Arbeit macht nicht frei!

von Erich Ribolits

Vortrag anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Arbeit auf Teufel komm raus! “ im Lichthof des Stuttgarter Gewerkschaftshauses am 2. Oktober 2003

Für meine Gedanken zum Thema „Arbeit“, die ich vor Ihnen entfalten möchte, habe ich den Titel „Arbeit macht nicht frei! “ gewählt, und es ist wohl unschwer zu erkennen, wohin die Provokation zielt: Ich will Sie an die Aufschrift „Arbeit macht frei“ erinnern, die über den Toren der faschistischen Konzentrationslager angebracht war.

Allerdings geht es mir in meinem Vortrag nicht bloß darum, den perfiden Zynismus aufzuzeigen, der sich in dieser Aufschrift manifestiert hat, sondern ich möchte die Aussage, dass Arbeit frei macht, grundsätzlich hinterfragen. Ich möchte aufzeigen, dass diese Aufschrift über den KZ-Toren nur den bisher schrecklichsten Höhepunkt in einer Überhöhung der Arbeit zu jenem Medium signalisiert hat, das den Menschen angeblich erst zum Menschen gemacht hat, das – wie es Friedrich Engels einmal ausgedrückt hat – „den Affen zum Menschen“ hat werden lassen.

Wenn ich heute zu Geschichte und Auswirkungen des Arbeitsethos referiere, sollte allerdings auch niemals vergessen werden, dass der neuzeitliche Arbeitswahn auch den ideologischen Hintergrund für den bisher dunkelsten Abschnitt mitteleuropäischer Geschichte dargestellt hat. Es war nämlich keineswegs ein Zufall, dass der Arbeit in der plakativen Losung an den Toren der Konzentrationslager Auschwitz, Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen und Ravensbrück befreiende Wirkung zugeschrieben wurde. Die Verknüpfung der bisher systematischsten Form der massenhaften Tötung von Menschen mit dem Slogan „Arbeit macht frei“ brachte bloß den zutiefst menschenverachtenden Hintergrund der bürgerlich-christlichen Arbeitsideologie zur Kenntlichkeit. Denn wenn davon ausgegangen wird, dass der Mensch ein von vornherein schuldbelastetes Wesen sei, das nur durch einen Unterwerfungsakt von seiner Schuld erlöst – also befreit – werden kann, ist es in der Tat nur mehr ein kleiner Schritt, die mit Arbeit und Arbeitsfähigkeit legitimierte Tötung von Menschen als Befreiung zu interpretieren.

Meine Behauptung, die ich versuchen werde zu belegen, lautet: Die menschliche Arbeit hat in den industriewirtschaftlichen Gesellschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert kultische Bedeutung erlangt. Sie wurde zur zentralen sinnstiftenden Instanz und nimmt heute – wie es durch einen Buchtitel pointiert ausgedrückt wird – die Stellung einer Religion ein[1]. Arbeit steht im Zentrum des gesellschaftlichen Norm- und Wertegefüges, und sie kann ohne Übertreibung als der Kristallisationspunkt allen gesellschaftlichen Geschehens bezeichnet werden. Über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg wird sie als die grundlegende Bestimmungsgröße des Menschen – als das, worüber sich menschliches Dasein definiert und legitimiert – gesehen.

Meiner Überzeugung nach ist es nun genau diese Überhöhung der Arbeit, die es den Menschen so schwer macht, im gegenwärtigen Schrumpfen des Lohnarbeitspotentials nicht eine Bedrohung, sondern die prinzipielle Chance für ein freieres Leben zu erkennen. Das krampfhafte Festhalten am Arbeitsfetisch verhindert, dass die Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die sich um Arbeitsplätze immer heftiger konkurrieren müssen, und in solche, deren Profite genau dadurch anwachsen, nicht als politischer Skandal wahrgenommen und entsprechend bekämpft werden kann. Hier ist meiner Meinung nach der Grund dafür zu suchen, warum heute zwar von allen Seiten „neue Arbeitsplätze“ gefordert werden, aber kaum je „ein Leben in Würde“ auf der Grundlage einer ausreichenden materiellen Versorgung aller Menschen proklamiert wird.

Nahezu alle Industriestaaten der Welt sind derzeit mit anwachsenden Arbeitslosenzahlen konfrontiert, und der Ruf nach Arbeit tönt dementsprechend laut aus allen Ecken dieser Welt. Kaum eine politische Gruppierung, die heute nicht ein Rezept proklamiert, mit dem es gelingen soll „neue Arbeit zu schaffen“. Und manchmal werden jene, denen der Arbeitsplatz schon genommen worden ist, sogar recht handfest in ihren Forderungen. Sie stürmen Konzernzentralen, blockieren Autobahnen und werfen mit Steinen nach Polizisten. Doch was so radikal eingeklagt wird, ist – wenn man es genau betrachtet – mehr als kläglich: Keineswegs wird selbstbewusst der gerechte Anteil am permanent steigenden gesellschaftlichen Reichtum eingefordert, es wird bloß um neue Arbeitsplätze gebettelt. „Beutet uns aus, erniedrigt uns, zerstört unsere Gesundheit, macht mit uns, was ihr wollt, aber gebt uns um Himmels willen Arbeit“. So lautet der hilflose Appell von Millionen Menschen, denen mit dem Verlust ihrer Arbeit nicht bloß die Teilhabe an den materiellen Möglichkeiten dieser Gesellschaft, sondern auch die Möglichkeit jedweder Achtung genommen wurde.

Denn Arbeit – in ihrem an ökonomische Verwertbarkeit geknüpften, neuzeitlichen Verständnis – wird in den industrialisierten Gesellschaften längst nicht mehr bloß im Sinne einer materiellen Existenzsicherung wahrgenommen, sie ist – wie ich im Folgenden darstellen werde – zur ideellen Bezugsgröße des Menschen insgesamt avanciert.

Recht pointiert wurde das schon vor über 100 Jahren, in einer kleinen, unscheinbaren Schrift ausgedrückt, die Paul Lafargue – der ungeliebte Schwiegersohn von Karl Marx – 1883 veröffentlicht hatte, deren brisanter Inhalt allerdings bis heute nur erstaunlich geringe Beachtung gefunden hat. Das Buch mit dem Titel „Das Recht auf Faulheit“[2], das vom Autor ausdrücklich als eine „Widerlegung des Rechtes auf Arbeit von 1848“ bezeichnet wird, beginnt mit den Sätzen:

„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heilig gesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. “

Spöttisch polemisiert Lafargue in seinem Text gegen die Arbeitsmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Bedauernd stellt er aber auch fest, dass sich diese zwischenzeitlich auch in den Köpfen der Arbeiterschaft eingenistet hat und dafür sorgt, dass die Arbeit von einer bitteren Notwendigkeit zunehmend zu einer Tugend uminterpretiert wurde. Lafargue kann in der Arbeit – noch dazu in der fremdbestimmten Lohnarbeit – nichts Positives, nichts Heroisches und schon gar nichts Sinnstiftend-Würdiges sehen. Sie ist für ihn bloße Notwendigkeit zur Reproduktion der Gattung, dementsprechend gehen ihr ja die Reichen – die es sich leisten können – aus dem Weg und lassen andere für sich arbeiten!

Doch eine solche kritische Sichtweise der Arbeit ist derzeit weitgehend unbekannt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass – auch wenn ich im Folgenden im Zusammenhang mit der „Mythologisierung“ der Arbeit sehr stark das politisch-ökonomische System „Kapitalismus“ anspreche – auch in den ehemaligen, sogenannten „real-sozialistischen“ Gesellschaften die Arbeit eine Idealisierung weit über jede bedürfnisorientierte Notwendigkeit hinaus genossen hat. Die Heroisierung von Alexej Stachanow, jenes Arbeiters, der angeblich eine Rekordleistung im Kohlenbergbau erbracht hat, gibt dafür ein beredtes Beispiel. Es gehört wohl zu den großen Erstaunlichkeiten unseres Jahrhunderts, dass das permanente Hervorkehren der Unterschiede zwischen den westlichen und den seinerzeitigen östlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen die tief greifende ideologische Gemeinsamkeit, die in der Idealisierung der Arbeit liegt, völlig verdeckt hat. Der christliche Beleg für das kapitalistische Arbeitsethos – die strenge Mahnung des Apostels Paulus an die Thessalonicher, dass »wer nicht arbeiten will, auch nicht essen« soll – wurde übrigens fast wörtlich in die Sowjetverfassung von 1937 aufgenommen und gilt deshalb vielfach – wohl in einer unbewusst-richtigen Einschätzung der Situation – sogar als ein Ausspruch Stalins.

Diese Überhöhung der Arbeit zum zentralen ideellen Bezugspunkt der menschlichen Existenz hat in Verbindung mit der Tatsache, dass für die überwältigende Majorität der Gesellschaftsmitglieder entlohnte Arbeit die unabdingbare materielle Grundlage ihrer Existenz darstellt, allerdings dramatische Folgen. Das allgemeine Denken erweist sich angesichts des derzeitigen Rückgangs an Lohnarbeitsplätzen schlichtweg als paralysiert. Trotz einer kaum mehr übersehbaren Krise der Arbeitsgesellschaft, wird heute faktisch überhaupt nicht über gesellschaftspolitische Lösungen nachgedacht, die jenseits der Paradigmen dieser Arbeitsgesellschaft liegen. Denn jene politisch-ökonomische Formation, die auf dem Arbeitsethos von uns allen aufbaut, steckt gegenwärtig in einer unübersehbaren Krise. Als Ergebnis wirtschaftlicher Prämissen, die darauf abzielen, menschliche Arbeitskraft immer mehr durch technische Aggregate zu ersetzen, sowie dadurch, dass die mit der Arbeitsgesellschaft verbundene, permanente Ausweitung der Produktion immer unübersehbar an ihre ökologischen Grenzen stößt, geht ihr heute zunehmend ihr bestimmendes Gut, die „bezahlte Arbeit“ aus. Für eine rasch anwachsende Zahl von Menschen kann Arbeit in ihrem an ökonomische Verwertbarkeit geknüpften Verständnis nicht mehr das organisierende Zentrum ihrer Existenz sein.

Etwa vier Jahrzehnte lang – bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts – war die stete Begleiterin der kapitalistischen Wirtschaftsordnung – die Arbeitslosigkeit – kaum mehr ins Bewusstsein der Bewohner der industrialisierten Welt getreten. Möglich war dies zum einen durch ihren „Export“ in die sogenannte Dritte Welt und zum anderen durch ein massives Ankurbeln der Warenproduktion und des Warenumlaufs auf der Basis eines hemmungslosen Raubbaus an den Energieressourcen der Erde, verknüpft mit einer exponentiell anwachsenden Zerstörung der Ökosphäre. Spätestens seit Beginn der 80er Jahre stößt diese „Methode“ der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit jedoch immer offensichtlicher an ihre Grenzen. Das in den kapitalistischen Kernländern einige Jahrzehnte relativ gut funktionierende Zusammenspiel von Produktivität, Arbeitskräftebedarf und Konsum kippt seitdem immer unübersehbarer aus dem Gleichgewicht.

Die Folgen dieser Entwicklung sind allgemein bekannt: Das Phänomen (Massen-)Arbeitslosigkeit sucht in anwachsendem Maß auch wieder die entwickelten Industriestaaten heim; die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse – niedrig bezahlte Arbeiten, sozialrechtlich wenig abgesicherte Arbeiten, „selbständige Arbeitnehmer“, Teilzeitarbeit, Flucht aus dem Arbeitsrecht u. dgl. – steigt massiv an; die Spaltung der Gesellschaft in solche, die keine Arbeit haben, und in andere, deren reale Arbeitszeit ansteigt, schreitet rapid voran.

Wieso aber ist es möglich, dass in einer solchen Situation nicht intensiv die Frage nach einer gerechteren Aufteilung der vorhandenen Lohnarbeit diskutiert wird? Wieso stellt sich heute nicht massiv die Frage nach der Gerechtigkeit eines Systems, in dem die Kapitalgewinne ansteigen, die problemlose materielle Absicherung der Arbeitslosen jedoch zunehmend in Diskussion gerät? Oder, in Form eines etwas anderen Zugangs zum Problem: Wieso blieb hierzulande – trotz eines in der Zwischenzeit ungeheuer gestiegenen gesellschaftlichen Reichtums – bestenfalls die aus den Frühzeiten der Industrialisierung stammende (tatsächlich allerdings nie eingelöste) Forderung nach einem „Menschenrecht auf Arbeit“ die Maximalvorstellung der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber dem Einzelnen? Wieso wurde diese Zielvorstellung niemals abgelöst durch eine Forderung nach „Wohlversorgtheit für Alle“, nach einem – wie es Paul Lafargue polemisch formuliert hatte – „Recht auf Faulheit“?

Die Antwort ist wohl darin zu suchen, dass wir alle noch immer daran glauben, dass Arbeit das passende Zauberwort für die Lösung all unserer Probleme sei. Wir alle sind sozialisiert in einer unvorstellbaren Idealisierung der Arbeit. Unsere durch Arbeit artikulierte Tüchtigkeit sowie die der Generationen vor uns dient uns als Abgrenzung gegenüber Kulturen, in denen Arbeit (noch) nicht jene herausragende Bedeutung genießt wie bei uns.

Arbeit bestimmt nicht nur über Einkommen und Lebensstandard, sondern auch über Selbstwertgefühl und gesellschaftlichen Wert von Menschen. Die Bereitschaft zur Arbeitsverausgabung gilt als ein ganz wesentliches Kennzeichen eines „achtenswerten“ Menschen. Und für die Majorität der Bewohner der Industriegesellschaften ist Arbeit auch jenes selbstverständliche „Geländer“, an dem entlang ihr Leben organisiert ist.

Jene das Leben in unserer Gesellschaft so grundsätzlich bestimmende Arbeit hat nur einen marginalen Zusammenhang mit der „Arbeit als anthropologische Kategorie“; sie tritt historisch auch erst spät, im Zusammenhang mit dem Manufakturkapitalismus, als abstrakte betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Arbeitskraft in die Welt. Die bloß für den Lebensunterhalt notwendige Arbeit war dagegen noch niemals in der Geschichte gesellschaftlicher Integrationsfaktor. Solche „Subsistenzarbeit“ versprach in keiner der vormodernen Gesellschaften Prestige und Anerkennung. [3] Im Gegenteil, diejenigen, die sie ausführten, galten – da sie der „Notdurft des Lebens“ unterworfen waren – immer als unterste gesellschaftliche Kategorie.

So meinte man im Altertum, dass man Sklaven nötig habe, weil es für die Befriedigung der Lebenserfordernisse notwendige Beschäftigungen gibt, die ihrer Natur nach „sklavisch“ sind, nämlich dem Leben und seiner Notdurft versklavt. „Arbeiten hieß Sklave der Notwendigkeit sein, und dies Versklavtsein lag im Wesen des menschlichen Lebens. Da die Menschen der Notdurft des Lebens unterworfen sind, können sie nur frei werden, indem sie andere unterwerfen [.. ]. Im Altertum war [demgemäß] die Einrichtung der Sklaverei nicht wie später ein Mittel, sich billige Arbeit zu verschaffen oder Menschen zwecks Profit »auszubeuten«, sondern der bewusste Versuch, das Arbeiten von den Bedingungen auszuschließen, unter denen Menschen das Leben gegeben ist. Was dem menschlichen Leben mit anderen Formen tierischen Lebens gemeinsam ist, galt als nicht-menschlich. „[4]

Bis ins achtzehnte Jahrhundert galt Arbeit als „des freien Mannes unwürdige Mühsal“[5] und bezeichnete fast ausschließlich die Beschäftigung der Knechte und Taglöhner, „die entweder Konsumgüter herstellten oder aber lebensnotwendige Dienste verrichteten, die tagtäglich erneuert werden müssen und kein dauerhaftes Resultat hinterlassen. Die Handwerker hingegen, die dauerhafte und akkumulierbare Gegenstände fabrizierten – Werkstücke, die von ihren Käufern meistens an die eigene Nachkommenschaft vererbt wurden -, »arbeiteten« nicht: sie »werkten«, und bei diesem »Werk« konnten sie die »Arbeit« von Handlangern für die groben und unqualifizierten Aufgaben benutzen. Nur die Taglöhner und Handlanger wurden für ihre »Arbeit« bezahlt. Die Handwerker ließen ihr »Werk« nach einem festen Satz bezahlen, der von ihren berufsständischen Organisationen festgelegt wurde, den Zünften und Gilden. „[6] Diese Unterscheidung zwischen zwei mit unterschiedlichem gesellschaftlichem Prestige belegten Formen zielgerichtet-produzierender Tätigkeit spiegelt sich auch in beinahe allen europäischen Kultursprachen durch jeweils semantisch voneinander abgesetzte Begriffe wider. Z. B. poneîn und ergázesthai im Griechischen, laborare und facere im Lateinischen, travailler und ouvrer im Französischen, schließlich labour und work im Englischen. [7]

Die heutige Situation, in der alle – Priester, Wissenschafter, Studenten, Politiker – stolz das Etikett des Arbeitenden für sich reklamieren, stellt den Endpunkt einer Entwicklung dar, die in der frühen Neuzeit ihren Anfang genommen, mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts ihre grundlegende gesellschaftliche Legitimation erhalten hatte und schließlich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert unter tatkräftiger Unterstützung der Arbeiterbewegung endgültig zum Durchbruch gelangt war: Der Sieg des bürgerlichen Leistungsstrebens gegenüber der feudalen, parasitären Faulheit.

Die Wurzeln der heutigen Wertschätzung der Arbeit reichen bis in die Renaissance zurück. Damals begann in den entwickelten Kulturen Europas ein Prozess, der sich als Emanzipation des Menschen von der Vorstellung eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an Natur und Vorsehung bezeichnen lässt. Es kam zu einer Abkehr vom bis dahin dominierenden augustinischen Menschenbild, wo wahre Tugend jenseits dessen angesiedelt war, was der Mensch aufgrund eigener Kraft erreichen kann. Tugendhaftes Verhalten und die Befreiung von der Erbsünde erschien demgemäß nicht als Effekt eigenen Bemühens, sondern nur als Ausfluss göttlicher Gnade denkbar. Im Rückgriff auf antike Vorstellungen begann sich zunehmend ein „Vertrauen in die Freiheit und Stärke der menschlichen Natur“ durchzusetzen. Das Besondere am Menschen wurde nun immer weniger in seiner unsterblichen Seele gesehen, sondern „in seiner Fähigkeit, sein Schicksal durch Intelligenz und Willenskraft zu bestimmen“, also darin, dass der Mensch in der Lage sei, sich selbst zu befreien. Die damit implizierte Vorstellung von der Machbarkeit menschlicher Geschichte ist jener Hintergrund, auf dem eine zunehmende Verteufelung der Faulheit und die Würdigung der Arbeit Platz greifen konnte. Aktivität im Sinne des Herstellens gewünschter Wirklichkeit begann sich als anstrebenswerte Seinsform zu etablieren. Zunehmend setzte sich das Bewusstsein der Notwendigkeit durch, die – vordem als endgültig angesehene – „Schöpfung“ nach menschlichem Willen umzugestalten und zu verbessern. An die Stelle „der „Natürlichkeit der Wahrheit“ trat die „Wahrheit als Ergebnis von Arbeit“. [8]

Die radikale Neuinterpretation der Bedeutung der Arbeit im Rahmen der menschlichen Existenz schuf auch die Voraussetzung dafür, dass Arbeit in den Rang der zentralen Bezugsgröße für Erziehung aufrücken konnte. Wenn Arbeit nicht den Überlebensnotwendigkeiten geschuldetes Übel, sondern Bestimmungsmerkmal des Menschen ist, dann ist die logische Konsequenz, dass Arbeit und ihre Anforderungen zum Bezugspunkt der Zielbestimmung von Erziehung bzw. Bildung werden. Dementsprechend war die Geschichte des neuzeitlich-pädagogischen Denkens auch von Beginn an untrennbar verbunden mit der sich seit Ende des Mittelalters herausbildenden Veränderung des Stellenwerts der Arbeit im Bewusstsein der Menschen. Nachdem die Arbeit ihren Makel als „ein von Gott auferlegtes Übel“ abgeschüttelt hatte und zur Lebensbestimmung des Menschen avanciert war – zum bestmöglichen Weg, um zu sich selbst zu finden -, galt es, zur Arbeitsverausgabung zu erziehen. Arbeit wurde zur primären Bezugsgröße für Erziehung und die Vorbereitung der Heranwachsenden auf die Übernahme von Positionen in der Berufs- und Arbeitswelt durch Erziehung und (Aus-)Bildung zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft.

Wie angedeutet, verlief der Aufstieg der Arbeit zur zentralen gesellschaftlichen Orientierungsgröße Hand in Hand mit der Installierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der endgültige Schritt zur Installierung der „Ideologie der Arbeit“ wurde allerdings durch die Arbeiterbewegung vollzogen. Sie hat – in einer beispiellosen Überhöhung der Ideologie ihrer Unterdrücker – den geknechteten und unterdrückten Arbeiter zum Heroen der Geschichte und die entfremdete Arbeit zum Hohelied des Industriezeitalters umgedeutet. Die geradezu kultische Überhöhung der Arbeit zeigt sich wohl am deutlichsten an den Plakaten und den Motivbildern in den Schriften der damaligen Gewerkschaftsbewegung und der sozialdemokratischen Parteien, die eine geradezu frappante Ähnlichkeit mit Heiligenbildern aufweisen. Sie können nur als Kultbilder zur „Verehrung“ der Arbeit interpretiert werden und sollten offensichtlich dazu dienen, tief verwurzelte Erlösungswünsche der Menschen auf die Arbeit zu projizieren. In einschlägigen Texten wurde die Arbeit auch tatsächlich verschiedentlich zum „Heiland der neuen Zeit“ hochstilisiert und es wurde postuliert, dass sie „vollbringen kann, was kein Erlöser vollbracht hat“[9].

Wieweit die Mystifikation der Arbeit – trotz der Kritik an den Bedingungen der „Klassengesellschaft, in der den Arbeitern das Produkt ihrer Arbeitsverausgabung durch die Besitzer der Produktionsmittel vorenthalten wird“ – in den Schriften der damaligen Arbeiterbewegung ging, will ich an einem kurzen Textbeispiel zeigen: In einem Buch, das 1905 von einer großen und bedeutenden sozialdemokratischen Teilorganisationen Deutschlands, herausgegeben worden war, wird ausgeführt: „Die Arbeit adelt den Menschen, wie sie die unversiegbare Quelle des Menschtums, der Humanität im besten und reinsten Sinne des Wortes überhaupt ist. Der Menschheit Würde und der Menschheit Los ist bei ihr, offenbart und gestaltet sich nur durch sie. Schon auf den untersten primitivsten Stufen tritt ihr veredelnder Einfluss hervor, sie entwickelt alle natürlichen Anlagen des Menschen, stählt und diszipliniert seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, weist dem Denken bestimmte Richtungen an und weckt und fördert bestimmte Begriffe, die man als »sittliche« und »ethische« bezeichnet und als Norm des menschlichen Handelns erklärt [.. ]. Die Arbeit soll geachtet sein, als Quelle aller Kultur, als die Mutter der Humanität, als die Seele des Staats- und Gesellschaftskörpers, als Inbegriff der natürlichen Bestimmung des Menschen und als schönster Ausdruck seiner Würde. „[10]

Wenn also heute darüber diskutiert wird, wie unter ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten dem Problem der hohen und weiter ansteigenden Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten begegnet werden soll und ob durch Arbeitszeitverkürzung wieder Arbeit für mehr Menschen geschaffen werden kann, dann geht diese Diskussion am Kern des Problems weitgehend vorbei. Der Mensch der spätkapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft arbeitet keineswegs nur deshalb, um ökonomisch zu überleben, er definiert sich über die Arbeit. Sie ist das strukturierende Merkmal seiner Existenz, und sie vermittelt ihm sein Selbstverständnis als Mensch. Ohne gesellschaftlich honorierte Arbeit ist er nicht »bloß« in seinem materiellen Dasein gefährdet, ohne eine derartige Arbeit verliert der heutige Bewohner der industrialisierten Länder faktisch seine gesamte ideelle Existenzbasis. Wodurch unsere Sozietät überhaupt erst zu dem geworden ist, was wir heute mit dem Begriff Arbeitsgesellschaft zusammenfassen, ist die – mit jedem Generationsschritt reibungsloser ablaufende – allgemeine Verinnerlichung eines „aus sich selbst“ begründeten Werts des Arbeitens jenseits „bedürfnisorientierter Notwendigkeiten“. Die gegenwärtige Verringerung des Gesamtausmaßes der zur Verfügung stehenden entlohnten Arbeit ist somit mit dem Verbot einer identitätsstiftenden Kulthandlung vergleichbar und kann von den Gesellschaftsmitgliedern nur im Sinne einer massiven psychischen Destabilisierung wahrgenommen werden!

Somit bleibt – selbst wenn es durch einen sozialen Umbau der Gesellschaft möglich wäre, die materiellen Probleme, die mit der sukzessiven Verringerung der Arbeitsplätze verbunden sind, in den Griff zu bekommen – die Tatsache bestehen, dass wir allesamt „verlernt“ haben, ohne Arbeit und in Muße zu leben. Denn auch das, was wir heute als Frei-Zeit bezeichnen, unterliegt ja in jeder Hinsicht denselben Strukturen wie die Arbeitserbringung im Rahmen der Profitökonomie. Es handelt sich dabei keineswegs um eine unverzweckte Muße-Zeit, die selbstbestimmt, einem „inneren Bedürfnis“ folgend, gelebt wird. Freizeit unterliegt im selben Maß wie die Arbeit den Bedingungen der Entfremdung. In der Arbeitsgesellschaft ist die von entlohnter Arbeitsverausgabung freigehaltene Zeit in hohem Maß gleichzusetzen mit Konsum. Sie stellt damit aber auch bloß die Kehrseite der Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen durch Arbeit dar. Es ist wohl unbestreitbar, dass eine Ausweitung der extensiven Freizeitgewohnheiten von Europäern und Amerikanern auf die restliche Menschheit genauso katastrophale ökologische Auswirkungen hätte wie die Verallgemeinerung dessen, was wir Lebensstandard nennen. Auch im Hinblick auf ihre „ökologische Unverträglichkeit“ können Freizeit und Arbeit als siamesisches Zwillingspaar bezeichnet werden. Die Freizeit ist in jeder Hinsicht bloß die präsentable Kehrseite der Arbeit, sie ist mit ihr untrennbar verbunden und bietet in ihrem heutigen Verständnis sicher keinen Ansatzpunkt, das durch die Strukturen der Arbeitsgesellschaft ansozialisierte Selbstverständnis des Menschen als homo laborans – als Arbeitswesen – zu relativieren.

Die derzeit allseits konstatierte „Krise“ bedeutet also wesentlich mehr als eine ökonomische Umbruchssituation, es handelt sich dabei um eine kaum mehr kaschierbare Krise des gesellschaftlichen Systems selbst. Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, beziehungsweise es ökologische Notwendigkeiten dem Menschen verunmöglichen, „sein Heil“ weiter in der Arbeit zu suchen, wird das – wie die Philosophin Hannah Arendt schon vor etwa 30 Jahren geschrieben hat- genau dadurch zum unlösbaren Problem, weil heutzutage – wie sie es ausdrückt – kaum noch vom Hörensagen jene höheren und sinnvolleren Tätigkeiten bekannt sind, die uns ermöglichen würden, ein Weniger-Werden der notwendigen Lohnarbeit als Befreiung zu erleben. Das verinnerlichte Arbeitsethos kettet die Bewohner der industrialisierten Welt an die mit Ausbeutung, Zerstörung und Ungleichheit verbundene Arbeitsgesellschaft, macht sie damit aber auch zugleich zu „Mittätern“. Arbeitslosigkeit kann in dieser Situation eben nicht mehr in der Dimension eines politischen „Skandals“ wahrgenommen und dementsprechend bekämpft werden, sie stellt eine Selbstwertbedrohung dar. Gekämpft wird dementsprechend um Arbeitsplätze und nicht um eine Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Worum es heute also geht, ist ein Verlassen des Denkkorsetts der Arbeitsgesellschaft. Es ist höchste Zeit für die Einsicht, dass der Mensch sich nicht als arbeitender Konsument vom Tier unterscheidet, sondern als denkendes Wesen. Nicht die Arbeit ist es, die den Menschen aus der restlichen Natur heraushebt, sondern die Tatsache, dass er der Arbeit nicht naturwüchsig unterworfen ist. Das Besondere des Menschen besteht auch nicht den gewaltigen Leistungen, die er arbeitend vollbringt, sondern in seiner prinzipiellen Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, ob er arbeiten will oder nicht. Im Gegensatz zum instinktgesteuerten Tier zwingt ihn keine genetische Programmierung zur Arbeit. Das aber ist wesentlich mehr als die bloße gedankliche Vorwegnahme der Produkte, die am Ende von Arbeitsprozessen entstehen sollen, worauf vulgärmarxistische Interpretationen der in diesem Zusammenhang oft zitierten Textstelle aus dem „Kapital“[11] – in der Karl Marx die Tätigkeit der Biene mit der eines menschlichen Baumeisters vergleicht – ihr Hauptaugenmerk legen. Das über die Bewusstseinsfähigkeit vermittelte Besondere des Baumeisters gegenüber der Biene, besteht nicht bloß darin, dass dieser – im Gegensatz zur instinktgesteuerten Biene – die Zelle schon in seinem Kopf „gebaut“ hat, bevor er sie tatsächlich realisiert, sondern in der Tatsache, dass er frei ist zu entscheiden, ob er das „prinzipiell Machbare“ auch tatsächlich in die Welt setzen will.

Nicht die „Arbeit an sich“ ist es, die den Affen zum Menschen hat werden lassen, sondern die Tatsache, dass es dem Menschen nicht nur möglich ist, das Produkt seiner Arbeit gedanklich vorzuentwerfen, sondern, dass er die Folgen seines Arbeitens insgesamt abschätzen kann und er dergestalt „Herr“ über sein Arbeitsvermögen ist. Arbeit ist einzig und allein dadurch Ausdruck der „Selbsterschaffung des Menschen“, weil der Mensch die Arbeit auch ungetan lassen kann. Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung ist einzig selbstbestimmtes Sein und nicht Arbeit, die dem Menschen als auferlegtes, fremdbestimmtes Tun entgegentritt. In diesem Sinn macht Arbeit auch immer nur jene frei, die durch die Arbeitsverausgabung der Massen den Spielraum für selbstbestimmtes Handeln gewinnen, aber niemals die, die arbeiten müssen um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist der Grund, warum es gilt, die derzeitige Idealisierung der Arbeit zu hinterfragen. Politisches Ziel kann es nicht sein um neue Lohnarbeitsplätze zu kämpfen, sondern um Bedingungen des Lebens, die freies, nicht entfremdetes Tun ermöglichen.

Dazu müssen allerdings jahrhundertlang eingeübte soziale und emotionale Verhaltensweisen hinterfragt und tief verschüttete Sehnsüchte wieder entdeckt werden. Das Nichtstun, die Faulheit und die Kontemplation müssen wieder Platz in unserem Leben erhalten. Konkret geht es darum, unsere nicht verwertbaren Bedürfnisse wieder zutage zu befördern, jene menschlichen Sehnsüchte und Wünsche, die sich nicht in Profit umsetzen lassen und die demgemäß im Kapitalismus einer permanenten Erosion ausgesetzt sind. Die an der Überhöhung der Arbeit gekoppelten Verhaltensweisen und Denkmuster können wohl nur überwunden werden, wenn uns bewusst wird, dass wir – inmitten des gigantischen Angebots an Gütern und Dienstleistungen – Mangel leiden. Und zwar leiden wir Mangel an all jenen Aspekten des Lebens, die sich der Verwertung, d. h. der Verwandlung in ein Profit bringendes Warenangebot entziehen.

Denn genauso wie es im Kapitalismus nicht darum geht Arbeitsplätze zu schaffen, ist es auch nicht die Funktion der kapitalistischen Produktion „Lebensbedürfnisse“ möglichst effektiv zu befriedigen. Es geht vielmehr darum, die Menschen von ihren Bedürfnissen zu entfremden, ihnen das Bewusstsein über Wege und Formen der Bedürfnisbefriedigung zu rauben und ihnen statt dessen den Fetisch Ware anzubieten, der zwar verspricht, psychisch zu nähren und Befriedigung zu verschaffen, die emotional Hungrigen jedoch immer unbefriedigt zurücklässt. Nur so können die dergestalt permanent Unbefriedigten schließlich zu „dankbaren“ Objekten der ungehemmten Ausweitung der Produktion werden. Der Kapitalismus lebt vom permanenten Versprechen der Bedürfnisbefriedigung, jedoch nicht von der tatsächlichen Befriedigung der Bedürfnisse. Die Sehnsucht nach Lebendigkeit, nach Liebe und nach Lust bleibt im System der Warenproduktion notwendigerweise unbefriedigt. Dementsprechend weit entfernt vom „Geschmack des Lebens“ befinden wir uns heute.

Erst wenn wir uns der Verwertung in Arbeit und Konsum zumindest teilweise entziehen, können wir uns den nicht-profitmäßig verwertbaren Wünschen und Bedürfnissen wieder langsam annähern. Unser Ziel muss ein Leben in Muße sein, ein Leben, das uns ermöglicht dem Lebendigen Vorrang gegenüber dem Fetisch Ware einzuräumen und die uns umgebende Welt nicht nur als Ausbeutungsobjekt und die Mitmenschen nicht nur als Konkurrenten und Hindernisse wahrzunehmen. Müßiggang ist nämlich ganz und gar nicht – wie es im bekannten Sprichwort heißt – aller Laster Anfang, sondern – so wie es die Schriftstellerin Christa Wolf formuliert hat – aller Liebe Anfang. Allerdings lässt sich angesichts der heutigen Teilung des Lebens in entfremdete Arbeit und entfremdete Konsumation in der Freizeit, über Müßiggang und seine Notwendigkeit für alle Formen nicht verwertbarer – und damit tendenziell subversiver – Kreativität und Phantasie nur schwer diskutieren. Es scheint, dass die Befreiung aus der „Sklavenmoral der Entfremdung“ einen Umweg nehmen muss: Sie muss ansetzen an der anarchischen Gegenkraft zur allgemein gelobten Arbeitsmoral. Es gilt die intuitive Verweigerungshaltung gegenüber der Totalvernutzung ernst zu nehmen und die mit dem Bannfluch der Arbeitsgesellschaft belegte Faulheit zu rehabilitieren.

Denn das, was hierzulande diskriminierend als Faulheit abqualifiziert wird, kann durchaus als das „Tor zur Muße“ gesehen werden – jener Lebensform, die erst möglich wird jenseits der kapitalistischen Warengesellschaft. Die Faulheit entspringt einem blinden Widerstand gegen die fremdbestimmte Arbeit und die durch die Freizeitindustrie oktroyierte Betriebsamkeit in der sogenannten Freizeit. Sie ist bloßer Reflex um dem Ghetto der Entfremdung zu entfliehen und stellt nur die Umkehrung des Arbeitszwanges dar. Sie ist quasi systemimmanente Flucht. Ihre subversive Kraft erschließt sich erst im Ernstnehmen ihrer Zielsetzung und im Erkennen der ihr immanenten Lebenssehnsucht. Allerdings kann sie zur Initialzündung dafür werden, sich der gesellschaftlich verursachten Unfreiheit bewusst zu werden. Denn Faulheit und Schlendrian sind – das hat schon Max Weber in seiner berühmten Abhandlung zur „Protestantischen Ethik“ bemerkt – die ärgsten Widersacher gegen den „Geist des Kapitalismus“. Nicht zufällig ist die derzeitige Krise der Arbeitsgesellschaft auch ein neuerlich Anlass um alle jene zu desavouieren, die im Verdacht stehen, nicht völlig immun gegen die Verführungen der Faulheit zu sein.

Das Bekenntnis zur Faulheit kann uns die Kraft geben um den ideologischen Charakter der Rede vom „Sinn des Lebens“, der in der Arbeit zu suchen sei, zu erkennen und für eine Gesellschaft einzutreten, die sich an der Muße orientiert. Jenem ursprünglichen Fundamentalbegriff der abendländischen Kultur, der in der programmatischen Mußelosigkeit der totalitären Arbeitswelt gänzlich obsolet geworden ist. Denn nicht die Arbeit, sondern der Müßiggang ist die Quelle aller Kultur, und erst der Mensch, dessen Leben nicht von Arbeit dominiert ist, hat ein Stück vom Paradies zurückgewonnen, in dem es bekannterweise ja nicht erforderlich war, zu arbeiten. Fleiß und Nutzen sind dagegen – so wie es der Philosoph und Dichter Friedrich Schlegel am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hat – die Todesengel mit dem feurigen Schwert, die den Menschen die Rückkehr ins Paradies verweigern.


[1] Hank, Rainer: Arbeit – die Religion des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. (Eichborn) 1995.

[2] Lafargue, Paul: Das Recht auf Faulheit u. a. ausgewählte Texte. Wien (Monte Verita) o. J. , S. 9.

[3] Das gilt genauso heute für jene Reste der Subsistenzarbeit, die weiterhin notwendig sind, da sie (noch) nicht als Nebeneffekte der „Mehrwertproduktion“ auftreten; insbesondere ist dabei zu nennen: Hausarbeit und die Betreuung von Kindern und alten Menschen.

[4] Arendt, Hanna: Vita activa, oder Vom tätigen Leben. , 6. Auflage, München/Zürich (Piper) 1989. , S. 78/79.

[5] Die Übersetzung des althochdeutschen Wortes arabeit[i]. Das Wort Arbeit zeigt eine semantische Verwandtschaft sowohl mit dem lateinischen avrum, das auf avra, den „gepflügten Acker“, verweist, als auch mit dem germanischen arba, was soviel wie „Knecht“ bedeutet. Das französische Pendant zum Arbeitsbegriff, travail, dürfte vom vulgär-lateinischen tripalare („pfählen“ oder „quälen“) abstammen, das russische rabota von rab, was „Sklave“ heißt (vgl. Guggenberger, Berndt: Wenn uns die Arbeit ausgeht. Die aktuelle Diskussion um Arbeitszeitverkürzung, Einkommen und die Grenzen des Sozialstaats. München (Carl Hanser) 1988, S. 32).

[6] Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft – Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Berlin (Rotbuch) 1989, S. 30.

[7] Vgl: Riedel, M. : Arbeit. In: Krings et. al. (Hg. ): Handbuch der philosophischen Grundbegriffe, Bd. 1. München (Ehrenwirth) 1973, S. 126.

[8] Vgl. dazu ausführlich: Ribolits, Erich: Die Arbeit hoch. Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus. 2te Auflage, München/Wien (Profil) 1997.

[9] Dietzgen, J. : Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit (1869) Zit. nach Klopfleisch, R. : Die Pflicht zur Faulheit. Düsseldorf/Wien/New York (Econ) 1991, S. 29.

[10] Frohme. K. : Arbeit und Kultur. Eine Kombination naturwissenschaftlicher, kulturgeschichtlicher, volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Studien. Hamburg 1905, S. 81/82.

[11] Marx, K. : Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Marx/Engels: Gesammelte Werke, Bd. 23. Berlin (Ost) (Dietz) 198817, S. 193.

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