Den Kampfhund bändigen

UTOPIE IM ALLTAG

von Stefan Meretz

Nicht um den Fetisch „neue“ Gesellschaft tanzen, sondern täglich die alten Spielregeln außer Kraft setzen

In der Vergangenheit herrschte auf einem Sechstel der Erde die Vorstellung, dass nach der Konzentration aller Kräfte auf den Staat das Morgenrot schon leuchten werde. Diese Besessenheit ist aus guten Gründen passé. Die sozialdemokratischen Geschwister des Staatssozialismus, die eher sanften Attacken auf das Verfügungsprivileg der Kapitaleigner, sind ebenfalls verschwunden. Wirtschaftsdemokratie und Beteiligung am Produktivvermögen – irgendwie scheinen auch diese zarten Reformpflanzen den Anschluss an die heutige Zeit verloren zu haben. Was also bleibt? Wo sind die Hoffnungsträger, die Keime für eine postkapitalistische Ökonomie? Wenn es den großen alternativen Entwurf schon nicht gibt, dann wird das alltägliche Anders-Handeln vielleicht um so wichtiger.

Warum wiederholt sich linke Geschichte, seit es sie gibt? Warum gibt es seit Generationen einen gleichsam „natürlichen“ Durchlauf individueller Biografien vom Revoluzzer über den Politikaster zum Privatier? Warum können wir hämisch über die angepassten Grünen oder Sozis jeder Couleur lästern und verhalten uns – mehr oder weniger – genauso?

Die Antwort, die ich hier entfalten möchte, ist kurz: Weil wir Teil des Spiels sind. Es spielt uns. So wie wir uns im „Mensch-ärgere-dich-nicht“ oder „Risiko“ ereifern können, so im Spiel „Reform oder Revolution“, das heute ohnehin nur eines von „Konterreform und Konterrevolution“ ist. Die Spielregeln sind gesetzt. Es wird Zeit, die Spielregeln – fangen wir bescheiden an – zu verstehen, um sie, wo immer es geht, zu umgehen.

alle wissen, wo´s langgeht,

aber keiner weiß, warum *

Der Kapitalismus produziert Leid. Das eigene oder das mitempfundene Leid berührt, demütigt, empört. Dabei ist Leid nicht notwendig Ausdruck unmittelbaren Mangels, sondern vor allem der Ohnmacht, nicht über die Möglichkeiten des Abstellens von Mangel verfügen zu können. Entwürdigend ist, augenscheinlich nichts tun zu können. Nichts tun? Natürlich können wir etwas tun, ist die linke Antwort. Die Lösung liegt im Zusammenschluss, um die eigenen Interessen gemeinsam durchsetzen zu können. Hier beginnt das Drama.

Die eigenen Interessen durchzusetzen, bedeutet, sie gegen andere Interessen durchzusetzen. Das war solange fortschrittlich, wie man die eigenen Interessen gleichzeitig als die allgemeinen wähnte, während „die Anderen“ nur ihre Partialinteressen vertraten. Es war eine Entscheidung für die richtige Seite: „Which side are you on? “ Wie ernüchternd ist es, zu erkennen, dass es die „richtige Seite“ nicht gibt, dass alle „Seiten“ nur ihre Partialinteressen vertreten. So sind die Regeln: Jeder hat seine Interessen, die durchzusetzen einschließt, dass Andere ihre Interessen nicht durchsetzen. Behaupte dich auf Kosten Anderer. „There is no alternative“ – TINA.

Das Denken in „Interessen“ ist immer auch ein Denken in „Personen“. Die Guten und die Bösen. Linke haben dieses Denken befördert, und sie tun es noch. Populistische Empörung über die Einkünfte des Vorstandsvorsitzenden. Umverteilung von oben nach unten. Wer bekommt wie viel? Aber nur für die Fleißigen: Die Müßiggänger schiebt beiseite. Die Ausländer auch? Personalisierendes Denken hat keine Haltelinie zum Rassismus.

Für alles, was ist, gibt es einen Grund. Bleibt der Grund unsichtbar, müssen es die Personen sein. Wer kennt das nicht: Hauptsache, die Schuldfrage ist geklärt. Warum stellt nicht mal jemand das Denken in „Schuld“ in Frage? Ganz einfach: Wir haben eine Austragungsform für den Personalisierungsdiskurs, die Demokratie. Demokratie ist die Regulationsform miteinander konkurrierender Interessen. So sind die Regeln. TINA.

so lang wir noch tanzen können

und richtig echte tränen flennen,

ist noch alles offen, ist noch alles drin

Waren müssen getrennt produziert werden, damit sie auf dem Markt getauscht werden können. Das trennt auch die Produzenten. Konkurrenz ist die bestimmende Begegnungsform. Standort gegen Standort, Betrieb gegen Betrieb, jeder gegen jede. Kooperation gibt es nur, um die Position in der Konkurrenz zu stärken – und nicht umgekehrt. Auch unter Vielen empfinden wir uns als Monaden, als isolierte Individuen, die einander nicht trauen können.

In dem Maße, wie wir den Spielregeln folgen, steigt die Entfremdung. Nicht das Eigene machen, sondern das, was der Sachzwang gebietet. Sich verkaufen, andere kaufen. Das war nicht immer so. Wir alle in Ost wie West kennen noch die Zeiten, als die Räume, die noch nicht von der Verwertungslogik durchdrungen waren, größer waren – im Osten mehr als im Westen. Ossis rieben sich nach der Wende verwundert die Augen, dass ihre sozialen Zusammenhänge rasant zerfielen. Wessis waren damit schon vertrauter. TINA.

Eine andere Praxis setzt voraus, die eigene Eingebundenheit zu erkennen. Das Falsche ist nicht das Andere, ich bin es auch, es geht durch mich hindurch. Jede Handlung reproduziert das Ganze. Und hier beginnt die Alternative: Das Spielfeld verlassen, die Spielregeln außer Kraft setzen, nicht mehr mitspielen – wo immer es geht. Es geht nicht immer, aber sehr oft.

Geht es nicht, dann ist das Falsche bei vollem Bewusstsein zu tun und nicht als das Richtige zu verbrämen. Denn es sind immer zwei Schritte: wahrnehmen und handeln. Geht das Zweite nicht, geht immer das Erste. Keine Selbstzensur, das Wahrnehmen, Empfinden und Erkennen nicht umdefinieren, sondern mit Bewusstsein klarmachen: „Ich müsste widersprechen, aber ich halte die Klappe, weil ich sonst rausfliege. Aber: Es ist falsch.“ Das trennt Welten von einer Haltung, die das eigene Falsche zum Richtigen umdefiniert: „Widerspruch ist nicht nötig, denn ich bin ja nicht beteiligt.“ Oder: „Der Andere ist Schuld, ich habe Recht.“

Es geht um nicht weniger als um die individuelle Wieder-Aneignung von „einfach nur Mensch sein“. Auch wenn wir objektiv konkurrierende Warenmonaden sind, müssen wir uns nicht in jeder Situation so verhalten. Und müssen unser Verhalten schon gar nicht als das einzig Richtige rechtfertigen. Wir können einfach auch Mensch sein. Wir können Aufhören mit der gegenseitigen Beschädigung – die Verhältnisse sind unerträglich genug. Den inneren Kampfhund abschaffen, den Beißreflex zurücknehmen.

ich geb´ nicht auf,

ich geb´ nur nach. ich werf´ die flinte in´s korn,

und merk mir, wo ich sie

hingeschmissen hab´,

neben meine abgeriss´nen Ohr´n

Die Zeit der positiven Verteilungskämpfe ist vorbei, die Rückzugsgefechte werden noch andauern. Heute ist die Reform Konterreform. Auch die Zeit der positiven Gleichstellungskämpfe geht zu Ende, auch hier schaltet der Adressat, der Staat, um auf Separation, Repression, Befriedung. Der Staat ist kein Adressat mehr, Politik verliert ihre Gestaltungsmöglichkeiten.

Was bleibt, ist die Selbstermächtigung jenseits von Staat und Markt, ist die Aneignung von Gütern, Dienstleistungen, Wissen und Räumen für das eigene Leben. Aneignung von unten statt Enteignung von oben. Selbstentfaltung statt Selbstverwertung. Freie Kooperation statt Vernichtungs-Konkurrenz.

Aneignung kann zweierlei bedeuten. Zunächst einfach „Wegnahme“: angefangen vom Mundraub, über Unbezahlt-Zugang-verschaffen und die Raubkopie bis zum Haus-besetzen. Die Grenzen von der Subversion zum bloß individuellen Unter-den-Nagel-reissen sind fließend. Diese Form der Aneignung lebt vom Funktionieren der Warengesellschaft, sie schafft nichts Neues. Sie ist eine einfache Negation des Bestehenden.

Neues zu schöpfen, darum geht es bei der doppelten Negation, der Aufhebung von alltäglichen Formen der Warengesellschaft. Die Reichweite solcher Aufhebung ist unterschiedlich. So verzichten Tauschringe auf die Geldform, tauschen jedoch einfache Arbeitszeit-Äquivalente ohne Ansehen der Qualifikation – geringe Reichweite. Umsonstläden hingegen brechen mit dem Tausch als Vermittlungsform von Herstellen und Verbrauchen – größere Reichweite.

Freie Software als drittes Beispiel schöpft in neuer Weise Neues und verteilt die Güter auf neue Art. Das Alltagsmittel Computer wird vom Konsumgut zum Produktionsmittel. In kollektiver Selbstorganisation werden nützliche Produkte geschaffen – für mich und gleichzeitig für alle. Selbstentfaltung, Vergegenständlichung der individuellen produktiven Kraft, genau das zu tun, was mir entspricht, ist der Antrieb. Da gibt es kein Drittes, keinen Markt, keinen Tausch, kein Geld im Herstellungsprozess, der mit Verteilung und Nutzung zusammenfällt. Hier kommt eine neue Qualität zur Geltung: Ich kann mich nur entfalten, wenn auch die Anderen sich entfalten und umgekehrt. Die Anderen sind meine Entfaltungsbedingung anstatt auszustechende Konkurrenten.

Natürlich gibt es weitere Voraussetzungen, die in „alter Form“ organisiert sein wollen: das Geld zum Leben, für den Computer, den Alltag. Und natürlich gibt es Versuche, beides miteinander zu verbinden. Auch hier gilt: Sich nüchtern klar machen, was geht und was nicht. Viele entscheiden sich bewusst, die Entwicklung Freier Software im Alltag klar zu trennen von der notwendigen Geldbeschaffung als Lohnarbeiter oder Firmenbetreiber. Sie haben erkannt oder intuitiv erspürt, dass Selbstentfaltung und Selbstverwertung nicht zusammengehen. Andere gehen mit dem Balanceakt anders um. Moralische Vorschriften, bei Linken sonst so beliebt, sind hier fehl am Platze.

Eine neue Qualität von individueller und allgemeiner Aneignung ist erreicht, wenn es uns gelingt, unser Leben jenseits von Geld und Markt täglich herzustellen. Wenn es uns gelingt, die vielen Inseln, die es bereits gibt, zu vernetzen. Wenn das Produkt der einen Insel zum Material der nächsten wird. Wenn es gelingt, uns individuell und kollektiv die dafür notwendigen Fähigkeiten anzueignen – vom praktischen Tun, über das Schaffen verlässlicher Infrastrukturen zum Organisieren unserer Kommunikation.

so wird es tag und nicht anders,

so wird es ein leben,

wenn wir nicht

wie tote fliegen kleben

an dem süssen leim,

zu dem man schicksal sagt

Ich plädiere für eine wahrnehmende Distanz zum eigenen Tun, für einen Überblick über Handlungsmöglichkeiten. Für das alltägliche Handeln ist es ein Unterschied, ob ich mich von der Entfremdungslogik aufsaugen lasse, sie verinnerliche und wieder hinaustrage und Andere damit unter den gleichen Druck setze, unter dem ich stehe. Oder ob ich distanziert und ohne moralischen Zeigefinger auf mein eigenes Tun schaue, um es genau nach solchen quasi-automatischen Wiedergaben fremder Sachzwänge abzusuchen – auf dass ich es beim nächsten Mal vielleicht lassen kann oder wenigstens nicht mehr als „richtig“ oder „gerecht“ rechtfertigen muss, vor mir und anderen.

Trete ich erst einmal zurück, erwerbe ich mehr Überblick, erkenne ich Verwertungslogiken als Sachzwänge, so entdecke ich zunehmend Entfaltungsmöglichkeiten als Handlungsoptionen. Das sind die Ansätze, die mit Anderen zur Geltung gebracht werden wollen. Das ist nicht einfach, schwerer sicher als auf beliebige Schuldige zu verweisen oder mich fordernd an Staat und Politik zu wenden. Diese Haltung hat jedoch den ungeheuren Vorteil, dass sie nicht auf Opferbereitschaft setzt. Jede Opferbereitschaft ist irgendwann erschöpft oder wird verwandelt in einen Durchsetzungsvorteil im Rangeln um die Macht. Diese Haltung sucht nach Widersprüchen in einer zerfallenden Gesellschaft, die täglich bedient werden will und gleichzeitig nach Neuem schreit. Sie entwickelt aus der Ablehnung der entfremdenden Formen unseres Alltags neue Praxisformen, Keimformen im Alten, die das Alte aufnehmen, ohne in ihm aufzugehen, weil sie nach einer anderen Logik funktionieren: der Logik Mensch. Und die kennt eigentlich jede und jeder.

Stefan Meretz ist Informatiker und arbeitet für die Gewerkschaft ver.di

(*) Alle Zitate sind entnommen aus Liedtexten von Gerhard „Gundi“ Gundermann

aus: „Freitag“ 18.06.2004

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