zwar verurteilen diese Linken die Montagsdemonstranten nicht als Sünder wider die gesamtdeutsche Standort- und Volksgemeinschaft; dafür erfreut sich die Entsorgung der „sozialen Frage“ qua Ethnisierung in ihrer anderen Variante in einigen Szene-Soziotopen umso größerer Beliebtheit. In der Jungle World kam eine ganze Reihe linker Linienrichter zu Wort, die ganz im Sinne der „Gemeinschaft der Demokraten“ die gelb-rote Karte für die montags auflaufenden angeblichen Repräsentanten des gesamtdeutschen Stammesbewusstseins fordern. Susanne Fischer (Jungle World, 38/04) etwa glaubt, der durchschnittliche Demonstrant im Osten habe nichts dagegen, mit Neonazis zu marschieren, und deutet den Protest als eine Art Fortsetzung des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen mit anderen Mitteln. Freerk Huisken kommt bei seinen ideologieexorzistischen Trockenübungen (37/04) zu dem Ergebnis, dass im „Zentrum“ der Angriffe auf das Hartz IV-Konzept nichts als „Sorgen um nationale Anliegen“ stünden.

So viel ist freilich klar: Bei den Protesten gegen Hartz IV handelt es sich nicht um den Aufmarsch zehntausender geborener Antikapitalisten, die zum Sturm auf die bestehende Ordnung ansetzen. Nicht die Demonstranten haben den 50 Jahre alten bundesdeutschen Konsens aufgekündigt, sondern die Wirtschaft und die Politik mit ihrem offen arbeitsterroristisch-sozialdarwinistischen Tabula-Rasa-Programm. Das Erschrecken darüber bildet den Ausgangspunkt des Protests.

Entsprechend heterogen ist er auch. Und das heißt auch: Wer darauf versessen ist, rechtes und rassistisches Gedankengut aufzuspüren, wird in den bunt zusammengewürfelten Reihen garantiert fündig werden. Und selbstverständlich sehen rechte Gruppierungen den Unmut gegen den ökonomieterroristisch begründeten neuen rot-grün-gelb-schwarzen Sozialdarwinismus als tolle Gelegenheit, wieder einmal ihre Alternative, den völkischen Sozialdarwinismus, ins Spiel zu bringen. Liebend gern würden sie den Protest vereinnahmen. Aber warum einen rechten Wunschtraum als vollendete Tatsache behandeln? Warum vorauseilend zwischen Pest und Cholera wählen und sich angesichts einer nur phantasierten rechten Vorherrschaft auf die Seite der demokratisch einherstolzierenden regierenden Menschenverachtung stellen? Mit welchem Maßstab operiert Susanne Fischer, wenn sie, den Zynismus der FDP übertreffend, Menschen, die sich gegen das mit Abstand größte Verarmungsprogramm der bundesdeutschen Geschichte wehren, allen Ernstes „Sozialneid“ vorwirft?

Seit jeher waren Linke darauf konditioniert, beim Wort „Volk“ feuchte Augen zu bekommen und ins Schmachten zu verfallen. Das Volk galt als die Inkarnation des Guten schlechthin, und Generationen von Antikapitalisten waren bemüht, diese ach so schöne Prinzessin wach zu küssen. Diese Form der Sozialromantik ist mittlerweile aus der Mode gekommen, aber offenbar nur, um bei Huisken und Co. negativ gewendet fortzuleben. Aus unerhörten linken Liebhabern sind schmollende Inquisitoren geworden. Sie müssen das Wörtchen „Volk“ nur hören, schon wird ihnen dunkelbraun vor Augen, alle Sinne und alles Unterscheidungsvermögen schwinden dahin.

Die Kategorie „Volk“ hat in der langen Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft einen strukturell doppeldeutigen Charakter, und genau dieser Doppeldeutigkeit entspricht das traditionelle Links-Rechts-Schema. Der linke Appell an das Volk richtete sich darauf, auf der immer vorausgesetzten Grundlage von Arbeit und Staatlichkeit „die da unten“ gegen „die da oben“ zu mobilisieren. Reformisten oder Revolutionäre kämpften gleichermaßen für den Anteil der breiten Massen an den Früchten der Arbeitsgesellschaft und um deren staatsbürgerliche Rechte.

Die rechte „Liebe zum eigenen Volk“ bildete dagegen immer nur die Kehrseite der Frontstellung zu konkurrierenden und inferior begriffenen anderen „Völkern“. Nicht dass sich die Rechte grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt gegen die Ausweitung der Partizipation an den Segnungen der Warengesellschaft auf breitere Schichten gestellt hätte. Aus ihrer Perspektive war das aber stets ein untergeordnetes Moment, eine Funktion einer möglichst breiten ideologischen und materiellen Mobilisierung gegen den äußeren Feind.

Im Zeitalter der Krise der Arbeitsgesellschaft genügt ein Lackmustest zur Scheidung von emanzipativen und rückwärtsgewandten Sozialprotesten: die Frage der Arbeit. Opposition beginnt mit der Missachtung dieses geheiligten Basisprinzips der Warengesellschaft. Sozialkritik, die das Primat der Arbeit anerkennt, ist keine.

Die Kritik der Arbeit schließt selbstverständlich den entschiedenen Bruch mit der linken Volksbegeisterung ein. Der linke Volkskult hatte nicht von ungefähr beharrlich die breiten Massen als die ausgebeuteten Schöpferinnen aller Werte abgefeiert. Die Identifikation mit dem Universalprinzip der Arbeit und ihrem Universalträger, dem (arbeitenden) Volk, sind logisch wie ideologisch identisch. Der positive Bezug auf die Arbeit bildet die gemeinsame Grundlage der linken und der rechten Volksbegeisterung.

Nur ein Antikapitalismus, der diese Basis konsequent offen legt und systematisch infrage stellt, verdient diesen Namen. Das ist aber etwas ganz anderes, als die überlebten, den Anti-Hartz-Protest wesentlich mitprägenden linken Vorstellungen zu genuin rechten umzudeklarieren. Diese Umdefinition ist infam und letztlich eine Ersatzhandlung von Leuten, die selber vor einer konsequenten Kapitalismus- und Sozialkritik zurückschrecken.

Mit Freerk Huisken hat das pseudokritische Diffamierungsunternehmen sicherlich einen ihm adäquaten Wortführer gefunden. Dieser Resteverwerter des Arbeiterbewegungsmarxismus scheut vor der kategorialen Kritik der Arbeit zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Stattdessen langweilen er und der Agitationsclub, als dessen Vordenker er auftritt, seit Jahr und Tag mit den immer gleichen Phrasen vom sich immer gleichenden Kapitalismus. Seine Tiraden täuschen nur darüber hinweg, dass er und seine Mitstreiter weder zum heutigen Kapitalismus noch zum Kampf gegen ihn irgendetwas zu sagen haben.

Mit ihrer Strategie der Ethnisierung des Sozialen verfolgt die deutsche Politik knallharte machtpolitische Zwecke. Die linken Ächter der Montagsdemonstrationen treiben dagegen vor allem identitätspolitische Motive um. Man verwechselt die Abstraktheit des eigenen Standpunkts mit Radikalität und flüchtet zu vorgeblich ideologiekritischen Übungen, um sich und anderen die eigene Kapitulation als ihr Gegenteil zu verkaufen. Auf diese Art wird die Kritik an der sozialen Bewegung wichtiger als die Kritik am Gegenstand, an Hartz IV. Es ist eben viel einfacher, irgendwelchen dummen Demonstranten am Zeug zu flicken, als die Auseinandersetzung mit dem amoklaufenden Kapitalismus des 21. Jahrhunderts zu suchen.

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